KAPITEL ZWEI-2

2274 Words
Thor musste sich beeilen, mit ihm mitzuhalten, und folgte ihm in den Wald hinein, die Lichtung hinter sich zurücklassend. „Aber warum ich? Woher wusstet Ihr, dass ich hier sein würde? Was wünscht Ihr von mir?“ „So viele Fragen“, sprach Argon. „Du füllst die Luft. Du solltest lieber zuhören.“ Thor folgte ihm, während sie weiter durch den dichten Wald zogen, und tat sein Bestes, still zu bleiben. „Du kommst auf der Suche nach einem verlorenen Schaf hierher“, stellte Argon fest. „Ein edles Vorhaben. Doch du verschwendest deine Zeit. Sie wird nicht überleben.“ Thors Augen öffneten sich weit. „Woher wisst Ihr das?“ „Ich kenne Welten, die du niemals kennen wirst, Junge. Zumindest jetzt noch nicht.“ Thor wunderte sich, während er ihm hinterher wanderte. „Doch du willst nicht zuhören. Das ist deine Natur. Dickköpfig. Wie deine Mutter. Du wirst deinem Schaf nachgehen, fest entschlossen, sie zu retten.“ Thor errötete darüber, wie Argon seine Gedanken las. „Du bist ein temperamentvoller Junge“, fügte er hinzu. „Willensstark. Zu stolz. Positive Züge. Doch eines Tages könnten sie dein Untergang sein.“ Argon stieg langsam eine moosbedeckte Anhöhe hinauf, Thor hinterher. „Du möchtest der Legion des Königs beitreten“, sprach Argon. „Ja!“, antwortete Thor aufgeregt. „Gibt es irgendeinen Weg für mich? Könnt Ihr das ermöglichen?“ Argon lachte, ein tiefer, hohler Laut, der Thor einen Schauer über den Rücken jagte. „Ich kann alles und nichts ermöglichen. Dein Schicksal ist bereits geschrieben. Doch liegt es an dir, es zu wählen.“ Thor verstand nicht. Sie erreichten den Gipfel der Anhöhe, und als sie oben waren, blieb Argon stehen und sah ihn an. Thor stand nur wenige Fuß entfernt, und Argons Energie brannte durch ihn. „Dein Schicksal ist von Bedeutung“, sprach er. „Gib es nicht auf“. Thors Augen weiteten sich. Sein Schicksal? Von Bedeutung? Er fühlte, wie ihn eine Welle an Stolz ergriff. „Ich verstehe nicht. Ihr sprecht in Rätseln. Ich bitte Euch, erzählt mir mehr.“ Plötzlich war Argon verschwunden. Thor konnte es kaum glauben. Er blickte sich in alle Richtungen um, horchte, wunderte sich. Hatte er sich das alles nur eingebildet? War es eine Art Trugbild? Thor drehte sich herum und untersuchte den Wald; von seinem Blickpunkt oben auf der Anhöhe aus konnte er weiter sehen als zuvor. Während er sich umsah, bemerkte er Bewegung in der Ferne. Er hörte ein Geräusch und war sich sicher, dass es sein Schaf war. Er stolperte die moosbewachsene Anhöhe hinunter und eilte in Richtung des Geräuschs, zurück durch den Wald. Während er lief, konnte er seine Begegnung mit Argon nicht abschütteln. Er konnte kaum begreifen, dass sie stattgefunden hatte. Was machte der Druide des Königs ausgerechnet an diesem Ort? Er hatte auf ihn gewartet. Aber warum? Und was hatte er gemeint, sein Schicksal? Je mehr Thor versuchte, es zu entwirren, umso weniger verstand er es. Argon hatte ihn einerseits gewarnt, nicht weiterzugehen, und ihn zugleich verleitet, es doch zu tun. Während er lief, spürte Thor eine wachsende Vorahnung, als ob etwas Bedeutungsschweres bevorstehen würde. Er bog um einen Baum und blieb wie erstarrt stehen, als er den Anblick vor ihm sah. Seine schlimmsten Alpträume wurden in einem einzigen Augenblick bestätigt. Die Haare standen ihm zu Berge und ihm wurde klar, dass es ein schwerer Fehler gewesen war, so tief nach Schattwald vorzudringen. Ihm gegenüber, gerade dreißig Schritte entfernt, stand ein Sybold. Schwerfällig, muskelbepackt, auf allen Vieren beinahe so groß wie ein Pferd, war dies das meistgefürchtete Tier in Schattwald, wenn nicht gar im gesamten Königreich. Thor hatte noch nie einen gesehen, aber die Legenden hatte er gehört. Er ähnelte einem Löwen, war jedoch größer, breiter, sein Fell ein tiefes Scharlachrot und seine Augen leuchtend gelb. Der Legende nach kam seine scharlachrote Farbe vom Blut unschuldiger Kinder. Thor hatte in seinem Leben erst von wenigen Sichtungen dieses Ungeheuers gehört, und selbst die wurden nicht als besonders glaubwürdig angesehen. Das lag wohl daran, dass niemand je eine Begegnung tatsächlich überlebt hatte. Manche betrachteten den Sybold als den Gott der Wälder, und als ein Omen. Wofür er ein Omen sein sollte, davon hatte Thor keine Ahnung. Er machte einen vorsichtigen Schritt zurück. Der Sybold stand da, sein riesiges Maul halb geöffnet; von seinen Fangzähnen tropfte der Speichel, und er starrte Thor mit seinen gelben Augen an. In seinem Maul hing, schreiend und mit baumelndem Kopf, Thors verlorenes Schaf, sein Körper zur Hälfte von den Fangzähnen durchstoßen. Es war so gut wie tot. Der Sybald schien das Töten seiner Beute zu genießen, ließ sich Zeit; es schien, als würde es ihm Spaß machen, es zu quälen. Thor konnte die Schreie nicht ertragen. Das Schaf zappelte hilflos herum, und er fühlte sich verantwortlich. Thors erster Impuls war, sich umzudrehen und davonzulaufen; doch er wusste jetzt schon, dass es aussichtslos war. Dieses Ungeheuer konnte alles einholen. Davonlaufen würde es bloß ermutigen. Und er konnte sein Schaf nicht auf diese Weise sterben lassen. Er stand da, vor Angst halb gelähmt, und wusste, er musste irgendetwas unternehmen. Seine Reflexe setzten ein. Langsam griff er in seinen Beutel, holte einen Stein heraus und legte ihn in die Schleuder. Mit zitternder Hand zog er an, machte einen Schritt nach vorne und schoss. Der Stein segelte durch die Luft und traf sein Ziel. Der Schuss saß perfekt. Er traf das Schaf ins Auge und fuhr ihm direkt durchs Gehirn. Das Schaf erschlaffte. Tot. Thor hatte diesem Tier sein Leiden erspart. Der Sybold blickte erzürnt um sich, wütend, dass Thor sein Spielzeug getötet hatte. Langsam öffnete er seine immensen Kiefer und ließ das Schaf herausfallen. Mit einem dumpfen Schlag landete es am Waldboden. Dann richtete er seine Augen auf Thor. Er knurrte, ein tiefer, bösartiger Laut, der aus seinem Bauch heraus grollte. Als er langsam auf ihn zupirschte, legte Thor mit rasendem Herzen den nächsten Stein in seine Schleuder, holte aus, und bereitete den nächsten Schuss vor. Der Sybold stürmte auf ihn zu, schneller als alles, was Thor in seinem Leben je gesehen hatte. Thor trat vor und schoss den Stein, betete, dass er treffen würde, wohl wissend, dass er keine Zeit für einen weiteren Schuss hätte, bevor das Tier ihn erreichte. Der Stein traf das Ungeheuer genau ins rechte Auge und schlug es aus seinem Kopf. Es war ein grandioser Schuss; ein geringeres Tier hätte er in die Knie gezwungen. Doch dies war kein geringeres Tier. Das Ungeheuer war nicht aufzuhalten. Es kreischte über die Verletzung, wurde aber nicht einmal langsamer. Auch mit nur einem Auge, auch mit einem Stein in seinem Gehirn, stürmte es ungebremst und blindwütig auf Thor zu. Es gab nichts, was Thor tun konnte. Einen Augenblick später hatte ihn das Ungeheuer erreicht. Es holte mit seiner riesigen Klaue aus und zog sie ihm über die Schulter. Thor schrie auf und fiel hin. Es fühlte sich an, als würden drei Messer durch sein Fleisch schneiden. Sofort quoll heißes Blut daraus hervor. Das Ungeheuer drückte ihn mit allen Vieren zu Boden. Sein Gewicht war enorm, als würde ein Elefant auf seiner Brust stehen. Thor konnte spüren, wie sein Brustkorb zerdrückt wurde. Das Ungeheuer warf den Kopf zurück, riss sein Maul weit auf, entblößte dabei seine Fangzähne und senkte sie langsam zu Thors Hals hinunter. Während es näherkam, streckte Thor die Arme hoch und packte es am Hals; es war, als würde er reinsten Muskel packen. Thor konnte seinen Griff kaum halten. Als die Hauer sich immer näher senkten, fingen seine Arme zu zittern an. Er fühlte den heißen Atem im ganzen Gesicht, fühlte, wie Speichel auf seinen Hals tropfte. Ein Grollen ertönte tief aus der Brust des Tieres und brannte sich in Thors Ohren. Er wusste, er würde sterben. Thor schloss die Augen. Bitte, oh Gott. Gib mir Kraft. Hilf mir, diese Kreatur zu bekämpfen. Bitte. Ich flehe dich an. Ich tue alles, was du verlangst. Ich werde hoch in deiner Schuld stehen. Und dann passierte etwas. Thor fühlte eine enorme Hitze in seinem Körper aufsteigen, durch seine Adern schießen, wie ein Kraftfeld, das ihn durchfloss. Er öffnete seine Augen und sah etwas Verblüffendes: aus seinen Handflächen strahlte ein gelbes Licht, und als er sie zurück in den Hals des Ungeheuers drückte, war er unglaublicherweise stark genug, es in Schach zu halten. Thor drückte fester, bis er das Untier tatsächlich von sich drückte. Seine Kraft wuchs immer weiter und er fühlte sich wie eine Kanonenkugel aus Energie. Einen Augenblick später flog das Untier durch die Luft—Thor hatte es gute zehn Fuß weit geworfen. Es landete auf dem Rücken. Thor setzte sich auf; er verstand nicht, was gerade passiert war. Das Ungeheuer kam wieder auf die Beine. Blind vor Wut griff es erneut an—doch diesmal fühlte Thor sich verändert. Die Energie durchfloss ihn; er fühlte sich mächtiger, als er je zuvor gewesen war. Als das Ungeheuer auf ihn springen wollte, ging Thor in die Hocke, packte es am Bauch und warf es mit seinem eigenen Schwung weiter. Das Ungeheuer flog ein Stück durch den Wald, krachte gegen einen Baum und brach am Boden zusammen. Thor blickte sich staunend um. Hatte er gerade einen Sybold geworfen? Das Ungeheuer blinzelte zweimal, dann richtete es seinen Blick auf Thor. Es griff erneut an. Diesmal packte Thor das Ungeheuer im Sprung an der Kehle. Beide gingen zu Boden, das Ungeheuer kam auf Thor zu liegen. Doch Thor rollte weiter, bis er auf dem Tier saß. Er hatte es fest am Hals gepackt, würgte es mit beiden Hände, während das Untier immer wieder versuchte, den Kopf zu heben und ihn mit seinen Fangzähnen zu erwischen. Es verfehlte ihn knapp. Thor, von neuer Kraft erfüllt, grub seine Hände fester in den Sybold-Hals und ließ nicht locker. Er ließ die Energie frei durch sich hindurchfließen. Und schon bald fühlte er sich wundersamerweise stärker als das Ungeheuer. Er war auf dem besten Weg, den Sybold zu erwürgen. Schließlich erschlaffte das Ungeheuer. Erst nach einer weiteren vollen Minute ließ Thor los. Langsam und außer Atem stand er auf, starrte völlig erstaunt hinunter, und hielt sich den verletzten Arm. Er konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Hatte er, Thor, gerade einen Sybold getötet? Er glaubte, dass dies ein Zeichen war—gerade heute, dem Tag aller Tage. Er spürte, dass gerade etwas Bedeutendes geschehen war. Gerade eben hatte er das berüchtigtste und meistgefürchtete Ungeheuer seines Königreichs getötet. Im Alleingang. Ohne Waffen. Es schien unwirklich. Niemand würde es ihm glauben. So stand er erschüttert da und wunderte sich, welche Kraft da über ihn gekommen war, was dies bedeutete, wer er wirklich war. Die einzigen Menschen, die solche Kräfte bekanntlich besaßen, waren Druiden. Doch waren sein Vater und seine Mutter keine Druiden, also konnte er keiner sein. Oder konnte er das? Thor spürte plötzlich eine Anwesenheit hinter ihm, wirbelte herum und fand Argon, der da stand und auf das Tier hinunterblickte. „Wie kommt Ihr hierher?“, fragte Thor verblüfft. Argon ignorierte ihn. „Habt Ihr gesehen, was passiert ist?“, fragte Thor, der es selbst noch nicht ganz glaubte. „Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe.“ „Und doch weißt du es“, antwortete Argon. „Tief drinnen weißt du es. Du bist anders als die anderen.“ „Es war wie...eine Flut an Energie“, sagte Thor. „Wie eine Stärke, von der ich nicht wusste, dass ich sie hatte“. „Das Energie-Feld“, sagte Argon. „Der Tag wird kommen, an dem du es wohl kennen wirst. Vielleicht lernst du gar, es zu kontrollieren.“ Thor hielt sich seine Schulter; der Schmerz war unerträglich. Er sah hinunter und fand seine Hand blutüberströmt. Er fühlte sich schwindlig und machte sich Sorgen, was passieren würde, wenn die Wunde nicht versorgt würde. Argon trat drei Schritte vor, packte Thors freie Hand und drückte sie fest auf die Wunde. Er hielt sie dort fest, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Thor spürte, wie ein Gefühl der Wärme durch seinen Arm floss. In Sekunden trocknete das klebrige Blut auf seiner Hand und er konnte fühlen, wie der Schmerz langsam nachließ. Er sah hinunter und konnte es nicht glauben: er war geheilt. Was übrig blieb, waren drei Narben, wo die Krallen ihn geschnitten hatten—doch sie sahen aus, als wären sie mehrere Tage alt. Sie waren zugewachsen. Da war kein Blut mehr. Thor blickte Argon staunend an. „Wie habt Ihr das gemacht?“, fragte er. Argon lächelte. „Ich, gar nicht. Du hast das gemacht. Ich habe deiner Kraft nur die Richtung gewiesen.“ „Aber ich habe keine Heilkräfte“, antwortete Thor verdutzt. „Nicht?“, erwiderte Argon. „Ich verstehe nicht. Nichts von all dem ergibt irgendeinen Sinn“, sagte Thor mit wachsender Ungeduld. „Ich bitte Euch, erklärt es mir.“ Argon blickte zur Seite. „Manche Dinge musst du mit der Zeit lernen.“ Thor fiel etwas ein. „Heißt das, ich kann mich der Legion des Königs anschließen?“, fragte er aufgeregt. „Wenn ich einen Sybold töten kann, werde ich mich doch bestimmt den anderen Jungen gegenüber behaupten können.“ „Natürlich kannst du das“, antwortete er. „Aber sie haben meine Brüder ausgewählt—mich haben sie nicht ausgewählt.“ „Deine Brüder hätten dieses Ungeheuer nicht töten können.“ Thor starrte zurück und dachte nach. „Aber sie haben mich bereits abgewiesen. Wie kann ich ihnen noch beitreten?“ „Seit wann braucht ein Krieger eine Einladung?“, fragte Argon. Seine Worte hinterließen einen tiefen Eindruck. Thor fühlte, wie sein ganzer Körper warm wurde. „Meint Ihr damit, ich soll einfach auftauchen? Uneingeladen?“ Argon lächelte. „Du erschaffst dein Schicksal. Andere können das nicht.“ Thor blinzelte—und einen Augenblick später war Argon verschwunden. Thor konnte es nicht glauben. Er drehte sich in alle Richtungen und durchsuchte den Wald, doch er fand keine Spur von ihm. „Hier drüben!“, ertönte eine Stimme. Thor fuhr herum und sah einen riesigen Felsbrocken vor sich stehen. Er glaubte, dass die Stimme von oben gekommen war, und kletterte sofort hinauf. Zu seiner Verwunderung fand er oben von Argon keine Spur. Von diesem Aussichtspunkt aus konnte er jedoch über die Wipfel von Schattwald sehen. Er konnte sehen, wo Schattwald endete, sah die zweite Sonne in einem dunklen Grün untergehen und dahinter die Straße, die nach Königshof führte. „Die Straße wartet nur auf dich“, erklang die Stimme. „Wenn du es wagst.“ Thor wirbelte herum, konnte aber nichts sehen. Es war nur eine Stimme, die wie ein Echo widerhallte. Doch er wusste, dass Argon irgendwo da draußen war und ihn aufstachelte. Und er spürte tief in seinem Inneren, dass er recht hatte. Ohne einen weiteren Augenblick zu zögern, kletterte Thor vom Felsen und machte sich auf den Weg durch den Wald und auf die Straße. Seinem Schicksal entgegen.
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