KAPITEL ZWEI-1

2000 Words
KAPITEL ZWEI Thor wanderte stundenlang in den Hügeln herum, brodelnd vor Wut, bis er schließlich einen Hügel fand, auf dem er sich, Hände über den Beinen verschränkt, hinsetzte und auf den Horizont hinaus blickte. Er sah zu, wie die Kutschen verschwanden, während die Staubwolken noch stundenlang in der Luft hängen blieben. Ein weiteres Mal würden sie nicht hierher kommen. Er war also dazu bestimmt, hier in diesem Dorf zu bleiben und noch viele Jahre auf eine neue Chance zu warten—falls sie überhaupt je wiederkommen würden. Falls sein Vater es je erlauben würde. Jetzt war er mit seinem Vater alleine im Haus, und sein Vater würde seinen Unmut mit Gewissheit in vollem Umfang an ihm auslassen. Er würde weiterhin der Lakai seines Vaters bleiben, die Jahre würden vergehen, und er würde genauso enden wie er, hier festsitzen, ein unbedeutendes Leben mit niederer Arbeit verbringen—während seine Brüder Ruhm und Ehre erwarben. Er brannte innerlich vor Empörung über diese gesamte Angelegenheit: das war nicht das Leben, das für ihn bestimmt war. Das wusste er einfach. Thor zermarterte sich das Hirn nach Ideen, was er tun könnte; irgendeinen Weg, die Dinge zu ändern. Aber da war nichts. Dies waren die Karten, die ihm das Leben zugespielt hatte. Nach stundenlangem Dasitzen gab er sich schließlich geschlagen, stand auf und bahnte sich seinen Weg zurück über die vertrauten Hügel, höher und höher hinauf. Unweigerlich zog es ihn zu seiner Schafherde zurück auf die hohe Kuppe. Während er so wanderte, sank die erste Sonne im Himmel tiefer und die zweite erreichte ihren höchsten Punkt, einen grünlichen Schimmer über die Landschaft legend. Thor spazierte ohne Eile dahin. Gedankenverloren zog er seine Steinschleuder von der Hüfte, deren Ledergriff durch jahrelangen Gebrauch gut abgegriffen war. Er langte in den Beutel, den er an der Hüfte trug, und fühlte sich durch seine Sammlung von Steinen, einer glatter als der andere, von den feinsten Bachufern von Hand verlesen. Manchmal schoss er auf Vögel, manchmal auf Nagetiere. Es war eine Angewohnheit, die ihm über die Jahre in Fleisch und Blut übergegangen war. Zu Beginn hatte er noch an allem vorbeigeschossen. Dann traf er erstmals ein bewegtes Ziel; seitdem hatte er nie wieder ein Ziel verfehlt. Das Schießen mit der Steinschleuder war inzwischen zu einem Teil von ihm geworden—und es half ihm, etwas von seiner Wut abzubauen. Seine Brüder konnten vielleicht mit einem Schwerthieb einen Baumstamm durchschlagen—aber sie würden niemals einen Vogel im Flug mit einem Stein erwischen. Gedankenlos legte Thor einen Stein in die Schleuder, zog mit all seiner Kraft und schoss, während er sich in Gedanken ausmalte, er würde ihn auf seinen Vater schleudern. Er traf den Ast eines weit entfernten Baumes und brach ihn sauber ab. Seit er einmal festgestellt hatte, dass seine Schüsse auf sich bewegende Tiere diese töten konnten, zielte er nicht mehr auf Lebewesen, erschrocken vor seiner eigenen Kraft und nicht gewillt, Leid zuzufügen; nun waren Äste seine Opfer. Außer natürlich, ein Fuchs hatte es auf seine Herde abgesehen; auf Dauer hatten sie gelernt, sich fernzuhalten. Thors Schafe waren demnach die sichersten im Dorf. Thor dachte an seine Brüder, wo sie wohl gerade waren, und brodelte. Nach einem Tagesritt würden sie in Königshof angekommen sein. Er konnte es sich bildlich vorstellen. Er sah sie vor sich, wie sie unter großer Fanfare ankamen, von Leuten in ihren feinsten Kleidern begrüßt wurden. Von Kriegern; Silbernen. Sie würden eingeschrieben werden, einen Schlafplatz in der Legionskaserne zugewiesen bekommen, einen Trainingsplatz in den Feldern des Königs, die feinsten Waffen. Jeder von ihnen würde einem berühmten Ritter als Knappe zugewiesen werden. Eines Tages würden sie selbst Ritter sein, ihr eigenes Pferd erhalten, ihr eigenes Wappen, und selbst Knappen haben. Sie würden an allen Festivitäten teilnehmen und an der Tafel des Königs speisen. Es war ein Leben wie aus einem Traum. Und es war ihm durch die Finger geglitten. Thor wurde richtig schlecht, und er zwang sich, nicht mehr an all das zu denken. Aber es gelang ihm nicht. Ein Teil von ihm, ganz tief vergraben, schrie ihm unentwegt zu. Er befahl ihm, nicht aufzugeben; bestand darauf, dass er ein höheres Schicksal hatte als das hier. Er wusste zwar nicht, was genau es sein sollte, aber er wusste: hier war es nicht. Er konnte spüren, dass er anders war. Vielleicht sogar etwas Besonderes. Dass niemand ihn verstand. Und dass sie alle ihn unterschätzten. Thor erreichte die höchste Kuppe und konnte seine Herde sehen. Gut erzogen, wie sie waren, standen sie immer noch alle beieinander, zufrieden an jedem Grashalm kauend, den sie finden konnten. Er zählte sie durch, nach den roten Markierungen Ausschau haltend, die er auf ihren Rücken angebracht hatte. Als er fertig war, erstarrte er. Ein Schaf fehlte. Er zählte noch einmal durch, und noch einmal. Er konnte es nicht glauben: eines war verschwunden. Thor hatte noch nie ein Schaf verloren, und sein Vater würde ihn diesen Vorfall nie vergessen lassen. Schlimmer noch, er konnte den Gedanken daran nicht ausstehen, dass eines seiner Schafe alleine und verlassen der Wildnis ausgesetzt war. Er ertrug es nicht, unschuldige Wesen jeder Art leiden zu sehen. Thor eilte auf den höchsten Punkt der Kuppe und suchte den Horizont ab, bis er es weitab, einige Hügel entfernt sehen konnte: das verlorene Schaf mit der roten Markierung am Rücken. Es war das Wilde in der Herde. Sein Herz sank, als er feststellte, dass das Schaf nicht nur davongelaufen, sondern ausgerechnet nach Westen gelaufen war, Richtung Schattwald. Thor schluckte. Schattwald war verboten—nicht nur für Schafe, sondern für Menschen. Es lag außerhalb der Dorfgrenze, und solange er schon laufen konnte, wusste Thor, dass er dort nicht hin durfte. Daran hatte er sich auch gehalten. Legenden besagten, dass es den sicheren Tod bedeuten würde, dort hinzugehen, in die Wälder ohne markierte Pfade und voller wilder Tiere. Thor blickte zum Himmel hinauf, der bereits dämmrig wurde, und rang mit sich selbst. Er konnte sein Schaf nicht im Stich lassen. Er glaubte, wenn er schnell wäre, könnte er es noch rechtzeitig zurückholen. Nach einem letzten Blick zurück fuhr er herum und verfiel in einen schnellen Lauf Richtung Westen, nach Schattwald, über dem sich dichte Wolken zusammenzogen. Er hatte ein ungutes Gefühl, doch seine Beine trugen ihn scheinbar wie von selbst. Er spürte, dass es kein Zurück mehr gab, selbst wenn er gewollt hätte. Es war, als würde er in einen Alptraum hineinlaufen. * Thor preschte ohne zu zögern die Hügelkette hinunter, unter das dichte Blätterdach von Schattwald hinein. Der Pfad endete, wo der Wald begann, und er betrat unmarkiertes Gebiet. Sommerblätter knirschten unter seinen Füßen. Von dem Moment an, als er den Wald betrat, war er in Dunkelheit gehüllt; das Licht verschleiert von den Fichten, die hoch über ihn aufragten. Es war hier drin auch kälter, und als er über die Grenze trat, fühlte er ein Frösteln. Es kam nicht nur von der Dunkelheit oder der Kälte—es kam von etwas anderem. Etwas, das er nicht benennen konnte. Es war ein Gefühl, als würde er...beobachtet werden. Thor blickte hinauf zu den uralten Ästen, knorrig, dicker als er selbst, die sich im Wind bewegten und ächzten. Er hatte kaum fünfzig Schritte in den Wald hinein getan, als er sonderbare Tierlaute hörte. Er drehte sich zurück und konnte kaum die Stelle erkennen, an der er hereingekommen war; er fühlte sich jetzt schon, als würde es keinen Weg hinaus geben. Er zögerte. Schattwald lag immer schon am äußersten Rand des Dorfes, aber ebenso am äußersten Rand von Thors Bewusstsein, als etwas Tiefes, Geheimnisvolles. Kein Hirte, der je ein Schaf an den Wald verloren hatte, hatte es je gewagt, ihm nachzugehen. Auch nicht sein Vater. Die Geschichten über diesen Ort waren zu dunkel, zu beständig. Aber irgendetwas war an diesem Tag anders; brachte Thor dazu, dass es ihn nicht mehr bekümmerte, dass er die Vorsicht in den Wind schoss. Ein Teil von ihm wollte Grenzen austesten, so weit von zuhause fortgehen wie möglich, und es zulassen, dass das Leben ihn hinführte, wo es wollte. Er wagte sich weiter vor, dann hielt er an, unsicher, wohin er gehen musste. Er fand geknickte Zweige—Anzeichen dafür, dass sein Schaf hier vorbeigekommen sein musste—und er folgte dieser Richtung. Nach einer Weile wechselte er die Richtung erneut. Bevor eine Stunde vergangen war, hatte er sich hoffnungslos verlaufen. Er versuchte, die Richtung zu finden, aus der er gekommen war—aber er war sich nicht mehr sicher. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, doch seiner Ansicht nach gab es nur einen Weg hier raus, und zwar vorwärts; und so zog er weiter. In der Ferne erblickte Thor eine Säule aus Sonnenlicht und bahnte sich einen Weg darauf zu. Er fand sich vor einer kleinen Lichtung wieder und blieb an ihrem Rande wie angewurzelt stehen: Er konnte nicht glauben, was er da vor sich sah. Da, mit dem Rücken zu Thor, in eine lange, blaue Robe aus Satin gehüllt, stand ein Mann. Nein—kein Mann, das konnte Thor von weitem spüren. Er war etwas anderes. Ein Druide vielleicht. Er stand groß und aufrecht da, den Kopf mit einer Kapuze bedeckt, völlig still, als würde ihn nichts in der Welt bekümmern. Thor stand da und wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte von Druiden gehört, aber noch nie war er einem begegnet. Den Verzierungen an seiner Robe, den aufwändig gearbeiteten goldenen Bordüren zufolge, war dies kein einfacher Druide: dies waren königliche Abzeichen. Vom Hof des Königs selbst. Thor konnte es nicht begreifen. Was machte ein königlicher Druide hier? Nach einer gefühlten Ewigkeit drehte sich der Druide langsam um und sah ihn an, und Thor erkannte das Gesicht sofort. Es verschlug ihm den Atem. Dies war eines der bekanntesten Gesichter im Königreich: der Leibdruide des Königs. Argon, seit Jahrhunderten schon Ratgeber der Könige des Westlichen Königreichs. Was er hier, weitab vom königlichen Hof, mitten in Schattwald suchte, war ein Rätsel. Thor fragte sich, ob er es sich nur einbildete. „Deine Augen täuschen dich nicht“, sprach Argon, seinen festen Blick direkt auf Thor gerichtet. Seine Stimme war tief, uralt, als ob die Bäume selbst sprechen würden. Seine großen, durchscheinenden Augen schienen Thor zu durchleuchten, ihn zu messen. Er fühlte eine immense Energie von ihm ausgehen—als würde er im Angesicht der Sonne stehen. Thor fiel sofort auf ein Knie und beugte den Kopf. „Mein Herr“, sagte er. „Es tut mir leid, Euch gestört zu haben.“ Ein Mangel an Respekt gegenüber einem königlichen Ratgeber würde zu Gefangenschaft oder Tod führen. Das war Thor von Geburt an eingeschärft worden. „Steh auf, Kind“, sprach Argon. „Wenn ich wollte, dass du kniest, hätte ich es dir gesagt.“ Thor stand langsam auf und blickte ihn an. Argon trat einige Schritte näher. Er stand da und starrte ihn an, bis es Thor langsam unangenehm wurde. „Du hast die Augen deiner Mutter“, sprach Argon. Das traf Thor unvorbereitet. Er hatte seine Mutter nie kennengelernt und war außer seinem Vater nie jemandem begegnet, der sie gekannt hatte. Man hatte ihm gesagt, sie wäre bei seiner Geburt gestorben; etwas, wofür Thor sich stets schuldig gefühlt hatte. Er hatte immer den Verdacht gehabt, dass dies der Grund war, warum seine Familie ihn nicht leiden konnte. „Ihr müsst mich mit jemandem verwechseln“, sagte Thor. „Ich habe keine Mutter.“ „Hast du nicht?“, fragte Argon lächelnd. „Du wurdest von einem Mann allein zur Welt gebracht?“ „Ich wollte sagen, Herr, dass meine Mutter bei der Geburt starb. Ich denke, Ihr verwechselt mich.“ „Du bist Thorgrin vom Clan der McLeod. Der Jüngste von vier Brüdern. Der eine, der nicht ausgewählt wurde.“ Thors Augen öffneten sich weit. Er wusste kaum, was er davon halten sollte. Dass jemand von Argons Stand wissen konnte, wer er war—das war mehr, als er begreifen konnte. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, dass ihn irgendjemand außerhalb des Dorfs kannte. „Woher...wisst Ihr das?“ Argon lächelte zurück, antwortete aber nicht. Thor war plötzlich von Neugier erfüllt. „Woher...“, fügte Thor hinzu, nach Worten ringend, „...woher kennt Ihr meine Mutter? Kanntet Ihr sie? Wer war sie?“ Argon wandte sich ab und ging davon. „Fragen für ein andermal“, sprach er. Thor sah ihm verwirrt nach. Es war eine äußerst verwirrende und rätselhafte Begegnung, und alles ging so schnell. Er beschloss, dass er Argon nicht einfach gehen lassen konnte, und eilte ihm nach. „Was macht Ihr hier?“, fragte Thor, ihm nacheilend. Argon bewegte sich mit seinem Stab, einem uralten Ding aus Elfenbein, trügerisch schnell. „Ihr habt doch bestimmt nicht auf mich gewartet, oder?“ „Auf wen sonst?“, frage Argon.
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