Inmitten dieses klug eingerichteten, zufriedenen Lebens tauchte Florent an einem Septembermorgen plötzlich auf in der Stunde, da Lisa ihr Lichtbad in der Frühsonne nahm und Quenu, noch halb verschlafen, nachlässig seine Finger in das geronnene Fett von gestern steckte. Der ganze Laden kam in Aufruhr. Gavard riet, daß man den »Geächteten«, wie er ihn nannte, verstecke. Lisa, noch bleicher und ernster als sonst, ließ ihn schließlich in das fünfte Stockwerk hinaufsteigen, wo sie ihm die Kammer ihres Ladenmädchens einräumte. Quenu hatte ihm Brot und Schinken abgeschnitten; allein Florent konnte kaum essen; er ward von Schwindel und Übelkeiten befallen. Er legte sich ins Bett und blieb fünf Tage ohne Bewußtsein, von einem Kopffieber bedroht, das glücklicherweise energisch bekämpft wurde. Als er das Bewußtsein wieder erlangte, sah er Lisa zu Häupten seines Bettes, wie sie geräuschlos mit einem Löffel in einer Tasse rührte. Als er ihr danken wollte, sagte sie ihm, er solle sich ruhig verhalten, man werde später reden. Nach weiteren drei Tagen war der Kranke auf den Beinen. Eines Morgens holte ihn Quenu und sagte ihm, Lisa erwarte sie in ihrem Zimmer.
Sie hatten im ersten Stockwerk eine Wohnung inne, die aus drei Zimmern und einem Kabinett bestand. Man mußte ein kahles Zimmer durchschreiten, wo nur Stühle standen, dann einen kleinen Salon, dessen Möbel, mit weißen Hüllen überzogen, in dem Halblicht der stets zugezogenen Vorhänge schlummerten, damit nicht das allzu helle Licht die zartblaue Farbe des Ripsstoffes verderbe. Schließlich gelangte man in das Schlafzimmer, das einzige bewohnte Gemach, das mit Mahagonimöbeln sehr anständig eingerichtet war. Das Bett war besonders auffallend mit seinen vier Matratzen, seinen vier Kopfkissen, seinen schweren Bettdecken, seinem Eiderdaunenpolster und seiner behaglichen Stille in diesem warmen Alkoven. Es war ein Bett, so recht zum Schlafen gemacht. Der Spiegelschrein, der Toilettekasten, das mit einer Häkelspitze bedeckte runde Tischchen, die mit gestickten Schutztüchern bekleideten Sessel zeugten von einem sauberen und soliden bürgerlichen Luxus. An der linksseitigen Wand zu beiden Seiten des Kamins, den bemalte Vasen und eine Stutzuhr zierten, letztere einen in Gedanken versunkenen, den Finger auf ein Buch stützenden Gutenberg in Goldbronze darstellend, hingen die in Öl gemalten Bilder Quenus und Lisas in ovalen, reich verzierten Rahmen. Quenu lächelte auf dem Bilde, Lisa blickte sehr schicklich drein; beide waren schwarz gekleidet, das Gesicht sehr sauber, wie in einem flüssigen Rosa verdünnt, sehr schmeichelhaft gezeichnet. Ein Teppich, auf dem Rosetten mit Sternen abwechselten, bedeckte die Dielen. Vor dem Bette lag ein Moosteppich aus Krauswolle, den die schöne Wursthändlerin mit großer Geduld an ihrem Zahlpulte verfertigt hatte. Was inmitten all dieser neuen Dinge auffiel, war ein an die rechte Wand gelehnter, großer, viereckiger, niedriger Schreibtisch, den man hatte frisch anstreichen lassen, ohne die Risse in der Marmorplatte, noch die Schrammen in dem vorAlter geschwärzten Holz ausbessern lassen zu können. Lisa hatte durchaus dieses Möbelstück behalten wollen, das dem Onkel Gradelle vierzig Jahre lang gedient hatte; sie sagte, es werde ihnen Glück bringen. In Wahrheit hatte der Tisch furchtbare Eisenbeschläge, ein Vexierschloß und war so schwer, daß man ihn nicht von der Stelle rücken konnte.
Als Quenu und Florent eintraten, saß Lisa vor dem aufgeklappten Pulte des Tisches und schrieb, reihte Ziffer an Ziffer in ihrer runden, großen, sehr leserlichen Schrift. Die beiden Männer nahmen Platz. Florent betrachtete überrascht das Zimmer, die beiden Bilder, die Uhr, das Bett.
Also, hören Sie, sprach Lisa, nachdem sie eine ganze Seite voll Ziffern noch einmal ruhig nachgerechnet hatte. Wir haben Ihnen Rechnung zu legen, mein lieber Florent.
Es war das erstemal, daß sie ihn so nannte. Sie nahm das mit Ziffern beschriebene Blatt und fuhr fort:
Ihr Oheim Gradelle ist ohne Testament gestorben; Sie und Ihr Bruder sind die zwei einzigen Erben … Wir müssen Ihnen jetzt Ihren Anteil herausgeben.
Ich verlange nichts! … rief Florent. Ich will nichts.
Quenu schien die Absichten seiner Frau nicht zu kennen. Er war ein wenig blaß geworden und betrachtete sie mit verdrossener Miene. Fürwahr, er liebte seinen Bruder sehr; aber es war unnötig, ihm so das Erbe nach dem Onkel an den Kopf zu werfen. Man konnte ja später sehen.
Ich weiß wohl, mein lieber Florent, hub jetzt Lisa wieder an, daß Sie nicht zurückgekommen sind, um zu fordern, was Ihnen gebührt. Allein, Geschäft ist Geschäft; es ist besser, sogleich damit fertig zu werden … Die Ersparnisse Ihres Oheims machten fünfundachtzigtausend Franken aus. Ich habe denn zweiundvierzigtausendfünfhundert Franken auf Ihre Rechnung geschrieben. Da, sehen Sie.
Sie zeigte ihm die Ziffer auf dem Blatt Papier.
Weniger leicht ist es, den Laden mit den Vorräten, mit der Einrichtung und der Kundschaft abzuschätzen. Ich habe nur annäherungsweise Summen annehmen können; aber ich glaube alles reichlich gerechnet zu haben. So habe ich eine Summe von fünfzehntausenddreihundertundzehn Franken herausgebracht, was für Ihren Teil siebentausendsechshundertfünfundfünfzig Franken ausmacht. Rechnen Sie nach!
Sie hatte diese Ziffern mit klarer Stimme herabgelesen und reichte ihm jetzt das Blatt Papier.
Aber, rief Quenu, der Laden des Alten war nimmermehr fünfzehntausend Franken wert; ich hätte nicht zehntausend dafür gegeben.
Seine Frau ärgerte ihn schließlich. Man braucht die Rechtschaffenheit nicht so weit zu treiben. Hatte denn Florent vom Laden ein Wort erwähnt? Er verlangte überhaupt nichts … er hatte es ja gesagt.
Der Laden war fünfzehntausenddreihundertundzehn Franken wert, wiederholte Lisa ruhig … Sie begreifen, mein lieber Florent, es ist unnötig, einen Notar in diese Sache einzuweihen. Da Sie wieder zum Leben erwacht sind, müssen wir teilen. Als Sie ankamen, dachte ich sogleich an die Sache und während Sie oben im Fieber lagen, habe ich dieses Inventar aufgenommen, so gut ich eben konnte … Sie sehen, es ist darin alles einzeln angeführt; ich habe in unseren alten Büchern nachgeschlagen und habe mein Gedächtnis zu Hilfe genommen. Lesen Sie laut, ich werde Ihnen alle Aufklärungen geben, die Sie wünschen können.
Florent lächelte schließlich; er war gerührt von dieser behaglichen, gleichsam natürlichen Rechtschaffenheit. Er legte das Blatt mit den Rechnungen auf die Knie Lisas, nahm ihre Hand und sagte:
Meine liebe Lisa, ich bin glücklich zu sehen, daß ihr gute Geschäfte machet; aber ich will euer Geld nicht. Die Erbschaftgehört meinem Bruder und Ihnen, die Sie den Onkel bis zu seinem Ende gepflegt haben … Ich brauche nichts und will euch in eurem Handel nicht stören.
Sie blieb aber beharrlich, ereiferte sich sogar, während Quenu, sich Gewalt antuend, an den Fingernägeln kaute.
Ei, sagte Florent lachend, wenn der Onkel Gradelle Sie hörte, wäre er imstande, sein Geld zurückzunehmen, denn er liebte mich nicht sehr, der Onkel Gradelle.
Nein, wahrhaftig, er liebte dich nicht, brummte Quenu, der nicht länger an sich halten konnte.
Doch Lisa ließ nicht locker. Sie sagte, sie wolle kein Geld in ihrem Kasten haben, das nicht ihr gehöre; es würde sie bekümmern und sie könnte mit diesem Gedanken nicht mehr ruhig leben. Da machte Florent immer im Tone des Scherzes ihr den Vorschlag, sein Geld in ihrem Wursthandel anzulegen. Übrigens wolle er ihre Dienste nicht zurückweisen; er werde sicherlich nicht sogleich Arbeit finden; auch könne er sich den Leuten gar nicht vorstellen; er müsse einen ganz neuen Anzug haben.
Aber gewiß! rief Quenu; du schläfst und ißt bei uns und wir kaufen dir alles Nötige. Abgemacht. Du weißt wohl, daß wir dich nicht auf der Straße lassen werden. Alle Wetter! …
Er war völlig gerührt. Er schämte sich sogar einigermaßen, daß er einen Augenblick davor zurückgeschreckt sei, eine allzu große Summe mit einemmal herzugeben. Er machte allerlei Scherze und sagte seinem Bruder, daß er es übernehme, ihn fett zu machen. Dieser schüttelte sachte den Kopf. Inzwischen faltete Lisa das Blatt mit den Rechnungen zusammen; sie legte es in ein Schubfach des Schreibtisches.
Sie haben unrecht, sagte sie gleichsam zum Schluß. Ich habe getan, was ich tun mußte. Nunmehr soll es sein, wie Sie wollen … Ich hätte nicht in Ruhe leben können, ohne es zu tun. Die schlechten Gedanken rauben mir meinen Seelenfrieden.
Sie sprachen von anderen Dingen. Es galt nunmehr, die Anwesenheit Florents zu erklären, ohne die Aufmerksamkeit der Polizei auf ihn zu lenken. Er erzählte ihnen, daß er nach Frankreich mit Hilfe der Papiere eines armen Teufels zurückgekehrt sei, der zu Surinam in seinen Armen am gelben Fieber gestorben. Vermöge eines sonderbaren Zufalls hieß jener Mann ebenfalls Florent, aber mit dem Vornamen. Florent Laguerrière hatte in Paris nur eine Base zurückgelassen, deren Ableben man ihm nach Amerika gemeldet hatte. Unter solchen Umständen war es sehr leicht, seine Rolle zu spielen. Lisa machte sich erbötig, die Base zu sein. Man vereinbarte eine Geschichte von einem Vetter, der nach allerlei fehlgeschlagenen Unternehmungen aus dem Auslande zurückgekehrt und von der Familie Quenu-Gradelle – so nannte man sie in dem Stadtviertel – aufgenommen sei, bis er eine Stellung gefunden habe. Als so alles geordnet war, bestand Quenu darauf, daß sein Bruder die Wohung besichtige; nicht den letzten Sessel ersparte er ihm. In dem kahlen Zimmer, wo nur Stühle standen, öffnete Lisa die Tür eines Kabinetts und sagte ihm, das Ladenmädchen werde hier schlafen, während er selbst die Schlafkammer des Mädchens im fünften Stockwerke bekommen solle.
Am Abend war Florent vom Kopfe bis zu den Füßen neu gekleidet. Er hatte es sich wieder in den Kopf gesetzt, einen schwarzen Rock und ein schwarzes Beinkleid zu wählen, trotz der Abmahnungen Quenus, den diese Farbe düster stimmte. Man hielt ihn nicht mehr versteckt; Lisa erzählte jedem, wer sie hören wollte, die Geschichte von dem Vetter. Er lebte fortan in dem Wurstladen, saß stundenlang in Gedanken vertieft auf einem Sessel in der Küche und kam dann wieder in den Laden, um sich da an eine Marmorwand zu lehnen. Bei Tische fütterte ihn Quenu, regte sich auf, weil Florent ein schwacher Esser war und die Hälfte der Fleischspeisen, die man ihm vorlegte, auf dem Teller liegen ließ. Lisa hatte ihr bedächtiges und behagliches Benehmen wieder angenommen; sie duldete ihn selbst am Vormittag, wenn er bei der Bedienung der Kunden im Wege war; sie vergaß seiner; wenn sie ihn ganz schwarz vor sich sah, fuhr sie wohl ein wenig zusammen, fand aber dennoch ein Lächeln, um ihn nicht zu kränken. Die Uneigennützigkeit dieses mageren Mannes hatte sie überrascht. Sie empfand vor ihm eine gewisse Achtung, gemischt mit einer unbestimmten Furcht. Florent sah sich von großer Liebe umgeben.
Wenn Schlafenszeit kam, ging er – ganz müde von seinem in Untätigkeit verbrachten Tage – mit den zwei Metzgerburschen hinauf, die die Dachstuben neben ihm bewohnten. Der Lehrling, Léon mit Namen, war erst fünfzehn Jahre alt; er war noch ein Kind, schmächtig, sehr still, und stahl die Abschnitzel von den Schinken und Würsten, die er unter seinem Kopfpolster verbarg und des Nachts ohne Brot verzehrte. Mehrmals glaubte Florent zu vernehmen, daß Leon gegen ein Uhr nachts jemandem ein Nachtessen gebe; verhaltene Stimmen flüsterten, dann kam ein Geräusch wie von kauenden Kinnbacken und zerknittertem Papier und es gab ein, perlendes Lachen, das Lachen eines Kindes, das in der tiefen Stille des schlafenden Hauses einem leisen Flötentriller glich. Der andere Bursche, August Landois, war von Troyes; obgleich erst achtundzwanzig Jahre alt, war er einer gesunden Verfettung verfallen und hatte einen unnatürlich großen, schon kahlen Kopf. Gleich am ersten Abend, während sie hinaufgingen, erzählte er Florent seine Geschichte in sehr weitschweifiger und verworrener Weise. Er sei zuerst nur nach Paris gekommen, um sich in seinem Handwerk zu vervollkommnen und dann in Troyes, wo seine Base namens Augustine Landois seiner harrte, einen Metzger laden zu eröffnen. Sie hatten denselben Paten gehabt und führten denselben Taufnamen. Später habe ihn der Ehrgeiz erfaßt; er träumte davon, sich in Paris selbständig zu machen. Die Mittel dazu werde ihm sein mütterliches Erbe bieten, das er, bevor er die Champagne verlassen, bei einem Notar hinterlegt hatte. Im fünften Stockwerk hielt August Florent noch eine Weile zurück, um ihm viel Gutes von Frau Quenu zu sagen. Sie hatte Auguste Landois kommen lassen und sie zur Ladenmamsell genommen statt der früheren, die sich einem schlechten Lebenswandel ergeben. Er kannte jetzt sein Handwerk, während sie sich in der Geschäftsführung vervollkommnete. In einem Jahre oder anderthalb Jahren wollten sie heiraten und in irgendeiner volkreichen Vorstadt von Paris einen Metzgerladen auftun. Sie haben sich nicht beeilt mit dem Heiraten, weil dieses Jahr der Speck nicht gut geraten war. Er erzählte weiter, daß sie bei einem Kirchweihfeste in Saint-Quen sich zusammen haben photographieren lassen. Dann trat er in das Mansardenstübchen ein, weil er neugierig war, die Photographie wiederzusehen, die sie auf dem Kaminsims gelassen, damit der Vetter Quenus ein schönes Zimmer habe. Er verweilte da in Gedanken eine kurze Zeit, ganz fahl im gelben Lichte seiner Kerze, sah sich im Zimmer um, das noch des Mädchens ganz voll war, näherte sich dem Bette und fragte Florent, ob er gut schlafe. Augustine schlafe jetzt unten; sie sei dort besser untergebracht, denn die Dachstuben seien im Winter sehr kalt. Endlich ging er, Florent mit dem Bett und der Photographie allein lassend … August war ein bleicher Quenu, Augustine eine unreife Lisa.