Diese Jahre waren für Florent ein langer, süßer, trauriger Traum. Alle bitteren Freuden der Selbstaufopferung hatte er durchzukosten. Zu Hause in der gemeinsamen Stube war er nur Liebe. Draußen unter den Demütigungen seines Lehrerberufes, auf den Fußwegen von der Menge gestoßen, fühlte er, wie er schlecht wurde. Sein längst erstorbener Ehrgeiz verbitterte ihn. Es währte Monate, bis er sich ergab und sich in das Leidensgeschick eines häßlichen, mittelmäßigen und armen Menschen fügte. Um den Versuchungen der Schlechtigkeit zu entrinnen, stürzte er sich kopfüber in eine ideale Güte, schuf sich einen Zufluchtsort aus eitel Gerechtigkeit und Wahrheit. Zu jener Zeit wurde er Republikaner; er trat in die Republik ein, wie die verzweifelten Mädchen in das Kloster eintreten. Weil er keine Republik fand, die weich und warm genug gewesen wäre, um seine Leiden einzuschläfern, schuf er sich eine solche. An den Büchern fand er kein Gefallen; alles geschwärzte Papier, unter dem er lebte, erinnerte ihn an die mißduftige Schulklasse, an die von den Schuljungen zerkauten Papierkugeln, an die Marter der langen, unfruchtbaren Stunden. Auch redeten die Bücher nur von Aufruhr, drängten ihn zum Stolze; er aber fühlte ein gebieterisches Bedürfnis nach Frieden und Vergessen. Sich wiegen, einschlummern und träumen, daß er vollkommen glücklich sei, daß auch die Welt es werden sollte, die republikanische Stadt erbauen, wo er hätte leben wollen: dies war seine Erholung, das immer wieder von neuem begonnene Werk seiner freien Stunden. Er las nicht mehr, nur was sein Lehrberuf erforderte; er ging die Jakobstraße hinauf bis zu den äußeren Alleen, machte zuweilen einen weiten Weg und kam durch das italienische Tor zurück; auf dem ganzen Wege hatte er das Mouffetard-Stadtviertel zu seinen Füßen; er ersann sittliche Maßnahmen, menschenfreundliche Gesetzentwürfe, die diese Stadt der Leiden in eine Stadt der Glückseligkeit umwandeln sollten. Als die Tage der Februarrevolution Paris in ein Blutbad tauchten, war er tief bekümmert; er lief in die Klubs und forderte den Loskauf dieses Blutes »durch den Bruderkuß aller Republikaner der Welt«. Er ward einer jener erleuchteten Redner, die die Revolution als eine neue Religion der Milde und Erlösung predigten. Erst die Dezembertage rissen ihn aus dieser Weltallsliebe. Er war entwaffnet. Er ließ sich abfangen wie ein Hammel und wurde behandelt wie ein Wolf. Als er aus seiner Predigt über die Brüderlichkeit erwachte, starb er schier Hungers auf den kalten Fliesen einer Kasematte zu Bicêtre.
Quenu, damals 22 Jahre alt, ward von tödlicher Angst ergriffen, als er seinen Bruder nicht zurückkehren sah. Am anderen Tage ging er nach dem Montmartrefriedhofe, um ihn da unter den Toten der Straße zu suchen, die man reihenweise auf Stroh gebettet hatte. Die unbedeckten Häupter der Leichen waren scheußlich anzusehen. Ihm fehlte der Mut, die Tränen blendeten ihn; zweimal mußte er die Reihen abschreiten. Endlich erfuhr er nach einer Woche auf der Polizeiwache, daß sein Bruder in Haft sei. Er durfte ihn nicht sehen. Als er zudringlich wurde, drohte man, auch ihn zu verhaften. Da lief er zum Onkel Gradelle, der in seinen Augen eine Persönlichkeit war und den er zu bestimmen hoffte, Florent zu retten. Allein, der Onkel Gradelle wurde zornig und sagte, es sei ganz recht so; der lange Tölpel habe nicht nötig gehabt, sich unter die republikanischen Hundsfötter zu mengen; er fügte hinzu, es sei Florent ins Gesicht geschrieben, daß es mit ihm ein böses Ende nehmen werde. Quenu schluchzte bitterlich und war ganz trostlos. Der Onkel schämte sich ein wenig; er fühlte, daß er für den armen Jungen etwas tun müsse, und bot ihm an, ihn zu sich zu nehmen. Er wußte, daß er ein guter Koch sei, und brauchte eben einen Gehilfen. Quenu hatte eine solche Angst davor, allein nach der Stube in der Royer-Collard-Straße zurückzukehren; daß er den Antrag annahm. Er schlief schon am nämlichen Abend bei seinem Oheim in einem finstern Loch unter dem Dache, wo er sich kaum ausstrecken konnte. Er weinte da doch weniger, als er angesichts des leeren Bettes seines Bruders geweint haben würde.
Endlich gelang es ihm, Florent zu sehen. Doch als er von Bicêtre zurückkam, mußte er sich zu Bett legen; das Fieber hielt ihn fast drei Wochen an sein Lager gefesselt, und er verbrachte diese ganze Zeit in einer Art Schlummer und Bewußtlosigkeit. Es war seine erste und einzige Krankheit. Gradelle wünschte seinen republikanisch gesinnten Neffen zu allen Teufeln. Als er eines Morgens erfuhr, daß Florent nach Cayenne abgeführt worden, schlug er Quenu vergnügt in die Hände, weckte ihn, teilte ihm roh diese Nachricht mit und rief damit einen solchen Umschwung in der Krankheit hervor, daß der junge Mann am folgenden Tage auf den Beinen war. Sein Schmerz löste sich; sein schlaffes Fleisch schien seine letzten Tränen aufzusaugen. Einen Monat später lachte er schon, allerdings verdrossen über dieses Lachen; dann behielt aber die Heiterkeit die Oberhand, und er lachte, ohne es zu wissen.
Er erlernte das Wurstmacherhandwerk. Er fand daran noch mehr Gefallen als an der Küche. Allein der Oheim Gradelle sagte ihm, er möge seine Kochtöpfe und Pfannen nicht zu sehr vernachlässigen; ein Wurstmacher, der zugleich ein guter Koch, sei sehr selten zu finden, und es sei für ihn, Quenu, ein Glück, daß er in einer Gastwirtschaft gewesen, ehe er bei ihm eingetreten. Er nützte übrigens die Fähigkeiten des Jungen aus, ließ ihn Mahlzeiten bereiten, die von Kunden bestellt waren, und betraute ihn im besonderen mit der Zubereitung von Rostbraten und Schweinskoteletten mit kleinen Gurken. Da der junge Mann ihm nützliche Dienste leistete, liebte er ihn nach seiner Art, kneipte ihn in die Arme, wenn er gerade gut gelaunt war. Er hatte die ärmliche Einrichtung der Stube in der Royer- Collard-Straße verkauft und behielt den Erlös, vierzig und einige Franken, bei sich, damit der Teufelsjunge Quenu, wie er sagte, das Geld nicht zum Fenster hinauswerfe. Schließlich gab er ihm aber dennoch sechs Franken monatlich zur Bestreitung seiner kleinen Ausgaben.
Obgleich knapp im Gelde und zuweilen roh behandelt, war Quenu doch vollkommen zufrieden. Er liebte es, daß man ihm sein Leben sozusagen vorkaue. Florent hatte ihn zu sehr nach der Art eines trägen Mädchens erzogen. Überdies hatte er im Hause des Oheims Gradelle eine Freundin gefunden. Als dieser seine Frau verloren, mußte er für den Dienst am Zahlpulte ein Mädchen nehmen. Er wählte hiezu eine gesunde, appetitliche Person, weil er wußte, daß eine solche den Kunden wohlgefällt und den kalten Braten zu raschem Absatz verhilft. Er kannte in der Cuvier-Straße nahe dem Botanischen Garten eine verwitwete Frau, deren Mann Posthalter zu Plassans, einer Unterpräfekturs-Stadt im Süden, gewesen. Diese Dame, die sehr bescheiden von einer kleinen Leibrente lebte, hatte aus der genannten Stadt ein starkes, schönes Mädchen mitgebracht, das sie wie ihre eigene Tochter behandelte. Lisa pflegte sie mit ruhiger Miene in stets gleichmäßiger, ernster Stimmung und war, wenn sie lächelte, sehr schön. Ihr Hauptreiz lag in der köstlichen Art, wie sie ihr seltenes Lächeln anbrachte. Ihr Blick ward dann zu einer Liebkosung. Ihr gewöhnlicher Ernst verlieh diesem plötzlich angewandten Mittel der Verführung einen unschätzbaren Wert. Die alte Dame pflegte zu sagen, ein Lächeln Lisas könne sie in die Hölle locken. Als das Asthma sie hinwegraffte, hinterließ sie ihrer Ziehtochter Lisa ihre ganzen Ersparnisse, nahezu zehntausend Franken. Lisa blieb acht Tage allein in der Wohnung der Cuvier-Straße; hier suchte Gradelle sie auf. Er kannte sie, weil er sie öfter mit ihrer Herrin gesehen hatte, wenn letztere in der Pirouette-Straße bei ihm einkaufte. Bei dem Leichenbegängnisse der alten Dame fand er Lisa so schön und fest gebaut, daß er bis zum Kirchhofe mitging. Während man den Sarg in das Grab senkte, dachte er, wie prächtig dieses Mädchen in seinen Wurstladen passen werde. Er ging mit sich selbst zu Rate und sagte sich, daß er ihr nebst der Beköstigung und Wohnung gern dreißig Franken monatlich zahlen werde. Als er ihr seine Vorschläge machte, erbat sie sich vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit. Eines Morgens erschien sie bei ihm mit einem kleinen Päckchen und ihren zehntausend Franken, die sie in ihrem Mieder verborgen trug. Einen Monat später beherrschte sie das ganze Haus, Gradelle, Quenu, alle bis zum letzten Lehrjungen. Quenu besonders würde alle zehn Finger für sie hingegeben haben. Wenn sie lächelte, blieb er stehen, sah sie an und lachte von Herzen mit.
Lisa, die älteste Tochter der Macquart in Plassans, hatte noch ihren Vater. Sie sagte, er sei im Auslande, und schrieb ihm niemals. Zuweilen ließ sie die Bemerkung fallen, daß ihre Mutter zu ihren Lebzeiten eine kräftige Arbeiterin gewesen und daß sie ihr ähnlich sei. Sie erwies sich in der Tat sehr ausdauernd bei der Arbeit. Aber sie sagte, die arme Frau habe sich zu Tode gearbeitet, um die Hauswirtschaft aufrecht zu erhalten. Sie sprach dann von den Pflichten der Hausfrau und von den Pflichten des Gatten in einer sehr klugen, sehr anständigen Weise, die Quenu entzückte. Er versicherte ihr, daß er völlig ihre Ansichten teile. Die Ansichten Lisas waren aber die, daß jeder arbeiten müsse, wenn er essen wolle, daß jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, daß man Böses tue, wenn man die Trägheit ermutige, und endlich, daß es den Faulenzern ganz recht geschehe, wenn es ihnen schlimm gehe. Dies war eine sehr deutliche Verurteilung der Säuferei und des Müßigganges des alten Macquart. Ohne daß sie es wußte, sprach Macquart ganz laut in ihr; sie war nichts als eine ordnungsliebende, vernünftige, logische Macquart mit ihren Bedürfnissen eines behaglichen Lebens, weil sie begriff, daß man am besten schlafe, wenn man sich selbst warm gebettet habe. Diesem warmen, weichen Bette galt ihre ganze Zeit und galten alle ihre Gedanken. Schon mit sechs Jahren blieb sie gern den ganzen Tag ruhig auf ihrem Stühlchen sitzen unter der Bedingung, daß sie am Abend mit einem Stück Kuchen belohnt werde.
Bei dem Wurstmacher Gradelle führte Lisa ihr ruhiges, regelmäßiges, durch ihr schönes Lächeln erhelltes Leben fort. Sie hatte das Anerbieten des guten Mannes nicht aufs Geratewohl angenommen; sie wußte sich einen Beschützer aus ihm zu machen; sie ahnte vielleicht mit dem Spürsinn der Leute, die Glück haben, in diesem dunkeln Laden der Pirouette-Straße die fest begründete Zukunft, von der sie träumte, ein Leben voll gesunder Freuden, eine Arbeit ohne Mühe, für die jede Stunde ihren Lohn darbieten solle. An ihrem Zahlpulte versah sie den Dienst mit derselben ruhigen Sorgfalt, die sie der Witwe des Posthalters gewidmet hatte. Die Sauberkeit der Schürzen Lisas wurde bald sprichwörtlich im Stadtviertel. Der Onkel Gradelle war dermaßen zufrieden mit diesem schönen Mädchen, daß er manchmal, wenn er seine Würste band, zu Quenu sagte:
Wenn ich nicht sechzig Jahre alt wäre, bei meiner Ehre, ich könnte die Torheit begehen, sie zu heiraten! … Eine solche Frau im Geschäft ist gediegen Gold, mein Junge.
Quenu überbot ihn noch in den Lobsprüchen. Doch lachte er hellauf, als eines Tages ein Nachbar ihn damit neckte, er sei in Lisa verliebt. Die Liebe plagte ihn nicht. Sie waren sehr gute Freunde. Am Abend gingen sie zusammen hinauf, um sich zu Bette zu begeben. Neben dem dunkeln Loche, wo Quenu schlief, bewohnte Lisa ein Kämmerchen, das sie ganz hell zu machen wußte, indem sie es überall mit Mousselinevorhängen schmückte. Sie verweilten einen Augenblick mit dem Leuchter in der Hand auf dem Flur und plauderten, während sie ihre Türen aufsperrten. Dann schlossen sie die Türe mit dem Gruße:
Gute Nacht, Fräulein Lisa!
Gute Nacht, Herr Quenu!
Während Quenu zu Bett ging, hörte er Lisa in ihrem Kämmerchen herumwirtschaften. Die Bretterwand war so dünn, daß er jeder ihrer Bewegungen folgen konnte. Er dachte sich: »Schau, schau! Sie zieht ihre Fenstervorhänge zu; was mag sie nur vor ihrer Kommode machen? Jetzt setzt sie sich nieder, um ihre Stiefelchen auszuziehen. Nun hat sie ihre Kerze ausgelöscht. Gute Nacht, schlafen wir!« Und wenn er das Bett krachen hörte, murmelte er lachend: »Ja, sie ist nicht leicht, das Fräulein Lisa.« Dieser Gedanke erheiterte ihn. Er schlief endlich ein mit dem Gedanken an die Schinken und Würste, die am nächsten Tage bereitet werden sollten.
Dies währte ein Jahr, ohne daß Lisa auch nur einmal errötet, oder Quenu in Verlegenheit gekommen wäre. Am Morgen bei der Arbeit, wenn Lisa in die Küche kam, begegneten sich wohl ihre mit dem Hackfleisch beschäftigten Hände. Sie half ihm zuweilen; sie hielt mit ihren fetten Fingern die Därme, während er sie mit gehacktem Fleisch und Speck füllte. Oder sie kosteten zusammen das rohe Wurstfleisch, um zu sehen, ob es auch genügend gewürzt sei. Sie war eine gute Beraterin; sie kannte die im Süden gebräuchliche Art der Zubereitung, und er versuchte diese Art mit Erfolg. Oft merkte er, daß sie so dicht hinter ihm stehe und in die Töpfe gucke, daß er ihren starken Busen an seinem Rücken fühlte. Sie reichte ihm, wenn nötig, einen Löffel oder eine Schüssel. Das große Feuer erhitzte sie, daß sie ganz rot wurden. Er würde um nichts in der Welt in dem Umrühren des Breies innegehalten haben, der sich am Feuer verdickte, während sie sehr ernst von dem Grade sprach, bis zu welchem das Kochen fortgesetzt werden müsse. Wenn nachmittags der Laden leer war, plauderten sie ruhig stundenlang. Sie saß ein wenig zurückgelehnt vor ihrem Zahlpulte und strickte mit regelmäßigen Bewegungen ihrer Hände. Er saß auf einem Block und schlug mit den Stiefelabsätzen an das Holz. Sie verständigten sich vortrefflich; sie sprachen von allem, zumeist von der Küche, dann vom Oheim Gradelle und von den Leuten des Stadtviertels. Sie erzählte ihm Geschichten wie einem Kinde; sie wußte sehr hübsche, Wundermärchen voll Lämmerchen und kleiner Engel, die sie mit flötender Stimme und mit ihrer ernsten Miene vortrug. Wenn ein Kunde kam, bat sie den jungen Mann, um sich nicht selber bemühen zu müssen, der Käuferin das Töpfchen Schweineschmalz oder die Büchse Schnecken zu reichen. Um elf Uhr gingen sie dann hinauf schlafen ganz so wie am vorhergegangenen Abend; während sie ihre Türe schlossen, grüßten sie mit ihrer ruhigen Stimme: