Normalerweise ist niemand mehr wach, sobald ich nach Hause komme, heute Abend aber ist das Haus meiner Großeltern hell erleuchtet.
„Hallo Leute“, rufe ich, als ich durch die Tür trete.
Meine Großeltern und Tante Lori sitzen am Esstisch und machen ein Gesicht, als ob jemand gestorben wäre. Die Augen meiner Tante sind gerötet und meine Nonna hat den Mund zu einer knappen Linie zusammengekniffen, ihr runzeliges Gesicht ist völlig niedergeschlagen.
„Was ist los?“, will ich wissen, als sie mich bloß anstarren. „Was ist passiert?“
„Das Krankenhaus hat heute Nachmittag angerufen.“ Meine Tante schnieft. „Da wir keine Versicherung haben, wollen sie Mia nicht mehr operieren. Sie können den Eingriff nur wie geplant durchführen, wenn wir ihnen morgen bis Geschäftsschluss einen Scheck über dreißigtausend Dollar ausstellen.“
„Was?“ Dreißigtausend Dollar. Soviel kostet heutzutage eine Hüftoperation. Wahnsinn. „Also, das ist … Mist.“
Tante Lori bricht erneut in Tränen aus. Ihre Tochter, meine acht Jahre alte Cousine, ist vor einigen Monaten auf dem Spielplatz gestürzt und hat sich irgendwie die Hüfte gebrochen. Damals wurde sie bereits operiert, aber das arme Mädchen hat ständig Schmerzen und ihr neuer Chirurg meinte, dass die Schrauben gegen das Gewebe drücken und das ganze Gelenk nochmal rekonstruiert werden muss. Noch einmal. Es ist eine verfluchte Tragödie, dass eine Achtjährige so eine Scheiße durchmachen muss.
„Ich weiß. Und habe keine Ahnung, was ich Mia sagen soll. Wir versuchen schon so lange, ihre Schmerzen zu lindern.“
Jetzt kommen mir ebenfalls die Tränen. Es darf nicht sein, dass ein Kind mit ständigen Schmerzen leben muss. Dass sie nicht mit ihren Freunden spielen oder nicht mal normal in ihrer Schule rumlaufen kann. Und das alles, weil das Gesundheitssystem in unserem Land dermaßen kaputt ist.
Mit unserem Job im Caffè Milano verdienen meine Tante und ich zu viel, um uns für die soziale Gesundheitsfürsorge zu qualifizieren, aber nicht genug, um uns eine Krankenversicherung leisten zu können. Wenigstens werden meine Großeltern über Medicare versorgt.
Ich lasse mich auf einen Stuhl sinken und streife meine Schuhe ab. „Wir werden eine Lösung finden“, verspreche ich.
Ich weiß nicht, wie oder wann ich diejenige wurde, bei der diese Familie nach Antworten sucht, aber irgendwann hat es sich so entwickelt. Meine Mutter hat mich als Kind verlassen, also ist das hier unsere Kernfamilie: meine Großeltern, meine Tante – die genau wie meine Mom jung und außerehelich schwanger wurde –, ihre Tochter Mia und ich. Wir halten zusammen und passen aufeinander auf. Wir sind eine Familie und wir finden immer eine Lösung.
Tante Lori weint. „Wie sollen wir bis morgen dreißigtausend Dollar auftreiben?“
Manchmal braucht es nur die richtige Fragestellung, um die Antwort zu finden.
Und auf einmal ist die Antwort glasklar. Ja, unvermeidbar sogar.
Die Tacones haben Geld. Sehr viel Geld. Man braucht sie nur danach zu fragen.
Ich muss nur meine Seele verkaufen.
Scheiße.
Ich sage nichts, denn mir ist klar, dass es meine Großeltern umbringen würde.
„Morgen werde ich sehen, ob ich einen Kredit bekommen kann. Ich bin sicher, dass die Bank uns etwas geben wird. Wir haben das Café als Sicherheit.“
Tante Lori ist zu aufgewühlt, um meine Lüge zu bemerken. Zu verzweifelt, um irgendeine Lösung in Betracht zu ziehen. „Denkst du?“
„Auf jeden Fall. Morgen kümmere ich mich darum. Versprochen.“
Mia braucht Hilfe. Es wird Zeit, dass ich mich zusammenreiße und handle.