Kapitel 1-4

637 Words
Marissa „Pass auf, Henry ist heute schlecht drauf“, warne ich meine Küchenkollegin Lilah, während ich die Marinarasoße umrühre. Unser überreizter Chefkoch hört gar nicht mehr auf, das Küchenpersonal runterzumachen. Sie verdreht ihre karamellbraunen Augen. „Wann ist er das nicht?“ „Naja, wenn ich Chefköchin wäre, dann wäre ich wohl auch ein übellauniges Biest“, murmle ich leise und hole zwei gefüllte Hähnchenbrüste aus dem Ofen, um sie auf zwei Tellern anzurichten. „Wenigstens wissen wir, was uns erwartet. Aber weißt du, was ich echt nicht mehr aushalte?“ Lilah schneidet den Spargel zurecht, damit alle Stangen genau gleich lang sind. „Arnie?“, flüstert sie. „Genau.“ Arnie, unser Figlio di Puttana von einem Sous-Chef, ist ein perverser, grapschender Schwachkopf, der irgendwie denken muss, dass alle Mädels in der Küche darauf brennen, ihm einen zu blasen. „Heute Abend hat er mir beim Reinkommen an den Hintern getatscht. Getatscht. Es war nicht nur total daneben, sondern echt widerlich.“ „Oh ja, also wenn er schon jemanden an den Hintern fasst, dann soll er doch wenigstens richtig zupacken, oder?“ Lilah grinst und Grübchen zieren ihre schokoladenbraune Haut. Ich pruste. Lilah schafft es immer, mich zum Lachen zu bringen. Außerdem ist sie die Jüngste in der Küche. Mit sechzehn hat sie hier als Tellerwäscherin angefangen und in den letzten fünf Jahren hat sie sich hochgearbeitet. Sie ist definitiv eine meiner liebsten Kollegen im Michelangelos. „Ja, als würde er es nur auf seine abartige Art versuchen, anstatt mich ganz offen sexuell zu belästigen. Keine Ahnung – ich weiß nur, wie mies ich mich jetzt fühle.“ „Was hast du gemacht, als es passiert ist?“ „Ich hab ihm gesagt, er soll gefälligst die Pfoten von mir lassen.“ „Und lass mich raten, er hat sich nur über dich lustig gemacht.“ „Jepp. Toll, oder?“ „Du solltest es Henry erzählen.“ „Genau. Weil das was bringen würde. Henry glaubt, dass eine Frau in diesem Job sowieso nichts verloren hat. Arnie hat mich eingestellt. Wahrscheinlich würde er sagen, dass ich kündigen soll.“ Ich lege ein Steak auf einen Teller und löffle etwas Kraftsoße mit Pfefferkörnern drauf. „Mädel, das ist illegal. Michelangelos könnte sich eine Klage einhandeln, wenn wir es melden und sie nichts unternehmen.“ „Und ob.“ Und meine Vorgesetzten wissen auch, dass keine von uns beiden genügend Geld hat, um sie zu verklagen. „Vielleicht sollte ich mir einfach eine Gabel in die Hosentasche stecken und sie ihm ins Bein spießen, wenn er sich nächstes Mal an mich ranmacht.“ Lilah verkneift sich ein Lachen. „Das wird ihm eine Lehre sein.“ Arnie hastet an uns vorbei und sie nimmt eine Gabel in die Hand und blickt vielsagend zu ihm rüber. Ich senke den Blick, damit ich nicht laut zu lachen anfange. Leider komme ich den restlichen Abend nicht mehr dazu, von einer Gabel Gebrauch zu machen. Als wir mit Aufräumen und Putzen fertig sind, bringen mich meine Füße um und ich bin hundemüde, aber ich bin glücklich. Ich liebe diesen Job, selbst mit dem ganzen Bullshit. Ich liebe es, mit Lilah zu scherzen, und ich mag den Stress, wenn ich unter Hochdruck einen perfekt garnierten Teller nach dem anderen herrichte. Ich mag es, mit teuren Gourmet-Zutaten zu arbeiten und die Kunstwerke zu erschaffen, die Henry sich ausgedacht hat. Ich bekomme immer einen Adrenalinstoß, der mich noch lange nach Ladenschluss auf den Beinen hält. Beinahe wünschte ich, die Schießerei hätte Caffè Milano erledigt, damit das hier mein einziger Job wäre. Es klingt vielleicht hochtrabend, aber irgendwie fühlt sich die gehobene Küche in einem Spitzenrestaurant für mich eher wie Heimat an. Aber das ist egoistisch. Meine Großeltern haben mich aufgezogen und ich verdanke ihnen alles. Caffè Milano ist ihr gesamtes Leben und sie werden langsam alt. Meine Tante und ich halten den Laden am Laufen. Obwohl Tante Lori Vollzeit im Café arbeitet, muss ich immer mehr Schichten übernehmen, denn meine Großeltern werden nicht jünger. Also werde auch ich mich bis zu ihrem Tod dem Café widmen – oder bis meine kleine Cousine Mia alt genug ist, um mitzuhelfen; vorausgesetzt, mit ihrem Hüftproblem ist das überhaupt möglich.
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