Gio
Unfassbar, gerade hab ich dem Milano-Mädchen von meinen Albträumen erzählt.
Dabei habe ich noch nie jemandem davon erzählt. Wem sollte ich auch? Junior würde sagen, dass ich mich zusammenreißen und das Ganze vergessen soll. Paolo würde mich wahrscheinlich auf die Einschussstelle boxen und scherzen: „Siehst du? Alles bestens.“
Und meine Mutter? Die weiß nicht mal, dass ich angeschossen wurde. Unsere Frauen halten wir nämlich aus der ganzen Scheiße raus.
Aber ich bin nicht mehr derselbe seit dieser Sache. Und es liegt nicht daran, dass ich mich nicht erholt habe – obwohl das nicht ganz einfach war und eine Weile gedauert hat. Aber ich muss ständig daran denken, wie endlich das Leben ist.
Ich sehe überall nur noch Leute, die völlig unvorbereitet sterben könnten. Ein Typ überquert sorglos die Straße und bumm! Er wird von einem Taxi überfahren. Oder irgendein armes Schwein hat ein Aneurysma und bricht zusammen, als er draußen die Post holen will.
Ohne eine Chance, sich zu verabschieden. Um alles Unerledigte zu klären.
Genau so hätte es mir ergehen können.
Und wo immer ich hingehe, sehe ich potenzielle Schützen. Ich bin ständig auf der Hut vor den Mistkerlen von der Bratva, obwohl ich weiß, dass diese Geschichte vorbei ist. Sie hatten meine Schwester gekidnappt, aber sie hat den Mistkerl geheiratet und wir haben die Waffen ruhen lassen.
Aber das hält mich nicht davon ab, hinter jeder flinken Hand jemanden zu sehen, der nach seiner Waffe greift. Ich sehe Schatten an den Wänden, die sich auf mich stürzen.
Ich bin heute hergekommen, um nach dem Mädchen zu schauen. Das war nicht gelogen. Aber ich wollte auch zu diesem Ort zurückkehren. Mich meinen Dämonen stellen. Mich vergewissern, dass ich nicht in kalten Schweiß ausbreche, sobald ich vor die Tür trete, an der ich fast erschossen wurde. Dass ich mich nicht wie ein verdammtes Weichei aufführe, weil ich mir für meine Familie ein Stück Blei eingefangen habe.
Die gute Nachricht lautet: Das hab ich nicht.
Die schlechte Nachricht: Ich bin nicht sicher, warum ich noch lebe.
Ich meine, ich habe eine zweite Chance bekommen.
Ich bin nicht draufgegangen. Ich sollte eigentlich tot sein. Warum kommt mir mein Leben also plötzlich so verdammt leer vor?
Ich setze mich und sehe zu, wie Marissa den Laden schließt. Sie ist jung – sie hat noch ihr gesamtes Leben vor sich. Sie hat etwas, was sie antreibt.
Eine Leidenschaft.
Auf einmal möchte ich herausfinden, was das ist. Ich möchte all ihre tiefen, verborgenen Geheimnisse erfahren. Ihre Wünsche. Sie blickt ein paarmal zu mir rüber. Ich mache sie nervös. Sie wirkt leicht befangen. Aber ich bringe sie auch zum Erröten, was meinen Schwanz aufzucken lässt.
Sie ist hübsch, ist sich dessen aber nicht bewusst. Oder sie spielt es herunter, weil sie keine männlichen Blicke auf sich ziehen will. Sie ist jung, intelligent und äußerst tüchtig. Sie muss höchstens fünfundzwanzig sein, aber sie leitet diesen Laden seit mehreren Jahren. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ihre Großmutter stolz verkündete, dass sie eine Kochschule besucht hat.
Das hat ihr gutgetan. Sie steckt immer noch in ihrem Familiengeschäft fest und tut das, was man von ihr erwartet.
Genau wie ich.
Ich stehe auf und lasse den Teller auf dem Tisch, damit sie ihn wegräumt. Wäre sie netter gewesen, hätte ich ihn zum Tresen gebracht – erst recht, weil sie den Laden schließen will und ich der letzte nervige Gast bin. Aber sie hat meinen Hunderter behalten und einen auf Zicke gemacht.
Also kann sie ruhig hinter mir aufräumen.
Ich spaziere zur Tür und dann vergesse ich einen Moment lang mein Geprahle, denn die Szene auf dem Bürgersteig spielt sich nochmal vor mir ab. Der Geruch meines eigenen Blutes steigt mir in die Nase. Ich sehe das Gesicht von Ivan, dem Bratva-Mistkerl, der uns in die Falle lockt. Die tödliche Rage in Juniors Augen, als er seine Waffe zückt. Ich höre Paolos Panik, als er mich auffängt.
Eine Berührung an meinem Arm bringt mich zurück. Ich blicke runter in zwei große meerblaue Augen.
Genau wie in meinen Albträumen, nur diesmal ist ihre Miene sanft.
Sie schweigt einen Moment lang. Ihr Blick ist voller Mitgefühl. Sie versteht mich. „Ich habe versucht, euch zu warnen.“ Tränen schießen ihr in die Augen. Ich frage mich, ob ihre Albträume den meinen gleichen, nur andersrum. Sieht sie immer wieder, wie die Kugel mich erwischt, Nacht für Nacht?
Ich lege meinen Arm um ihre Taille und ziehe sie für eine Umarmung heran. „Ich weiß.“
Verdammt, sie ist hinreißend.
„Danke, Marissa.“ Ich bin ihr wirklich dankbar.
Sie zögert, dann hebt sie die Arme hoch und um meinen Nacken, genau wie in einem meiner Träume. Sie riecht nach Kaffee und süßer Sahne. Ich möchte sie ablecken und herausfinden, ob sie genauso gut schmeckt, wie sie riecht.
„Ich bin froh, dass du überlebt hast, Gio. Ich dachte, du wärst tot.“ Ihre Stimme ist rau und gedämpft. Ich habe mir immer wieder gesagt, dass sie zu jung für mich ist, und das ist sie auch, aber alles an ihr vermittelt den Eindruck einer Frau, die weiß, was sie will.
„Ja. Ich auch, Kleines.“ Ich verpasse ihr einen Kuss auf den Scheitel und ignoriere so gut wie möglich das weiche Gefühl ihrer Brüste an meinen Rippen.
Ich möchte sie so gerne küssen – und das sieht mir gar nicht ähnlich. Normalerweise nehme ich die Weiber nur ordentlich durch und klatsche ihnen beim Rausgehen auf den Arsch.
Küssen ist nicht wirklich mein Ding.
Aber sie hat meinen Tod mitangesehen. Meinen Beinahe-Tod. Den Moment, der alles verändert hat. Sie war dabei. Also rede ich mir eine Art Verbindung zu ihr ein.
Aber das ist albern.
Ich sollte den Dingen keine Bedeutung andichten, um sie irgendwie zu verstehen.
Ich wurde angeschossen.
Schluss damit.
Es ist vorbei.
Wird Zeit, dass ich endlich wieder anfange, zu leben.