Chelle
„Ich möchte, dass du dich um die Medieneinkäufe für diese zwei neuen Klienten kümmerst“, lässt mich meine Chefin Janette wissen und knallt um sechs Uhr abends zwei Ordner auf meinen Schreibtisch.
Das war’s dann also mit dem Spinning-Kurs.
Trotz meiner Stelle als glorifizierte Sekretärin bin ich dankbar, ihre Assistentin zu sein. Als Gründerin und Chefin von First Image Publicity ist sie eine wirklich krasse Publizistin, die als Angehörige einer Minderheit ihre Firma innerhalb von drei Jahren in ein Unternehmen mit Millionenumsatz katapultiert hat.
Das ist der Grund, weshalb ich noch lange nach fünf Uhr hier bin, wenn ich eigentlich Feierabend haben sollte. Ich gehe nicht nach Hause, bis auch sie geht, denn ich versuche ihr zu beweisen, dass ich es verdient habe, stellvertretende Publizistin zu sein und meine eigenen Aufträge zu verwalten.
Ich liebe diesen Job. Ich finde PR faszinierend und glamourös. Ich habe definitiv Ambitionen, eines Tages meine eigene Firma zu leiten. Aber um das zu erreichen, muss ich ganz unten anfangen, was bedeutet, dass ich renne, sobald Janette mit den Fingern schnipst. Denn dieses Business ist extrem hart umkämpft und es gibt mindestens ein Dutzend Leute in der Firma, die für meinen Job töten würden. Also habe ich mich für den Augenblick damit abgefunden, kein Privatleben zu haben.
Was total in Ordnung ist, da meine drei letzten Bumble-Dates totale Reinfälle waren. Ich vermisse nicht viel.
Bis auf s*x.
Sex vermisse ich definitiv.
Ein bisschen körperliches Vergnügen hin und wieder wäre nett.
Das Problem ist nur, ich bin jemand, der s*x und Beziehung nicht trennen kann. Ich weiß nicht, wie man einfach nur um des s*x willen daten kann. Ich versuche, mir die Kerle, mit denen ich ausgehe, in Visionen über mein zukünftiges Leben vorzustellen. Es ist alles eine sehr ernste Angelegenheit und keiner ist den Anforderungen gewachsen, also muss ich darauf zurückgreifen, meine Finger und einen Vibrator zu benutzen, anstatt meine Ansprüche herabzuschrauben, damit meine Bedürfnisse erfüllt werden, und den Kerl dann am Morgen vor die Tür zu setzen.
„Ich leite alles in die Wege“, verspreche ich Janette, die stehengeblieben ist und sich mit der Hüfte an meinen Schreibtisch lehnt.
Das ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass sie langsam herunterfährt. Wenn sie innehält, um Konversation zu betreiben, weiß ich, dass sie bald nach Hause fahren wird.
„Nächste Woche kommen potenzielle Klienten aus Madison vorbei. Wir müssen sie zum Essen ausführen – ihnen zeigen, was an Chicago besonders ist. Irgendeine Idee, wohin wir mit ihnen gehen könnten?“
„Was immer gut ist, ist eins dieser Wolkenkratzerrestaurants, von denen man einen Ausblick über die ganze Stadt hat.“
Janette rümpft die Nase. „Zu steif. Sie sind jung. Skate3 – drei Skateboarder, die zu YouTube-Stars geworden sind und mit einem Online-Handel Kapital aus ihrer Popularität schlagen, der mehr als dreihunderttausend pro Monat abwirft. Also muss es irgendwas Lebhaftes und Angesagtes sein. Was ist neu im Nachtleben von Chicago?“
Ich knabbere an meiner Unterlippe herum. „Ich denke darüber nach und stelle eine Liste mit potenziellen Optionen zusammen.“
Janette belohnt mich mit einem Lächeln und einem schnellen Klopfen ihrer manikürten Fingernägel auf meinem Schreibtisch. „Das wäre toll. Ich weiß, dass dir etwas einfallen wird. Du bist jung und bist öfter unterwegs als ich.“
Ich belehre sie nicht eines Besseren, was mein Privatleben angeht. Ich meine, ich hätte liebend gern ein Privatleben. Im College bin ich zusammen mit meiner Mitbewohnerin Shanna hin und wieder feiern gegangen. Aber nach dem Selbstmord meines Vaters habe ich diese Seite von mir mehr oder weniger weggepackt und den Deckel zugemacht.
Derzeit besteht mein Sozialleben aus der Happy Hour jeden Mittwoch, wenn Shanna hinter der Bar steht, und den Besuchen meines kleinen Bruders Zane, wenn wir einmal in der Wochen zum Abendessen ausgehen, allerdings hat er mich in den letzten zwei Wochen immer versetzt. Ich mache mir Sorgen, dass er zu viel feiert. Seine Noten sind im letzten Semester definitiv schlechter geworden.
Die Vorstellung, dass er wie unser Vater endet, raubt mir den Schlaf.
Ich fange an, meinen Schreibtisch aufzuräumen, hoffe, dass ich die Zeichen richtig gedeutet habe und es in Ordnung ist, für heute Feierabend zu machen.
Janette steht auf. „Okay. Ich mache Schluss für heute. Wir sehen uns morgen.“
Ich fahre meinen Computer hinunter und folge ihr aus dem Gebäude, stelle in Gedanken bereits eine Liste mit möglichen Orten zusammen, wo sie mit den jungen Klienten hingehen könnte. Als ich in der Nähe meiner Wohnung aus der Straßenbahn steige, habe ich ein halbes Dutzend Ideen. Ich schreibe mir eine Notiz ins Handy, während ich die paar Straßenblöcke zu meinem Haus zurücklege.
Als ich die Tür zu meiner Wohnung aufdrücke, erblicke ich den langen Körper meines Bruders, der auf meiner Couch liegt. Die Freude, ihn zu sehen, verwandelt sich schnell in Sorge.
„Zane? Was ist los? Bist du krank?“
Es ist nicht vollkommen ungewöhnlich für ihn, hier zu sein. Er kommt manchmal vorbei, um seine Wäsche zu waschen, aber irgendetwas fühlt sich seltsam daran an, dass er an einem Freitagabend hier ist.
Im schummrigen Licht fällt mein Blick auf sein Gesicht und ich schreie erschrocken auf. Er ist verprügelt worden. Sein Gesicht ist geschwollen, kaum wiederzuerkennen.
„Oh mein Gott! Was ist passiert?“
Er stöhnt auf.
„Zane?“ Mit hämmerndem Herzen eile ich zu ihm. „Oh Gott. Soll ich einen Krankenwagen rufen? Wer hat dir das angetan?“
Die Angst, die in mir aufwallt und durch meine Adern schießt, verrät mir, dass ich bereits vermute, was passiert ist. Er steckt in irgendwelchen Schwierigkeiten. Verdammt. Ich hatte befürchtet, dass so etwas passieren würde, aber ich habe mir immer ausgeredet, mir Sorgen zu machen.
„Ich bin ein paar Kerlen in die Fäuste gerannt.“ Zane versucht, sich aufzusetzen, keucht vor Anstrengung.
„Was. Ist. Passiert?“, verlange ich. Ich will die ganze Geschichte. Was auch immer er in den letzten Monaten vor mir verheimlicht hat.
Mein Bruder ist alles, was ich auf dieser Welt habe, und er ist meine Verantwortung. Ich mag nur fünf Jahre älter sein als er, aber nach dem Tod unseres Vaters wurde ich der Vormund meines Bruders und Treuhänderin seines College-Vermögens. Ich sollte mich um ihn kümmern und ich habe ganz eindeutig so was von versagt.
Tränen brennen in meinen Augen. „Zane, sag mir, was hier los ist“, flehe ich.
Er verzieht das Gesicht, als er tief durchatmet. „Ich schulde ein paar Typen Geld“, gesteht er.
„Was für Typen? Drogendealer?“
„Nein.“
Das ist eine kleine Erleichterung. Er hat sich in letzte Zeit so seltsam verhalten, dass ich schon befürchtet hatte, er würde Drogen nehmen.
„Bratwa.“
„Was?“
„Die russische mafiya. Ich bin mit meinen Spielschulden im Rückstand.“
„Fuck, Zane.“
Gottverdammt. Ich wusste es! Ich habe es verdammt noch mal gewusst.
Ich stehe auf und gehe im Zimmer auf und ab. „Wie viel schuldest du ihnen?“
„Mittlerweile vermutlich vierzig Riesen. Sie haben heute den Mustang mitgenommen und gesagt, sie würden den Verkaufspreis von den Schulden abziehen.“
„Das bezweifle ich ernsthaft.“ Kredithaie gewährten notorisch schlechte Konditionen. Sie würden ihm nicht den vollen Wert des Autos anrechnen. „Wer sind diese Typen?“, wiederholte ich, auch wenn er es mir bereits gesagt hatte.
„Russische mafiya.“
„Okay. Und diese vierzig Riesen, ist das bevor oder nachdem sie den Wert deines Autos abgezogen haben?“
„Bevor.“
Ich ging weiter auf und ab. „Wie konnte das passieren?“
„Ich spiele schon seit einer Weile Poker mit ihnen. Ich habe immer hoch gewonnen. Aber … mein Glück hat sich gewendet“, sagt er, als ob das eine Schuld von vierzigtausend bei der russischen Mafia erklären oder entschuldigen würde.
„Dein Glück hat sich gewendet“, wiederhole ich nur fassungslos. „Wann hat sich dein Glück gewendet? Wie lange häufst du diese Schulden schon an? Ich meine, ist das die Summe aus einer Nacht oder –“
„Ein paar Monate. Vor einem Monat haben sie mir verboten, weiter mitzuspielen, weil ich am Untergehen war. Ich bin dabei, einen Plan zu entwerfen, aber –“
Ich lege den Kopf zur Seite. „Und der Plan ist was?“
Zane weicht meinem Blick aus. Zuckt halbherzig mit den Schultern.
„Also hast du nicht wirklich einen Plan?“
„Nein.“
„Und wie viel Zeit haben sie dir gegeben, um die Schulden zu bezahlen?“
Wieder zuckt er mit den Schultern. „Haben sie nicht gesagt. Ich schätze, heute war nur eine Warnung.“
„Eine Warnung.“
Ich gehe in die Küche, wickle einen Eispack in ein Geschirrtuch und bringe ihn Zane. „Ich kann das nicht glauben.“
Er nimmt mir den Eispack ab, legt ihn aber nicht auf sein geschwollenes Gesicht. „Ich weiß.“
„Ich meine, nachdem Dad –“ Meine Stimme bricht.
„Ich weiß.“
Ich kann nichts dagegen tun, die Tränen laufen mir über das Gesicht. Ich schnappe mir den Eispack aus seinen Fingern und halte ihn gegen seinen geschwollenen Wangenknochen, aber er zuckt zurück. „Zane. Ich schaffe das nicht. Das ist einfach zu viel, okay? Ich würde es nicht ertragen, wenn auch dir etwas zustoßen würde.“
„Mir wird nichts zustoßen“, versucht er mich zu beruhigen. „Diese Kerle sind nicht so schlimm. Ich muss nur einen Weg finden, ihnen den Rest des Geldes zu besorgen, und ich werde auch nicht wieder spielen. Okay?“
Ich schniefe. „Wie?“
„Ich weiß es nicht. Gibt es eine Möglichkeit, an das Geld fürs College zu kommen?“
„Nein“, blaffe ich ihn an. Ich wusste, dass er mich danach fragen würde. „Das Geld ist ausschließlich für deine Ausbildung da. Weißt du eigentlich, wie viel Glück du hast, dass Dad dieses Geld nicht angerührt hat?“
„Okay, okay. Ich wollte nur sichergehen.“ Er versucht, aufzustehen, fällt aber stattdessen schwer auf die Knie.
„Fuck, Zane!“ Ich stürze vor und schnappe mir seinen Arm. „Komm. Ich bringe dich ins Krankenhaus.“