Kapitel 2
Zwanzig Minuten später fuhr ich mit meinem Van und Jack auf dem Beifahrersitz auf den Parkplatz der Notaufnahme. Es handelte sich um den Geschäftswagen voller Werkzeuge und Rohre. „Pete’s Klempnerei“ stand in großer schwarzer Kursivschrift auf der Wagenseite. Ich hatte mir Kleider übergeworfen – Jeans, Rollkragenshirt und einen Pullover, dicken Wintermantel, Stiefel und Handschuhe. Meine nassen Haare hatte ich unter eine dicke Wollmütze gestopft, damit sie nicht gefroren.
Wir hatten seit dem Busenblitzer nicht viel gesprochen. Ich schwieg, weil ich zu wütend war, um irgendetwas zu sagen. Ich wollte ihm am liebsten nochmal eins über den Schädel ziehen, weil er sich so widerlich verhielt. Es war mir auch peinlich, dass meine Kleidung mitten in meinem Angriff so versagt hatte, aber den Einbrecher in Schach zu halten, war meine oberste Priorität gewesen. Ich hatte viele, viele Male darüber nachgedacht, mich vor Jack nackt auszuziehen, aber dieser Busenblitzer war nicht das gewesen, was ich im Sinn gehabt hatte. Jetzt war ich züchtig von Kopf bis Fuß bekleidet. Nur die untere Hälfte meines Gesichtes zeigte Haut.
Es war auch viel zu kalt, um mehr Haut zu zeigen. Es war Januar, es war Montana und es war eiskalt. Ich war an monatelangen Schnee gewöhnt. Ich hatte die richtigen Kleider, um das zu beweisen. Ich wusste, in Bezug auf den Winter keine Dummheiten zu machen und war dementsprechend warm eingepackt. Jack andererseits sah aus, als wäre er gerade erst von Florida hierhergekommen. Was er höchstwahrscheinlich auch getan hatte. Seine Schuhe konnten nicht einmal einen Zentimeter Schnee abwehren, seine Jacke würde man in Bozeman im Mai tragen, nicht bei Temperaturen, die unter null Grad Fahrenheit lagen. Die Mütze auf seinem Kopf war das einzige Passende, das er trug. Er hatte sie wahrscheinlich gekauft, als er in die Stadt gekommen war. So eine Mütze wurde in Miami nicht einmal verkauft.
Jack redete auch nicht. Er presste sein Kiefer so fest zusammen, dass seine Zähne noch zu Diamanten werden würden, während er aus der Windschutzscheibe starrte. Einen Arm hatte er vor der Brust verschränkt, seine Hand steckte unter seiner Achsel. Der andere Arm hielt eine Packung gefrorener Erbsen an seinen Hinterkopf. Er sah wütend aus – und als würde er frieren. Er schwieg und war eingeschnappt, weil ich ihn bewusstlos geschlagen hatte.
Ich seufzte, als ich in eine Parklücke fuhr und den Motor ausschaltete. „Okay. Ich werde das Anständige tun und als erste reden.“
„Das Anständige?“, fragte er. Seine Stimme war tiefer als in meiner Erinnerung, aber der Jack Reid meiner Erinnerung war ja auch ein schlaksiger Teenager.
Ich holte tief Luft. „Ich habe dich seit über zehn Jahren nicht gesehen und das Erste, das du zu mir sagst, ist ‘hübscher Busen‘. Also, ja, das Anständige.“ Es lag eine leichte Schärfe in meiner Stimme.
Er richtete seinen Blick auf mich, wobei seine Augen kurz zu meinen ‘hübschen Busen‘ fielen. Mein Herz spielte verrückt. Sogar wütend, unter Schmerzen und frierend war er so…Jack. In der Highschool hatte ich Nacht um Nacht über ihn nachgedacht und den einen – und einzigen – Kuss, den wir miteinander geteilt hatten, in meinen Gedanken Revue passieren lassen. Ich musste zugeben, die jüngere Version meiner Selbst hatte einen außergewöhnlich guten Geschmack gehabt.
Ich war einigermaßen attraktiv. Zumindest hatten das die Kerle, mit denen ich bisher in meinem Leben ausgegangen war, gedacht. Ich hatte schnurrgerade schwarze Haare, die über meine Schultern fielen, braune Augen. Ich war weder klein noch groß. Mit eins fünfundsechzig lag ich genau in der Mitte. Mein Gewicht passte verhältnismäßig zu meiner Größe – die Worte meines Arztes. Jack schien zu denken, meine Brüste wären einen zweiten Blick wert, sogar bei all den Kleiderschichten, die darüber lagen. Ich musste irgendwie attraktiv für ihn sein, da ich wie meine Schwester aussah – meine eineiige Zwillingsschwester – mit der er geschlafen hatte. Es musste eine Anziehung geben. Andererseits, wenn wir jemals im Bett landen würden, könnte das für ihn tatsächlich ein antiklimatisches Erlebnis sein. Kein erfreulicher Gedanke. Niemand wollte, dass das erste Mal mit einem Mann ein ‘das hatte ich schon mal‘-Erlebnis war, auch wenn er es nicht wirklich gehabt hatte. Nicht mit mir.
„Das Anständige?“, wiederholte er. „Du hast mich wie eine Geisteskranke auf den Kopf geschlagen.“ Seine Stimme klingt, als wäre er genauso wütend wie ich.
Ich holte nochmal tief Luft und begann, bis zehn zu zählen. Ich schaffte es bis sechs. „Was ich nicht getan hätte, wenn du nicht einfach in Violets Haus marschiert wärst. Erklär mir mal, warum du dort warst und woher du den Schlüssel hattest.“
„Mein Onkel renoviert seine Küche, wovon er mir bereits seit Wochen berichtet. Gestern hat er angerufen und mir erzählt, dass er krank sei“, erklärte Jack mit verbitterter Stimme. „Er bräuchte meine Hilfe, um das Projekt beenden zu können. Sagte, er sei zu schwach, um es zu überwachen. Ich bin heute Morgen von Miami hierhergeflogen, hab ein Taxi vom Flughafen genommen und als ich zu seinem Haus kam, hing dort eine Notiz, dass er für den Winter in Arizona ist. Darüber hinaus sind Strom und Wasser ausgeschaltet, weil die hintere Hälfte des Hauses demontiert worden ist.“
Wow. Jacks Onkel musste ihn aus irgendeinem Grund wirklich in Bozeman zurückhaben wollen. So zu lügen, war ein dickes Ding. Ich wäre auch wütend.
„Er hat eine Adresse dagelassen, wo ich unterkommen kann, bis dieser Teil der Renovierungsarbeiten abgeschlossen ist. So bin ich in deiner Bude gelandet. Nachdem ich zehn Blocks gelaufen bin“, er knurrt und verrückt die gefrorenen Erbsen, „und er hatte gesagt, der Schlüssel würde unter dem Fußabstreifer liegen.“
Nach seiner kurzen Zusammenfassung der jüngsten Ereignisse gab es eine Menge, über die ich nachdenken musste. Erstens hatte er sich Sorgen um seinen Onkel gemacht. So große Sorgen, dass er zurückgekommen war, über zweitausend Meilen, nach zehn Jahren. Das sagte etwas aus, da er seit dem Schulabschluss nicht einmal in die Stadt zurückgekehrt war.
Zweitens war ich diejenige, die ihn davon abhielt, im Haus seines Onkels zu wohnen. Da ich die Klempnerin war, die sein Onkel für den Job engagiert hatte, hatte ich Jack von dem fließenden Wasser abgeschnitten. Wenn er davon erfuhr, würde er wahrscheinlich einen Schlaganfall erleiden. Daran zweifelte ich nicht. Das würde ich ihm jetzt auf keinen Fall erzählen. Ein medizinisches Problem nach dem anderen.
Mein dritter Gedanke war, dass Violet ihren Ersatzschlüssel an einer anderen Stelle verstecken musste.
Und der letzte, nun, mein letzter Gedanke brauchte erst noch Bestätigung.
Da der Motor ausgeschaltet war, war auch die Wärme aus dem Van verschwunden und mein Atem schwebte als weißes Wölkchen vor mir. Ich drehte mich auf meinem Sitz, lehnte einen Arm gegen das Lenkrad und fragte: „Du weißt nicht, wer ich bin, oder?“
Er wandte mir seinen Kopf zu und sah mir in die Augen. „Violet. Veronica.“ Er schloss seine Augen für eine Sekunde und schüttelte langsam den Kopf. „Ich konnte euch nie unterscheiden.“
Genau. Er konnte meinen eineiigen Zwilling und mich nie auseinanderhalten. Jack und ich hatten in unserem Abschlussjahr Zeit miteinander verbracht. Jede Menge Zeit. Dann hatte er den Mut aufgebracht, mich um ein richtiges Date zu bitten, nicht nur Reden in den Gängen oder Partnerarbeit im Biounterricht.
Wie sich herausstellte, hatte er nicht mich daten wollen. Er hatte Violet gewollt. Damals hatte ich ihm natürlich den Kopf zurechtgerückt. Hatte ihn direkt in Violets Arme getrieben, mit der er beim ersten Date geschlafen hatte. Nicht, dass ich verbittert war oder so. Nöö.
„Nun, ich werde es dir nicht verraten“, grummelte ich und klang dabei wie eine Siebtklässlerin. So viel zum Thema sich anständig verhalten.
Auf keinen Fall würde ich es ihm leicht machen. Er konnte allein rausfinden, welche Schwester ich war. Aber ich fühlte mich ein bisschen schlecht, dass ich ihn K.O. geschlagen hatte. Nur ein winzig kleines bisschen. Genug, um das Häufchen Elend zur Notaufnahme zu schleifen. „Lass uns gehen, bevor wir zu Tode erfrieren.“
Jack reichte mir die Tüte Erbsen. „Ich bin bereits erfroren.“ Er hob ein Stück Plastikrohr vom Boden hoch. „Vielleicht wurde mein Gehirn doch etwas zu hart getroffen, denn ich könnte schwören, wir befinden uns in einem Klempner-Van.“ Er ließ das Stück mit einem Klong fallen. „Auf keinen Fall kommst du mit mir, wer auch immer du bist. Ich werde erklären müssen, warum meine Körpertemperatur an Unterkühlung grenzt. Ich werde auch erklären müssen, dass ich nicht weiß, wer mir das angetan hat und ich werde ein CT über mich ergehen lassen müssen. Die werden mir nie glauben, dass es zwei von euch gibt. Und wenn das noch nicht genug ist, muss ich dem Arzt noch erzählen, dass ich damit K.O. geschlagen wurde.“ Er hob die Stücke des Paddles hoch, das er mitgenommen hatte. „Was zur Hölle bist du, eine Domina oder so?“
Ich sah ihn bitterböse an und riss ihm die Stücke aus der Hand. „Ja, oder so.“
Er öffnete den Gurt und die Tür. Anschließend sah er zu mir zurück und zwinkerte. „Kinky. Das gefällt mir.“
Angewidert klappte mir der Mund auf. „Du bist so ein – “
„Also, abholen? Ich schätze, du kommst später vorbei und holst mich ab?“
Ich biss auf meine Lippe, hielt zurück, was ich ihm wirklich an den Kopf werfen wollte, zählte bis zehn. „Ich muss zum Goldilocks und dann werde ich – “
„Goldilocks?“ Er lächelte breit. „Wie ich sagte, kinky.“
Wenn Rauch aus meinen Ohren kommen könnte, wäre es hier und jetzt passiert. Ich umklammerte das Lenkrad, um mich davon abzuhalten, ihn wegen seinem Kommentar nochmal zu schlagen. Nur weil ich halbtags in einem Erotikladen arbeitete, bedeutete das nicht, dass ich auf solche…Dinge stand.
„Egal, vergiss es. Du musst nicht herkommen. Wer weiß, wie lange ich bei so einer Verletzung dortbleiben muss.“ Seine Worte troffen vor Sarkasmus. „Ich habe den Schlüssel, damit ich später ins Haus komme. Danke fürs Herbringen“, fügte er hinzu, dann schlug er die Tür zu und stolzierte durch die automatischen Türen der Notaufnahme.