Kapitel 2: Ablehnung

2353 Words
Am nächsten Morgen klopfte Ashley früh an Laurels Tür. Es war noch nicht einmal fünf Uhr, als Laurel mühsam die Augen öffnete und sich mit einem leichten Hinken vom Dachboden hinunter begab. Ihr Körper war so oft gebrochen und geflickt worden, dass er manchmal nach einer Nacht Schlaf einfach nicht richtig funktionierte. Heute war es ihr Bein, das nicht gehorchen wollte. „Mach dich bereit zum Aufbruch!“ rief Ashley ihr direkt ins Gesicht. Laurel wusch sich hastig, zog ein frisches T-Shirt und Jeans an, griff nach ihrer Tasche und folgte Ashley nach draußen. Es war nicht das erste Mal, dass sie Ashley begleiten musste. Immer wenn Ashley jemanden brauchte, der ihre Einkäufe trug oder sie begleitete, war Laurel die Auserwählte. Doch diesmal sollte sie als richtige Assistentin fungieren. Kurz bevor sie das Haus verließen, zog Ana sie zur Seite. Ihre langen, scharfen Finger gruben sich in Laurels Gesicht, und ein gefährlicher Funke blitzte in ihren Augen. „Pass auf, dass Ashley nichts passiert. Wenn sie auch nur einen Kratzer abbekommt, werde ich dich eigenhändig häuten, und nicht einmal dein Vater wird dich wiedererkennen!“ Anas Drohung war leise, aber tödlich ernst. Laurel wusste das. Ihr Vater würde sie wahrscheinlich ohnehin nicht wiedererkennen, selbst ohne Häutung. Schließlich hatte er sich seit Jahren nicht mehr um sie gekümmert. Trotz dieser Gedanken nickte Laurel gehorsam, denn die Angst vor dem Tod war stärker als alles andere. Sie folgte Ashley zum Auto. Max würde sie zum Treffpunkt fahren, von wo aus Ashleys Freunde sie später nach Hause bringen würden. Erst jetzt erfuhr Laurel, worum es bei diesem ganzen Aufhebens ging. Der Ort, an dem sie den Tag verbringen würden, lag in den Außenbezirken, weit weg von neugierigen Blicken. Sie würden erst spät in der Nacht zurückkehren. Laurel wurde unwohl bei dem Gedanken, den Tag mit Ashleys Freunden zu verbringen. Sie waren Ashleys Freunde, nicht ihre, und sie würden kaum Rücksicht auf sie nehmen. Als Max sie absetzte, hielt Laurel ihre Tasche fest umklammert und versuchte sich einzureden, dass nichts, was heute geschehen würde, schlimmer sein könnte als Anas Schläge. Zumindest konnte sie weglaufen oder sich irgendwie wehren, wenn sie geärgert wurde. Doch schon bald erkannte Laurel, wie naiv dieser Gedanke gewesen war. Ashley hatte drei Freunde, die bereits warteten: zwei junge Männer und eine Frau, die offensichtlich enge Freunde waren. Laurel hatte nicht die Absicht, ihre Namen zu erfahren oder sich mit ihnen zu unterhalten. Sie war viel zu beschäftigt damit, Ashleys komfortables Picknick vorzubereiten und alles zu arrangieren. So ging es den ganzen Tag weiter, bis die Sonne hinter dem Horizont verschwand und die Dunkelheit einbrach. Da tauchte plötzlich ein ungebetener Gast auf, der die Stimmung kippte. Laurel war damit beschäftigt, Essen in einer abgelegenen Ecke des verlassenen Parks zu grillen, und konnte nur die aufgeregten Rufe der Gruppe hören, während der Rauch ihre Lungen füllte. Grillen war nichts für schwache Nerven. Zunächst schenkte Laurel dem Trubel keine Beachtung. Aus ihrer Position konnte sie nur erkennen, dass ein weiterer junger Mann angekommen war, der nacheinander die anderen herzlich umarmte. Ashley hing dann sofort an ihm. Ein Gedanke blitzte durch Laurels Kopf, den sie jedoch schnell verwarf. Als die Gruppe am Lagerfeuer zu singen begann, ging Laurel hinüber, um ihnen frisch gegrillte Spieße zu servieren. Ihre Blutergüsse waren gut unter dem dunklen langärmeligen T-Shirt verborgen, und ihre schüchternen Bewegungen gingen in der Dunkelheit fast unter. Es war schwer zu sehen, wohin sie ging, da sie ihr nicht einmal eine Taschenlampe gegeben hatten. Als sie sich der Gruppe näherte, erhaschte Laurel einen Blick auf den Neuankömmling und hielt für einen Moment den Atem an. Er war wirklich attraktiv. Vielleicht war es der Rauch, der ihre Sinne benebelte, aber Laurel konnte seinen fruchtigen Duft deutlich wahrnehmen. Für einen Moment war sie abgelenkt und übersah den Stein vor ihr. Sie stolperte. Das Tablett mit den Spießen fiel ins Gras und klirrte auf den Boden. Das Essen war überall verstreut, und Laurel schloss erschrocken die Augen. Ihr Körper schmerzte aufgrund der nicht vollständig verheilten Wunden, die durch den Sturz wieder aufrissen. Es war schwer, sich wieder aufzurichten, doch bevor sie es überhaupt versuchen konnte, spürte sie, wie ein Fuß hart auf ihrer ausgestreckten Hand landete und darauf drückte. Laurel schrie vor Schmerz auf. „Unfähig wie immer!“ rief Ashley wütend. „Du hattest nur eine Aufgabe, und selbst die hast du vermasselt!“ Laurel wollte etwas erwidern, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Der fruchtige Duft kam immer näher, und die Gruppe war einen Moment zu spät, um Ashley davon abzuhalten. Sie umkreisten Laurel und beobachteten sie mit einem Ausdruck von Amüsement, als wäre sie nur eine weitere Unterhaltung für den Abend. Als der junge Mann mit dem fruchtigen Duft näher kam, trübte sich Laurels Blick. Eine böse Vorahnung beschlich sie. Nein... Laurel hob ihren Kopf und sah ihn an. Verzweiflung spiegelte sich in ihren Augen, als Tränen über ihr Gesicht liefen. Ob aus Schmerz oder Hoffnung, konnte sie nicht sagen. Der junge Mann schien das zu spüren, doch seine Reaktion war das Gegenteil von Laurels Erwartungen. Der Ekel in seinen Augen war unverkennbar, und das höhnische Grinsen auf seinen Lippen war noch verächtlicher als das von Ashley. „Was glotzt du so?!“ Ashley bemerkte, wie Laurel Justin anstarrte, und trat ihr hart in den Arm. Sie packte Laurel an den Haaren, zog ihren Kopf hoch und drückte ihn dann zurück ins Gras, rieb dabei ihre Wangen über die harten Kieselsteine. Die scharfen Kanten rissen ihre Haut auf, und Blut trat hervor. Laurel weinte vor Schmerzen, doch die Tränen verschlimmerten die Wunde nur noch. Sie warf einen weiteren verzweifelten Blick auf den jungen Mann, in der Hoffnung, gerettet zu werden. „Ashley, warte!“ Justin sprach schließlich. Laurels Augen leuchteten hoffnungsvoll auf. Endlich… „Willst du sie umbringen?“ Justin runzelte die Stirn und dachte an die möglichen Konsequenzen. „Wenn ja, dann lass mich vorher noch etwas tun.“ Laurels Herz setzte einen Schlag aus, doch nicht vor Aufregung, sondern vor Entsetzen. Es schien nicht so, als würde er ihr helfen … Ashley war sichtlich unzufrieden. „Was gibt es da zu überlegen? Ich kann sie nicht töten, aber ich kann sie so hart verprügeln, dass sie das Bewusstsein verliert“, sagte Ashley kalt und trat Laurel hart in die Rippen. „Sie wird nichts tun können. Was hast du vor?“ Justin hockte sich neben Laurel. Sie lag ausgestreckt auf dem Boden, Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie sah erbärmlich aus, doch niemand zeigte auch nur einen Funken Mitgefühl. Sie war nur ein Spielzeug, über das Ashley und ihre Freunde lachten, wann immer ihnen danach war. „Lass mich sie zuerst ablehnen...“ sagte Justin, und die Gruppe keuchte überrascht auf. Ashley war so schockiert, dass ihre Augen fast aus den Höhlen sprangen. Sie packte Justins Jackenkragen und fragte: „Was meinst du?!“ Justin seufzte und berührte sanft ihre Finger. „Ich meine, dass dieses Mädchen unglücklicherweise meine Gefährtin ist. Was immer du mit ihr tun willst, mach es später. Aber lass mich sie zuerst ablehnen. Ich ertrage diese Last keine Sekunde länger.“ „Wie heißt sie?“ Laurel drückte ihre Nase gegen den Boden. Der Geruch von zerdrücktem Gras, Erde, Blut und Tränen überlagerte den frischen Duft, den sie zuvor wahrgenommen hatte. Sie hätte es wissen müssen. Warum sollte jemand sie so akzeptieren, wie sie war? Laurel war ein gebrochenes, nutzloses Ding. Niemand bei klarem Verstand würde sie wollen. Und ganz sicher nicht jemand, den Ashley kannte. Laurel hatte längst bemerkt, dass Ashley mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Justin hegte. Nicht nur würde sie abgelehnt werden, sondern Ashley würde sie danach auch noch mehr schikanieren. Justins nächste Worte trafen sie wie ein Pfeil direkt ins Herz. „Ich, Justin Aguera, lehne dich, Laurel Hopewell, als meine Gefährtin ab.“ Es war so einfach. Dieser Satz wurde ohne Zögern ausgesprochen. Die Worte trugen so viel Gewicht und Schmerz, dass es sich anfühlte, als würde Laurels Herz in Stücke gerissen. Sie griff mit der noch funktionierenden Hand an ihre Brust und krümmte sich vor Schmerz. Kein Laut kam über ihre Lippen. Ihr Körper war mit Dreck bedeckt, aber niemand half ihr auf. Sie verspotteten sie nur und gingen einer nach dem anderen weg. Ashley war die Letzte, die ging, und sie trat Laurel zum Abschied noch einmal hart in die Rippen und stieß einen wütenden Fluch aus. Das Lagerfeuer brannte nur wenige Meter entfernt. Solange sie laut genug sangen, um Laurels schmerzhafte Keuchen zu übertönen, und ihr den Rücken zuwandten, konnten sie vergessen, dass sie Laurel alleine in ihrem Schmerz zurückgelassen hatten. Laurel war den Schmerz gewohnt, aber das bedeutete nicht, dass sie keine Angst davor hatte. Es tat immer noch genauso weh wie beim ersten Mal, trotz all der Jahre. Und der Schmerz, abgelehnt zu werden, war ungleich größer. In solchen Momenten war es unmöglich, das Zeitgefühl zu behalten. Laurel erinnerte sich nur daran, dass der Schmerz langsam nachließ und sie schließlich vor Erschöpfung die Augen schloss, als die Morgendämmerung den Himmel in ein zartes Orange tauchte. Kaum hatte sie sich für ein paar Minuten entspannen können, spürte sie einen Tritt in ihren Rücken. Ihr ganzer Körper zuckte schmerzlich zusammen. „Pack alles zusammen! Wir fahren ab!“ Ashley trat sie erneut unbarmherzig und befahl ihr, sich zu beeilen. Mit einem Schlag kehrten all die Erinnerungen der letzten Nacht in Laurels Kopf zurück: Der Moment, als sie Justin zum ersten Mal sah und dachte, wie gutaussehend er war, bis zu dem Moment, als er sie kalt ablehnte. Zwischen diesen beiden Momenten lagen kaum dreißig Minuten. Laurel dachte bitter, dass sie wahrscheinlich einen Weltrekord darin aufgestellt hatte, innerhalb einer halben Stunde nach dem Treffen mit ihrem Gefährten abgelehnt zu werden. Obwohl sie wusste, dass sie irgendwann abgelehnt werden würde, hatte sie sich nie vorgestellt, dass es so schmerzhaft sein würde. Mit schmerzenden Gliedern und zitternden Händen hob Laurel Stück für Stück die verstreuten Dinge auf und legte sie ins Auto. Ihre Wange war aufgerieben, und getrocknetes Blut vermischte sich mit Schmutz. Aber der Schmerz der Ablehnung überschattete alles andere; ihre körperlichen Wunden schienen plötzlich unbedeutend. In diesem Moment konnte es Laurel nicht einmal kümmern. Was brachte es, diese Wunden zu heilen, wenn ihr Herz bereits in tausend Stücke zersplittert war? Trotz ihres verletzten Zustands konnte Laurel es nicht vermeiden, einen Blick auf Justin zu werfen. Er lachte und scherzte mit Ashley und den anderen, als wäre nichts passiert. Als hätte er ihr nicht gerade den Schmerz von tausend Schwertern zugefügt. Der Schmerz der vergangenen Nacht durchzog noch immer ihren ganzen Körper. Am stärksten spürte sie ihn in ihrem Herzen, von wo aus er sich bis in jede Faser ihres Seins ausbreitete. Selbstverachtung stieg in ihr auf, als sie erkannte, dass das Einzige, worauf sie je gehofft hatte, für immer aus ihrem Leben verschwunden war. Sie hatte nicht erwartet, dass ihr Gefährte glücklich sein würde, sie zu haben. Vielleicht hatte sie sogar damit gerechnet, abgelehnt zu werden, aber niemals so. Nicht auf diese Weise. Es zerschmetterte einen Teil von ihr, der nie wieder heilen würde. Und ihre einzige Hoffnung, das schreckliche Leben mit ihrer Stiefmutter und Ashley hinter sich zu lassen, war damit ebenfalls zunichte gemacht. Laurel wusste selbst nicht, wie sie es schaffte, alles aufzuräumen und in den großen Kofferraum des Autos zu packen. Es war mehr ein Minivan als ein Auto. Laurel wurde im hinteren Teil des Wagens zusammen mit den verstreuten Dingen eingepfercht. Sie saß zusammengesunken da und nutzte die letzten Reste ihrer Kraft, um sich irgendwie selbst zu heilen. Schließlich musste sie nach Hause zurückkehren und ihr elendes Leben als Dienerin für Ana fortsetzen. Als sie auf ihre aufgeriebenen Finger starrte und das Brennen auf ihrer Wange wieder spürte, kam Laurel zu dem bitteren Schluss, dass ihr Leben von diesem Punkt an niemals besser werden würde. Das Einzige, worauf sie gehofft hatte, das ihr Leben zum Besseren wenden könnte, war in ihr Leben getreten und innerhalb weniger Stunden wieder verschwunden. Es war lächerlich, wie sehr Laurel sich bemühte, sich einzureden, dass es nicht so schlimm war. Niemand war so erbärmlich wie sie. Und dennoch musste Laurel weiterleben. Sie hatte überlebt, obwohl es ihre Mutter das Leben gekostet hatte. Sie konnte jetzt nicht aufgeben, auch wenn ihr Leben der Hölle gleichkam. Indem sie ihre Schultern rieb, bis sie warm wurden, schloss Laurel die Augen und versuchte, die Realität ihres Lebens zu akzeptieren. Zumindest konnte es jetzt nicht schlimmer werden, als es bereits war. Nichts anderes konnte sie noch weiter hinunterziehen. Als der Minivan in die belebte Stadt zurückfuhr, wurden die anderen einer nach dem anderen abgesetzt. Der Van gehörte Justin, da er sich zuletzt der Gruppe angeschlossen hatte. Am Ende blieben nur noch Ashley und Laurel übrig. Justin fuhr bis zu ihrem Haus und half Ashley, aus dem Beifahrersitz zu steigen. Laurel öffnete die Tür und stieg aus, um Ashleys Sachen langsam herauszunehmen, bevor sie sich beschweren konnte. „Es war schön, mit euch abzuhängen. Ich bin so froh, dass Mama mir die Erlaubnis gegeben hat. Ich werde jetzt häufiger an solchen Ausflügen teilnehmen können!“ sagte Ashley begeistert und umarmte Justin stürmisch. Laurels Finger krallten sich in die Tasche. Sie stand hinter dem Kofferraum des Autos, außer Sichtweite, doch sie hatte ein klares Bild davon, was geschah. Laurel wusste, dass Ashley sie verabscheute und dass sie Justin mochte. Es war mehr als offensichtlich, an der Art und Weise, wie sie sich in seiner Nähe verhielt. Laurel war nicht in Justin verliebt, deshalb tat es auf diese Weise nicht weh. Aber es stach trotzdem, weil Justin die einzige Person war, mit der sie ein Band teilte, und weil er dieses Band so gnadenlos zerschnitt. Das war es, was wehtat. Sie war nicht einmal jemanden wert, den man beachten sollte. Nur ein Stück wertloser Müll, mit dem sie machen konnten, was sie wollten. Mit dem Gedanken, nicht länger zuzusehen, wie sie so miteinander umgingen, senkte Laurel den Kopf und schleppte Ashleys Taschen zurück ins Haus. Hinter ihr drehte Ashley ihren Kopf und starrte Laurels gebeugten Rücken an. Sie schnaufte verächtlich und streckte die Hand aus, um Justin erneut zu umarmen.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD