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MÜNCHEN, DEUTSCHLAND, IN DER GEGENWART
Anja Berghoff schaute von ihrem Schreibtisch in der Bibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität aus dem Fenster und sah blauen Himmel. Es war das, was man in München einen warmen Sommertag nennt, und es hätte Anja gefallen, draussen in einem Park zu sitzen. Doch Anja wünschte sich, noch weiter weg zu sein. In Namibia.
In diesem Land war sie geboren. Doch 1990 waren ihre Eltern aus Angst vor der Vergeltung durch die neue Regierung der Südwestafrikanischen Volksorganisation geflohen. Nach den von den Vereinten Nationen überwachten Wahlen beim Übergang zur Mehrheitsregierung, hatte sich die SWAPO als grossmütig erwiesen. Dennoch weigerte sich ihr Vater, der namibisch-deutscher Abstammung war, zurückzukehren und starb mit der Behauptung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Anja sah das anders. Im Alter von zehn Jahren war sie aus Afrika verschleppt worden. Sie war gerade alt genug, um den Verlust von Freunden zu betrauern und die Schönheit des trockenen, aber bezaubernden Landes zu schätzen. Sie wäre lieber in Namibia erwachsen geworden. Deutschland war das Gegenteil von ihrem Geburtsland: kalt, nass, grün und berechenbar. Zu Beginn hatte sie es gehasst.
Natürlich hatte sie mit der Zeit gelernt, ihr europäisches Leben zu schätzen, aber so beeindruckend die Schlösser, Flüsse, Schneefelder und das satte Gras Deutschlands auch waren, sie hielten dem Vergleich mit Namibia nicht stand. Dafür fehlte ihr zu viel: Der afrikanische Nachthimmel voller Sterne, der Anblick eines Gepards, der sich durch das trockene, goldene Gras an seine Beute heranpirscht oder die gespensterhafte Erscheinung eines vom weissen Sand bestäubten Elefanten, der aus der Dunkelheit auf der geheimnisvollen Leinwand eines beleuchteten Wasserlochs der Etosha auftaucht.
Anja liebte die Landschaften und die Tierwelt Namibias und nur die Geschichte des Landes faszinierte sie stärker. Sie forschte für ihren Magisterabschluss in Geschichte und schrieb ihre Abschlussarbeit über die Ursprünge einer weiteren Natursehenswürdigkeit Namibias: Die Wildpferde der Namib-Wüste, die manchmal auch als Geisterpferde bezeichnet wurden.
Durch die Verkettung seltsamer Zufälle stiess sie auf ehemals streng vertrauliche Geheimdienstdokumente, die sie elektronisch von den nationalen Archiven erhielt. Es handelte sich dabei um Kopien von Briefen einer zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Südafrika stationierten Spionin. Interessant für Anja war, dass die Agentin, Claire Martin, genau wie sie selbst in der damaligen kaiserlichen Kolonie ›Deutsch-Südwestafrika‹, also dem heutigen Namibia, gelebt hatte.
Claire Martins Lebensgeschichte las sich wie das Drehbuch eines Films. Sie war als Tochter eines irischen Vaters und einer hochgeborenen preussischen Mutter in Deutschland geboren. Ihr Vater war aus Irland geflohen, nachdem er sich 1867 am Aufstand der Fenianer gegen die Briten beteiligte. Danach diente er auf der preussischen Seite im Deutsch-Französischen Krieg. Mit der Witwe eines preussischen Kameraden verheiratet, zog er mit seiner Familie nach Amerika, wo er auf den Goldfeldern in Kalifornien sein Glück zu machen versuchte. Als dies nicht gelang brachte er seine Frau und seine Tochter zuerst nach Südafrika und in den 1890er Jahren über die Grenze nach Deutsch-Südwestafrika. Dort heiratete Claire den Besitzer einer deutschen Reederei, der aber bankrottging und sich das Leben nahm.
Anja interessierte sich besonders für Claire Martins späteres Leben als Pferdezüchterin in Südwestafrika. Sie und ihr zweiter Mann, Peter Kohl, besassen dort um 1906 mehrere Farmen und ein Pferdegestüt. Doch Claires frühe Berichte über ihre Zeit als Spionin für den Kaiser im Jahr 1902 boten eine faszinierende Lektüre. Als Frau, die fliessend Deutsch und Englisch sprach, musste sie eine ungewöhnliche und äusserst wertvolle Agentin gewesen sein. In Claires Briefen fand sich kein direkter Bezug zu Anjas Nachforschungen über den Ursprung der Wüstenpferde. Dennoch setzte sich in Anja die Theorie fest, dass während Claires Zeit als Spionin in Südafrika etwas passiert war, das ihr späteres Leben in der deutschen Kolonie jenseits der Grenze stark beeinflusste.
Anja sah, dass Carla, die Bibliothekarin, aus ihrer Mittagspause zurückgekehrt war. Sie liess ihre Notizen und ihren Laptop zurück, ging zur Ausleihtheke und fragte, ob die von ihr bestellten Bücher zurückgegeben wurden und nun erhältlich seien.
»Ja, Anja, ich habe sie hier für Sie.« Carla griff unter den Tresen und schob ihr die Bücher zu. »Was sagten Sie, ist das Thema ihrer Recherche?«
»Die Wüstenpferde von Namibia«, erklärte Anja. »Die meisten Leute glauben, dass sie von Militärpferden abstammen, die während des Ersten Weltkriegs entkamen oder freigelassen wurden. Ich arbeite an einer neuen Theorie, die sagt, dass die Kerngruppe der Pferde, von denen die heutigen Tiere abstammen, schon einige Zeit vorher in die Wüste kam. Mehr verrate ich Ihnen nicht dazu, denn das ist sehr heikel.«
Carla rollte die Augen. »Kein Grund so kratzbürstig zu sein.«
Anja runzelte die Stirn. Sie wurde nicht zum ersten Mal mit diesem Wort beschrieben. Anjas Mutter sagte immer, sie brauche mehr Freunde und Carla war nett und hilfsbereit.
Sieöffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, als ein junger Mann an den Tresen trat und um Unterstützung bat. Bestimmt auch ein Student, so wie seine zerrissenen Jeans und sein olivgrüner Bundeswehrparka aussahen. Carla wandte sich von Anja ab, nahm einen Stapel Ausdrucke in die Hand und reichte sie ihm.
Anja bedankte sich bei der Bibliothekarin, nahm die Bücher und ging zu ihrem Schreibtisch zurück, wo sie den nächsten Brief auswählte. Er enthielt einen weiteren Bericht aus den letzten Monaten des Zweiten Burenkrieges, datiert 1902. In den Briefen wurde immer deutlicher, dass Claire Martin nicht nur in Südafrika war, um für Deutschland Informationen über den Verlauf des Krieges zu sammeln – was an sich schon faszinierend war. Zusätzlich schien sie eine Art verdeckten Waffenhandel zwischen Deutschland und den Buren zu ermöglichen. Dies bot die einzige Möglichkeit, in diesem Krieg, in dem die Briten die Oberhand hatten, das Blatt in letzter Minute zu wenden.
Der Brief war, wie die anderen, an den deutschen Marine-Nachrichtendienst adressiert und über die kaiserliche Botschaft im neutralen Portugiesisch-Ostafrika gesendet worden.
Am vierzehnten des Monats traf ich mich im Flachland des östlichen Teils von Transvaal in einem verlassenen Handelsposten am Ufer des Sabie-Flusses mit Kommandant Nathaniel Belvedere. Er ist der Kommandeur eines Bataillons von Amerikanern, die für die Buren gegen die Briten kämpfen. Sie nennen sich die ›George Washington Volunteers‹. Viele von ihnen sind irischer Abstammung und hegen einen tiefsitzenden Hass gegen die Briten.
Belvedere und die Truppe seiner Amerikaner gehörten zu den Buren, die Präsident Paul Krüger bewachten, als er 1900 Pretoria und Südafrika mit dem Zug verliess. Belvedere, ehemaliger leitender Angestellter einer Goldminengesellschaft in Transvaal, war ein enger Vertrauter des Präsidenten und mein Ansprechpartner für den Waffenverkauf. Nachdem wir uns kennengelernt hatten, teilte er mir mit, dass er das Geld nicht bei sich habe, aber wisse, wo sich genügend davon befinde, um die Transaktion abzuschliessen.
Ich muss noch in Erfahrung bringen, wo sich sein Geld befindet.
Anja legte den Brief weg und schlug eines der Bücher auf, die Carla ihr gerade gegeben hatte. Es handelte sich um eine deutschsprachige Publikation über ausländische Freiwillige, die bei den Burenstreitkräften gedient hatten. Es gab eine ganze Reihe von ihnen, nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Irland, Holland, Frankreich, Schweden und den USA. Anja blätterte im Inhaltsverzeichnis und fand den Namen Belvedere. Auf der angegebenen Seite fand sie das Foto eines Mannes mit langem blondem Haar, einem hängenden Schnurrbart und einem spitzen Bart. Er stand in steifer Pose und runzelte die Stirn, aber in seinen Augen entdeckte Anja ein Lächeln. Colonel Nathaniel Belvedere sah unbestreitbar gut aus und erinnerte an eine Figur aus dem amerikanischen Wilden Westen. Die wenigen Bilder, die sie von Claire Martin gesehen hatte, sagten Anja, dass auch sie attraktiv gewesen war. Anja überlegte, was für eine Beziehung die beiden aufgebaut hatten.
In Anjas Leben gab es schon seit vier Jahren niemanden mehr, auch nicht in Hinsicht auf Gefühle. Sie hatte fünf Jahre lang mit einem Mann zusammengelebt, der aber ihren Kinderwunsch nicht geteilt hatte. Schliesslich verliess er sie. Sie war jetzt fast vierzig und obwohl es ihr schwerfiel, hatte sie sich schon fast damit abgefunden, dass sie keinen Mann finden und kein Kind bekommen würde. Vielleicht hatte ihre Mutter recht und sie hatte sich nicht genug Mühe gegeben, aber trotz ihrer Sehnsucht nach einer eigenen Familie hatte sich Anja immer mehr an ihren eigenen Raum und ihr freies Leben gewöhnt, welches sie glücklich zwischen Namibia und Deutschland aufteilte.
Vielleicht, so sagte sie sich zum vielleicht tausendsten Mal, traf sie in Namibia einen intelligenten, finanziell abgesicherten Safari-Guide, der während ihrer regelmässigen Besuche gern mit ihr dort lebte. Sie verdrängte den Gedanken aus ihrem Kopf und kehrte stattdessen in die Welt von Claire Martin und dem amerikanischen Offizier zurück.