Kapitel 1

1727 Words
1 NORTH SYDNEY, AUSTRALIEN, IN DER GEGENWART Während Nick Eatwell im olympischen Schwimmbad von North Sydney die achtzehnte Runde drehte, fielen die ersten Regentropfen auf seinen Rücken. Er ärgerte sich, weil er für den Rückweg ins Büro keinen Regenschirm mitgenommen hatte. Es erinnerte ihn an ein Erlebnis, das Jill und er vor ein paar Jahrzehnten, als sie noch nicht lange verheiratet gewesen waren, bei einem Ausflug aufs Landhatten. Damals herrschte eine jahrelange Dürre, doch plötzlich hatte es einen Schauer gegeben. Fette Tropfen hatten den Staub auf der Windschutzscheibe verschmiert. Auf der Brücke des Geländewagens vor ihnen staunte ein Hütehund, der noch nie Regen erlebt hatte, über die mysteriöse Flüssigkeit, die ihn berieselte und versuchte die Tropfen durch Kratzen zu verscheuchen. Genauso überraschend war Jills Tod für Nick gekommen, als sie vor acht Monaten an Brustkrebs gestorben war. Er konzentrierte sich darauf, sich im Becken zu orientieren und anhand der geschwommenen Runden zu schätzen, wie spät es war. Er versuchte, durch die langweilige Wiederholung und die körperliche Anstrengung seine Trauer zu verdrängen. Die Mittagspause reichte noch aus, um eine heisse Dusche zu nehmen, sich umzuziehen und vor zwei Uhr im Büro zu sein. Der Regen wurde stärker, er würde auf dem Rückweg nass werden. Nick beendete sein Programm und verliess das Schwimmbad. Er schaute auf die Uhr und beschloss, dem Regen zu trotzen. Er lief die Strasse gegenüber dem Bahnhof von Milsons Point hinauf und hüpfte von einer Markise zur nächsten. Der steife Gegenwind, der durch die künstliche Schlucht aus Wohnungen und Bürogebäuden heulte, verlangsamte sein Vorankommen und trieb ihm stechende Regentropfen ins Gesicht. Als er das Büro schliesslich erreichte, waren sein Hemd und seine Hose völlig durchnässt. Er stieg in den Aufzug und die Frau neben ihm schüttelte den Kopf. Er sah genauso aus, wie er sich fühlte: erbärmlich. Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich vor dem Büro von Chapman Public Relations. Die Jungen, die sich dauernd über Stress beklagten und sich, wenn er es wagte, ihre Apostrophe zu korrigieren, beschwerten, er mobbe sie, sassen alle mit gesenktem Kopf am Pult. Man hörte das Klappern von Tastaturen und das Murmeln dringender Gespräche. Jessica, die jung genug war, um seine Tochter zu sein, schaute immer wieder auf die Uhr. Er kam selbst an guten Tagen nicht besonders gern zur Arbeit. Er hatte den Journalismus verlassen, um mehr Geld zu verdienen und die Hypothek früher abzuzahlen. Er hoffte, sich und Jill so ein besseres Leben zu ermöglichen und mehr reisen zu können. Noch bevor Jill starb, hatte er den Schritt bereut. Die Arbeit langweilte ihn und er hatte erkannt, dass Glück nicht gleichbedeutend mit einem grösseren Bankguthaben war. »Hallo, Nick«, begrüsste ihn Pippa Chapman, die Inhaberin der Firma, die aus ihrem Büro kam und ihn auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz abfing. »Ich habe dich gesucht. Ich bin froh, dass du da draussen nicht ertrunken bist. Hast du eine Minute Zeit?« Nick war fast immer der Erste, der nach Pippa das Büro betrat und oft der Letzte, der es verliess. Jetzt war er drei Minuten zu spät. Pippa war noch keine fünfunddreissig Jahre alt. Sie hatte immer Stellen in der Werbebranche gehabt und konnte stolz sein auf die Beratungsfirma, die sie aufgebaut hatte. Im Stillen nannte er sie ›pocket rocket‹, Taschenrakete. Er arbeitete früher bei einer Zeitung, die sich im digitalen Zeitalter nur schwer über Wasser halten konnte und war dort – als vergleichsweise alter Journalist – ihr Hauptansprechpartner gewesen. Bei einer der Entlassungsrunden hatte sie ihn mitgenommen. Er war ihr etwas schuldig und sie liess es ihn nie vergessen. Nick folgte ihr in ihr Büro. An einem sonnigen Tag konnte der Anblick des glitzernden Hafens die Stimmung heben, aber heute widerspiegelte das Wasser nur den trüben Himmel und das triste Grau der Harbour Bridge. Pippa blieb stehen, den Blick eher nach draussen als auf ihn gerichtet. »Wir haben die Fliesenfirma verloren.« Nick zuckte mit den Schultern. »Typisches Kleinkunden-Syndrom: Die ganze Welt fordern, dauernd jammern und nur Peanuts zahlen. Wir sind ohne sie besser dran.« Pippa drehte sich um. Ihr Gesicht verriet ihm, dass er das Falsche gesagt hatte. »Du hast leicht reden, Nick, du musst hier nicht die Löhne zahlen. Der Geschäftsführer sagt, du habest ihn beleidigt.« Nick breitete seine Hände aus. »Ich habe ihm gesagt, dass ich kein vertrocknetes Sandwich verkaufen könne.« »Er hat ein brandneues Produkt auf den Markt gebracht.« »Ja.« Nick nickte. »Und wollte, dass wir ihn ins Frühstücksfernsehen bringen.« »Du hast es nicht einmal probiert, Nick.« Er holte tief Luft. »Ich versuchte, ihm beizubringen, dass wir etwas Spannendes daraus machen müssten. Ein wenig Panikmache vielleicht, dass Metalldächer bei starkem Wind gefährlich seien oder dass Ziegel besser für die Umwelt sind oder so einen Mist.« Pippa richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Du bist nicht mehr mit dem Herzen dabei, Nick.« »In Dachziegeln? Meinst du?« »Das war mein erster Auftrag, als ich mich selbständig gemacht habe, Nick. Die Dachziegel haben mir geholfen, dieses Geschäft aufzubauen und dir einen Job zu geben.« Pippa holte tief Luft, bevor sie fortfuhr: »Nick, wir alle wissen, was für ein schreckliches Jahr das für dich war.« Aber, dachte er, wollte sie sagen, der Tod deiner Frau ist kein Grund, unhöflich zu Kunden zu sein. Und es stimmte natürlich, dass er weder Grund noch Recht hatte, bezüglich der Kunden, für die er arbeitete, wählerisch zu sein. Pippa verwaltete die Firmen- und Führungsangelegenheiten einiger grosser Unternehmen, die momentan Budgetkürzungen vornehmen mussten. Sie konnte es sich nicht leisten, ihre kleineren Kunden links liegen zu lassen. Aber der Mann, der die Fliesenfirma leitete, mochte ihn nicht und verhielt sich unverschämt und fordernd. Er fragte ständig, warum Pippa bei den Kundentreffen nicht dabei war. Der Vorwurf war unangemessen, aber Nick konnte ihn verstehen: Wer hätte nicht lieber eine kluge, attraktive Frau, die sagte, was man hören wollte, als einen ausgebrannten Fünfzigjährigen, der einem die Meinung sagte. »Es tut mir leid, Nick.« »Es geht mir besser, Pippa«, sagte er, obwohl er sich dessen nicht sicher war. »Das mit Jill tut mir wirklich leid, Nick, ist aber nicht der Grund, warum ich mich soeben entschuldigt habe.« Einen kurzen Moment lang verstand er nicht. »Was ist es dann? Was hast du falsch gemacht?« »Ich ...« »Pip, bitte.« Sein Herz begann zu hämmern. »Es tut mir leid. Ich gehe zum Fliesenmann zurück. Ich werde betteln und ihn zurückholen, um uns etwas Zeit zu verschaffen.« Sie lächelte ihn traurig an und schüttelte langsam den Kopf. »Nick, es tut mir leid. Ich habe heute Morgen auch den Autoauftrag verloren. Wir wussten schon seit Jahren, dass die Fabriken in Australien geschlossen würden, und jetzt ist es passiert. Selbst wenn ich den Auftrag für die Kacheln zurückbekomme, muss ich die Firma verkleinern.« Er spürte ein Ziehen in der Brust und fragte sich kurz, ob es der Beginn eines Herzinfarkts sei, was aber nicht der Fall war. Vielleicht hätte sie sonst Mitleid mit ihm und würde ihre Entscheidung rückgängig machen. »Von der ganzen Bande«, fuhr sie kaum hörbar fort, »hast du die meiste Erfahrung und es wird dir am leichtesten fallen, einen anderen Job zu finden. Falls es dich tröstet: Du bist nicht die einzige Person, mit der ich heute Nachmittag sprechen muss. Es tut mir leid, Nick, du bist mir zu hochkarätig. Ich kann mir dich nicht mehr leisten.« »Wann?«, fragte er. »Du kannst dir eine Kündigungsfrist von ein paar Wochen ausrechnen, wenn du willst. Ich zahle dir alles, was dir zusteht.« Bestenfalls ein paar Wochen, dachte er, plus den angesammelten Urlaub, den er noch nicht genommen hatte. Er nickte, drehte sich um und begann, Pippas Büro zu verlassen. »Nick ... vielleicht ergibt sich ja ein freier Auftrag, vielleicht bekomme ich einen neuen Kunden.« Er nickte, blickte aber nicht zu ihr zurück. Er ging zu seinem Schreibtisch. Er spürte die Augen der jungen Kollegen im Rücken und klappte seinen Laptop auf. Er versuchte, sich auf die halbfertige Medienmitteilung für den Kunden einer Werbefirma zu konzentrieren. Irgendetwas über eine neue, erfahrungsbasierte Marketingkampagne, was auch immer das heissen mochte. Nick schwankte zwischen Anflügen von Wut und Selbstmitleid. Am liebsten wäre er aufgestanden und in Pippas Büro gegangen, um ihr zu erklären, warum sie ihn, seine Kontakte und seine Erfahrung brauche, aber er konnte es auch aus ihrer Sicht sehen. Sein Fachwissen und seine Erfahrung waren für Pippa eine Zeit lang von unschätzbarem Wert gewesen, aber jetzt war er ein teures Maul, das sie aus einem schrumpfenden Topf füttern musste. Er musste selbst zugeben, dass er nicht gut darin war, neue Aufträge an Land zu ziehen. Nick war Journalist, kein Verkäufer und das wussten alle. Unfähig, sich zu konzentrieren und nicht bereit, einem seiner jugendlichen Kollegen die Genugtuung zu geben, ihn davonlaufen zu sehen, überprüfte er seinen Posteingang. Er fand die E-Mail von jemandem unbekannten, doch in der Betreffzeile stand etwas, das ein Werbemann nicht ignorieren konnte: Gesucht Nicholas Eatwell – Journalistin braucht Hilfe bei einer Story. Nick öffnete die E-Mail und stellte fest, dass die Absenderadresse auf ›co.za‹ endete. Sehr geehrter Herr Eatwell, Mein Name ist Susan Vidler, Sie kennen mich nicht. Ich bin eine freiberufliche südafrikanische Journalistin, die sich zu Urlaubs- und Geschäftszwecken in Australien aufhält. Ich recherchiere für die Reportage über einen Australier, der 1902, während des Zweiten Burenkriegs, in einer Einheit namens ›Steinaeckers Reiter‹ diente. Später, 1906, nahm er an einer Revolte gegen die deutsche Kolonie Südwestafrika, das heutige Namibia, teil. Meine Nachforschungen haben ergeben, dass Sie möglicherweise der letzte überlebende Verwandte dieses Mannes, Sergeant Cyril John Blake, sind. Wenn Sie der Sohn der verstorbenen Denis und Ruth Eatwell sind, sind Sie der Mann, den ich suche. Wenn ja, möchte ich gerne wissen, ob Sie irgendwelche Dokumente oder andere Informationen über Sergeant Blake haben, die Sie mir allenfalls zur Verfügung stellen könnten. Ich danke Ihnen im Voraus, Susan Vidler Wer auch immer diese Frau war, sie hatte gut recherchiert, denn seine verstorbenen Eltern hiessen Denis und Ruth. Die Frau gab eine australische Handynummer an. Dankbar für eine Ablenkung von dem, was gerade passiert war, rief er sie an, doch der Anruf ging sofort auf die Sprachbox. Er hinterliess eine Nachricht, in der er sagte, er sei der Mann, den sie suche und seine Nummer angab. Er beendete den Anruf und schaute auf die Uhr. Drei Stunden, bis er in die Kneipe gehen und sich betrinken konnte. Wenigstens hatte er jetzt einen anderen Grund dafür als Jill, sagte er sich.
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