PROLOG
1906, IN DER WÜSTE SÜDLICH DER KLIPDAM FARM, DEUTSCH-SÜDWESTAFRIKA
Der rote Sand trank sein Blut und schluckte es genauso schnell, wie es floss. Sobald die Löwen sein Fleisch verschlungen und die Hyänen seine Knochen zwischen ihren Kiefern zermahlen hätten, gäbe es keinen Beweis mehr dafür, dass er je hier gewesen war oder überhaupt jemals gelebt hatte.
Das Wenige, das von ihm übrigbliebe, würde der Sand unter sich begraben und alle Spuren verwischen. Nur noch klare, vom Wind gezeichnete Wellen wären auf der Oberfläche der Düne zu sehen.
Er versuchte zu sprechen, doch seine Zunge war geschwollen und die Lippen rissig. Die Worte wollten nicht kommen. Vielleicht entrang sich seiner Kehle ein Laut, vielleicht auch nicht.
»Claire …«
Cyril Blake kroch. Hand vor Hand. Die groben Körner füllten sein Hemd, fanden ihren Weg in seinen Mund, seine Hose, seine Wunde, überallhin. Der Sand verbrannte seine Handflächen. Unter Qualen schaffte er es bis zur messerscharfen Kante der Düne. Er blickte darüber hinaus. Rettung war keine in Sicht, nur ein leerer Weitblick mit ein paar Tieren. Wie eine Kreuzotter glitt er auf die andere Seite, wo er sich halb rutschend, halb rollend den Abhang hinunterfallen liess.
Hinter sich hörte er das Wiehern eines Pferdes und das in deutscher Sprache gebrüllte Kommando eines Offiziers.
Er hatte die lange Nacht und die Kälte zähneklappernd überlebt. Irgendwann lösten Halluzinationen die Schmerzen der Wunde in seinem Bauch ab. Wenn er es jemals nach Australien schaffte, würde ihm niemand glauben, dass der kälteste Ort, an dem er je gewesen war, in einer afrikanischen Wüste lag.
Jetzt erdrückte ihn die Hitze des Tages und Fliegen bevölkerten das Loch in seinem Bauch.
Blake blinzelte den Sand aus den Augen. Das trockene Flussbett, dem er am Vortag bis hierhin gefolgt war, erstreckte sich unter ihm weiter bis zur Grenze. Südafrika lag nur ein paar Dünen entfernt, was in seinem Zustand eine Unendlichkeit bedeutete. Er hatte diesen Ort zuerst verflucht und mit jeder Faser seiner Existenz gehasst, später aber geschworen, ihn nie wieder zu verlassen. Er war von ihm eingesogen, verzaubert, berauscht und gefangen genommen worden. Besessen, wie die Huren und Bergleute mit ihren eingesunkenen Augen, vom Rauch in den Höhlen der Chinesen.
Afrika.
Oryx-Antilopen, von den Buren Gemsböcke genannt, zogen durchs Tal und knabberten am spröden Gras, das dank der spärlichen Feuchtigkeit im Flussbett wuchs. Eine Herde von fünfzig Pferden, immer noch Nase an Schwanz gebunden, trabte verwirrt dem sterbenden Wasserlauf entlang und trieb die stattlichen Antilopen in den Galopp. Er hatte die Pferde auf Claires Bitte hin nach Deutsch-Südwestafrika gebracht, um den Aufstand zu unterstützen. Seine Mission war gescheitert. Nun würde er Claire nie wiedersehen. Er hoffte, jemand habe den Anstand, die Pferde zu befreien, damit sie die Schrecken des Krieges nicht erleben mussten. Vielleicht käme der Mann, der auf ihn geschossen hatte, zurück und holte die Pferde. Er hatte Blake dem Tod überlassen und war nach Klipdam geritten, zweifellos um das auf Blake ausgesetzte Kopfgeld zu kassieren.
Bei der Erinnerung an Claire brachte Blake ein halbes Lächeln zustande, das die Haut seiner Lippen noch stärker aufplatzen liess. Der Schweiss drang in die neugeschaffene Ritze und stach qualvoll. Er erinnerte sich an den nektarähnlichen Geschmack ihres Mundes.
Ein Schatten schützte ihn einen Moment vor der stechenden Sonne. Er blickte auf und sah einen Mann über sich stehen.
»Claire …«
»Halten Sie die Klappe«, befahl der deutsche Offizier.
Blake versuchte, sich herumzudrehen, aber bei der Bewegung schossen Schmerzen durch seinen Körper. Er liess sich auf den Rücken fallen und blinzelte in die Sonne.
»Sprechen Sie ihren Namen nicht aus!« Sein Englisch war nahezu perfekt. Blake wusste, dass Peter Kohl ein guter Mann war, ein Arzt. Wie Blake selbst, war der Offizier dazu überredet worden, eine Uniform anzuziehen, um ein Reich zu verteidigen und einen bösen Feind zu besiegen, der es wagte, sich gegen die Krone zu erheben.
Völliger Blödsinn.
Blake wusste, warum der Offizier gekommen war. Er sollte sicherstellen, dass die blutige Aufgabe ordnungsgemäss erledigt war. So waren die Deutschen. Alles musste perfekt, vorschriftsgemäss, vollständig und mit einer Schleife versehen sein, selbst Morde. Du Preez, der Mann, der die Kugel abgefeuert hatte, um ihn zu töten, hielt sich nicht an solche Vorschriften. Du Preez wollte Blake verbluten und langsam unter der Sonne verdorren lassen, weil er dachte, er habe das verdient.
»Claire ...« hustete er.
»Es reicht!« Spucke sprühte aus Peters Mund und sein sonnengerötetes Gesicht verfärbte sich noch dunkler. Der Arzt holte tief Luft und unterdrückte das Zittern in der Hand, die die 65-Millimeter-Pistole der Marke Roth-Sauer 7 hielt. Er zwang sich zur Ruhe, räusperte sich und sprach mit lauter, klarer Stimme. »Cyril Blake, Sie sind der Spionage, der Unterstützung des Nama-Volkes und des Verbrechers Jakob Morengo bei der bewaffneten Rebellion gegen die rechtmässige Regierung von Deutsch-Südwestafrika schuldig.«
»Bitte, sagen … sagen Sie es mir einfach, Peter«, brachte Blake hervor.
Der Offizier blinzelte und Blake fragte sich, ob dieser Mann weinte, der, wenn er nicht in seiner schweissgetränkten Landespolizeiuniform und seinen abgewetzten Kavallerieschuhen dastand, kranke Kinder behandelte und sich um gebrochene Arme kümmerte.
»Sie ist tot«, sagte er mit lauter, aber zitternder Stimme.
Blake schloss die Augen. »Wie?«
»Ertrunken. Sie war nur wegen Ihnen auf dem Boot. Sie wartete lange auf Sie, Blake, bis sie schliesslich ging. Sie haben meine Frau zu einer Spionin gegen ihr eigenes Volk gemacht und sie entehrt.«
Blake spürte, wie Tränen kommen wollten, aber sein Körper war wohl zu ausgebrannt und seine Augen blieben trocken. Sein Kopf schwirrte. Nicht einmal ein erleichternder Augenblick der Trauer wurde ihm gegönnt.
»Sie … Sie haben gesehen, was auf der Haifischinsel und an der Eisenbahnlinie, die Ihr Volk baut mit unschuldigen Frauen und Kindern passiert. Sie nennen sich Arzt und tragen trotzdem diese Uniform?«
Peter wandte den Blick ab. Wäre Blake nicht nahezu tot gewesen und hätte er die Kraft dazu gehabt, hätte er sich auf ihn gestürzt, aber das war unmöglich.
»Sie sind doch nicht gekommen, um mich zusammenzuflicken und ins Gefängnis von Keetmanshoop zu bringen, oder Peter?«, fragte Blake.
»Nein«, sagte Dr. Peter Kohl, laut genug, dass die wartenden deutschen Soldaten seine Stimme über die Dünen hinweg hörten, »ich bin gekommen, um Sie zu töten.«
Der Arzt zielte sorgfältig, dann feuerte er seine Pistole ab.