Seit dem der Montagabend so aus dem Ruder gelaufen war, hatte ich Noah nicht mehr gesehen, dafür hatte ich aber die Mittagspause am Dienstag mit Mason verbracht und nun stand er vor meiner Haustüre, um mich zu unserem Date abzuholen. Meine Eltern hatten noch mehrmals versucht, mich zu überzeugen, das Date doch einfach abzusagen, aber ich war stur geblieben. „Hey. Ich hatte mir überlegt, dass wir ins Kino gehen und danach etwas essen?“ Erläuterte Mason seinen Plan und ich nickte. Das klang doch gut. „Super. Was läuft denn?“ Fragte ich ihn und er lächelte. „Das Kino hat mittwochs immer ein Programm, bei dem alte Klassiker laufen. Wir haben die Wahl zwischen Dirty Dancing und Ferris macht blau. Ich bin ehrlich. Auf letzteres hätte ich persönlich mehr Lust, aber ich passe mich dir an.“ Fröhlich strahlte ich. „Nicht nötig. Ich liebe Ferris macht blau.“ Erleichtert atmete er auf. „Das hatte ich gehofft.“ Dann machten wir uns auf. Mason hatte kein eigenes Auto und deshalb hatten wir vorher schon ausgemacht, dass wir mit dem Fahrrad fahren würden. Ich gab mir also Mühe, nicht allzu lahmarschig neben ihm zu fahren und strampelte ordentlich. Als das Kino in Sichtweite kam, war es dann wie die Erlösung. Mason hatte ein Schloss dabei, mit dem er unsere Fahrräder an den Fahrradständer schloss und als er im Kino glücklicherweise salziges Popcorn bestellte, schien der Abend perfekt zu werden.
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Vor lauter Lachen standen mir die Tränen in den Augen, als wir das Kino verließen und Mason ging es ähnlich. „Du hast das Auto getötet!“ zitierte er lachend und sofort stieg ich wieder mit ein. Wir brauchten noch einige Momente, bis wir uns wieder soweit gefangen hatten, dass das Fahrradfahren uns ungefährlich vorkam und von einigen Fußgängern ernteten wir genervte Blicke, doch das war uns herzlich egal. Wir waren einfach jung und hatten Spaß.
Mason begleitete mich noch bis zu meiner Haustüre und lächelte mich an. „Wollen wir… ich meine… Hast du Lust, das mal zu wieder…“ Weiter kam er nicht, denn hinter mir wurde die Tür aufgerissen und ein gereizter Noah stürmte heraus. Wieso war sein Auto am Bordstein mir nicht aufgefallen? „Nein, sie hat keine Lust. Sie kommt jetzt mit zu mir. Wir müssen dringend reden!“ Knurrte er und packte mich an meinem Arm. Entsetzt riss ich meine Augen auf. „Was ist denn los mit dir?“ Fauchte ich ihn wütend an. So hatte ich ihn noch nie erlebt. „Was los ist?“ Er wirkte schon beinahe ungläubig. „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Du kannst morgen mit deinem Casanova reden, jetzt kommst du mit!“ Ich wagte es nicht noch einmal zu protestieren, weil ich Noah vor Mason nicht bloßstellen wollte. Dämlicher Beschützerinstinkt. Zerknirscht sah ich ihn also an. „Sorry, scheint wichtig zu sein. Wir reden morgen, ja?“ Vergewisserte ich mich und er nickte nur irritiert. Gott, diese Situation war einfach so absurd. Ich folgte Noah in sein Auto und holte tief Luft, bevor ich meine Schimpftirade startete. „Wieso bist du so gemein? Was habe ich falsch gemacht, dass du mich und ihn so anpampen musst? Du kannst doch auch normal mit mir reden!“ Noah reagierte nicht, sondern startete einfach den Wagen und fuhr los. Ich war sehr selten bei ihm zuhause. Er wohnte in einer kleinen Siedlung mitten im Wald, und immer, wenn ich dort gewesen war, hatten die Leute dort mich so komisch angestarrt, dass ich mich unwohl fühlte. Deshalb verwirrte es mich auch umso mehr, dass er offensichtlich gerade in die kleine Landstraße einbog, die zu seinem Zuhause führte. Gleichzeitig machte es mich absolut aggressiv, dass er so überhaupt nicht reagierte. „Wenn du dich jetzt nicht entschuldigst, laufe ich, sobald du stehen bleibst, zurück nach Hause. Du benimmst dich nämlich gerade wie ein Arschloch.“ Er seufzte. Mittlerweile wirkte er schon etwas ruhiger auf mich, auch wenn seine Atmung noch immer sehr gehetzt war. „Wir reden drinnen, okay?“ In diesem Moment hielt er vor seinem Haus und ich folgte ihm nach drinnen. Seit ich das letzte Mal hier war, hatte sich nicht viel verändert. Die Ausstattung war sehr heimelig und wirkte eher so, als wäre sie auf eine Familie und nicht auf Noah ausgerichtet. Er deutete mir an, mich auf das Sofa zu setzen, während er selbst wie verrückt durch das Zimmer tigerte. „Also, was ist?“ Fragte ich forsch und er wendete sich stürmisch von mir ab. „Noah, bitte rede mit mir. Ich würde dir gerne helfen, wenn du irgendein Problem hast, okay?“ Das war der Moment, in dem er sich umwandte und auf mich zu stürmte. Ich hatte noch gar nicht ganz begriffen, was geschehen war, da lag seine raue Hand schon zärtlich auf meiner Wange. „Alya“ hauchte er und wirkte dabei so verzweifelt. Gleichzeitig fühlte seine Berührung sich so richtig an, dass ich nicht anders konnte, als meine Hände auf seine Brust zu legen. Ich wusste, dass das absurd war. Noah war mein bester Freund und er war acht Jahre älter. Ich meine, wir kannten uns, seitdem ich klein war und die Vorstellung, dass er mich auf diese Art mögen konnte, war einfach absurd, wenn ich bedachte, dass er mich als kleines Mädchen erlebt hatte. Meine Atmung ging schwer, aber merkwürdigerweise fühlte ich mich wohl. Meine Beine zitterten vor Aufregung, und als würde er das spüren, legte er seine andere Hand stützend an meinen Rücken. „Was tust du da?“ Hauchte ich. Das alles war so überwältigend, so merkwürdig intim. Er vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. „Bitte… Lass mich dich einfach halten“ Er sprach so leise, dass es mir schwer fiel, ihn zu verstehen, doch ich wollte seiner Bitte nur zu gerne nachkommen. Seine Starken Arme umschlangen mich nun beide, als müsste er sich an mir festhalten. Dabei war ich doch diejenige, die gleich umkippen würde. Auf einmal setzten seine weichen Lippen zarte Küsse auf meinen Hals und brachten mich zum Stöhnen. Gott, das fühlte sich so gut an.
Es dauerte einen kleinen Moment, doch als ich so wirklich realisierte, was wir hier gerade taten schob ich ihn schockiert von mir weg. „Noah!“ zischte ich und er zuckte zusammen. „Alya…“ „Was… Ich meine… Du…“ Ich wusste nicht so genau, was ich meinte. Es war so absurd, so falsch, auch wenn es sich noch so richtig anfühlte. „Wir können sowas nicht tun!“ Fuhr ich auf. Es war, als wäre in ihm ein Schalter umgelegt worden. Er packte meine Handgelenke, als wollte er verhindern, dass ich weglief. „Natürlich können wir, Alya. Du… Ich… Wir…“ Tief atmete er durch, während ich zu verarbeiten versuchte, was er gerade gesagt hatte. Entschlossen schüttelte ich den Kopf. „Noah. Wir kennen uns schon ewig. Du… Wir sind beste Freunde. Das… Es geht nicht!“ Versuchte ich zu erklären, doch es war, als wären seine Ohren taub dafür und als hätte sich ein Schleier über seine Augen gelegt. „Wir waren nie ‚nur‘ Freunde Alya. Das kann dir doch nicht entgangen sein. Ich träume schon immer davon, mein ganzes Leben mit dir zu verbringen. Verdammt, wir gehören zusammen und da lasse ich auch niemanden dazwischen kommen, auch deinen bescheuerten Mason nicht!“ Fluchte er, ich konnte ihn jedoch nur geschockt ansehen. „Willst du mich eigentlich verarschen? Als wir uns kennengelernt haben, war ich acht und du sechzehn. Und da hast du schon davon geträumt, ‚dein Leben mit mir zu verbringen‘?“ Äffte ich ihn nicht und lachte hysterisch, dabei war mir überhaupt nicht nach Lachen zu mute. Das war einfach nur krank. Wie konnte er sich bitte vorstellen, so etwas mit einer verdammten Achtjährigen zu tun? Noah stieß eine Reihe von Flüchen aus, die ich an dieser Stelle nicht wiederholen wollte und zwang mich, ihn anzusehen. „Du denkst das falsch. So war das doch gar nicht gemeint, Krümelmonster.“ Er schien meinen Gedanken folgen zu können. „Ich meine, ich liebe dich, seitdem ich dich das erste Mal gesehen habe und seitdem ist es auch mein oberstes Ziel, dass du glücklich bist. Ich habe anfangs nie so an dich gedacht. Ich meine, ich wollte schon immer mein Leben mit dir verbringen, aber erst wenn du älter bist. Ich weiß, dass das bescheuert klingt, aber… Es – eigentlich wollte ich warten, bis du mindestens volljährig bist, aber als ich dich vorhin mit diesem Mason gesehen habe… Es tut mir leid. Ich will dich zu nichts zwingen, wozu du noch nicht bereit bist, nur kann ich einfach nicht dabei zusehen, wie du mit anderen Typen…“ Er wagte es nicht, den Satz zu beenden. In meinem Kopf herrschte jedoch nur noch ein einziges, großes Durcheinander. Wie konnte er sich mit sechzehn bitte vorstellen, dass ich, wenn ich alt genug war, die Frau seines Lebens sein könnte? War er etwa nur deshalb mit mir befreundet gewesen? Und hatte er wirklich gesagt, dass er mich liebte? Bei dem Gedanken an seine Worte fing mein Herz auf unerklärliche Weise an, heftig gegen meinen Brustkorb zu wummern. „Du… Ich meine, du kannst doch nicht abstreiten, dass du ähnlich fühlst. Du kannst es dir nur nicht so recht eingestehen.“ Ich hasste es, Noah so hilflos wie jetzt zu sehen. „Ich…“ fing ich ein weiteres Mal an, dabei hatte ich keine Ahnung. „Ich… Du… Das… Ich meine… Was ist, wenn es nicht funktionieren würde? Ich könnte dich nicht verlieren… Und… Du bist doch wie…“ Ich wagte es nicht, die letzten Worte auszusprechen, doch sie hingen dennoch zwischen uns in der Luft. ‚Wie ein Bruder für mich‘. Das war es, was ich hatte sagen wollen, auch wenn ich wusste, dass es nicht stimmte. Noah knurrte wütend. „Alya, du reagierst auf mich nicht, wie man auf einen Bruder reagiert.“ Stellte er klar. „Dein Herz schlägt schneller, wenn ich in der Nähe bin und du schaust immer unauffällig zu mir und betrachtest mich. Du möchtest, dass ich in deiner Nähe bin, und wenn ich bei dir schlafe, kuschelst du dich an mich. Ich- du machst es mir so verdammt schwer, mir keine Hoffnungen zu machen!“ „Das stimmt doch alles gar nicht!“ Versuchte ich schwach, zu protestieren, aber wir wussten beide, dass ich log. „Wir beide- Das wäre verrückt.“ Verrückt und einfach nur der Wahnsinn. „Alya, ich kann nicht mein Leben lang nur neben dir stehen und bei allem zusehen. Ich will ein Teil deines Lebens sein. Ich will, dass du an mich denkst, dass ich der einzige Mann in deinem Leben bin und ich bin bereit, alles zu tun, um das zu werden. Aber ich kann nicht einfach nur dein ‚Bruder‘ sein!“ Er spuckte das Wort regelrecht aus. Verzweifelt ließ ich mich auf das Sofa fallen. „Wieso machst du das Noah? Es war doch alles perfekt. Alles lief gut. Und jetzt kommst du und sagst solche Dinge zu mir. Du machst einfach alles kaputt!“ Warf ich ihm vor und fühlte mich gleichzeitig unfassbar unfair. Er wirkte gekränkt und ich rechnete es ihm hoch an, dass er dennoch so verhältnismäßig ruhig blieb. „Ich mache nicht kaputt. Ich will nur… mehr. Wir könnten doch trotzdem genauso reden wie sonst! Wir wären immer noch wie beste Freunde, nur eben ein bisschen mehr. Du… Wir könnten jede Nacht kuscheln und du könntest meine Sachen tragen. Ich könnte dich über die Wochenenden zu mir entführen und dich bekochen. Und wir könnten glücklich werden. Ich habe nicht vor, dich je wieder gehen zu lassen, wenn du einmal zugesagt hast!“