Ich entschloss mich kurzerhand dafür, Victoria zu besuchen und zu hoffen, dass sie zuhause war. Ich kannte Vicki seit mittlerweile sechs Jahren und gemeinsam hatten wir uns bei den Cheerleadern beworben. Dazu hatte Emma mich motiviert, sie war zu dem Zeitpunkt schon längst eine Cheerleaderin. Zum Glück wohnte Victoria nicht allzu weit entfernt, deswegen machte ich mich zu Fuss auf den Weg. Ich hatte zwar genug Kleingeld in der Tasche, um den Bus zu nehmen, aber vermutlich tat mir die frische Luft einfach gut, um den Kopf freizubekommen. Ich fror zwar, aber die Kälte betäubte mich, liess mich diesen beissenden Schmerz in meiner Brust für einen kurzen Moment vergessen.
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Bei Victoria angekommen drückte ich mit zitternden Fingern die Klingel. Es bimmelte so laut, dass es ich es sogar hier draussen hörte. Zitternd verschränkte ich die Arme ineinander, mittlerweile war ich der Kälte nicht mehr dankbar, sondern versuchte sie mit aller Macht zu vertreiben. Die Tür öffnete sich und Vickies Mum blickte mir entgegen. Sie war eine atemberaubende Frau und Vickie hatte ihre Schönheit definitiv von ihr geerbt. Jenna Brooklyn war mit vollem Recht ein erfolgreiches Model. Sie war hochgewachsen, hatte lange braune Haare und die atemberaubendsten, grünen Augen, die ich je gesehen hatte. „Oh hallo Cassandra“ Mit strahlend weissen Zähne lächelte sie mich an. „Victoria ist leider gerade nicht da. Ihr Vater ist zu Besuch und sie ist mit ihm in den Zoo gegangen“ Auf eine merkwürdige Art und Weise fiel mir ein Stein vom Herzen. Vielleicht hätte ich auch gar nicht mit ihr darüber sprechen können, denn das war nicht die Art von Freundschaft, die wir hatten. In unserer Freundschaft hatten wir Spass, waren verrückt, aber wir redeten nicht wirklich. Natürlich wusste ich, dass ihre Eltern geschieden waren und ihr Vater als erfolgreicher Modedesigner in Sidney lebte, so dass sie jede mögliche Minute mit ihm verbringen wollte, aber über meine Familie wusste sie nichts. Ich seufzte. „Soll ich ihr ausrichten, dass du hier warst?“ fragte Jenna. Ich winkte ab. „Ich schreibe ihr später einfach nochmal“ Das mein Handy kaputt war, konnte sie ja nicht wissen. „Frierst du nicht ein bisschen?“ kam es da von ihr. Ich nickte. „Ich habe meine Jacke zuhause vergessen“ Aufmerksam lächelte sie. „komm, ich leihe dir eine von meinen aus. Nicht dass du dich noch erkältest.“ „Ach, das ist doch nicht nötig, versuchte ich sie abzuwimmeln, doch sie hatte bereits an die Garderobe hinter sich gegriffen und hielt mir eine stylische Lederjacke entgegen. Dankbar nahm ich sie an. „Danke, Jenna. Ich gebe sie Vickie Montag am besten wieder mit“ Das Model vor mir lächelte. „Mach das. Bis bald, Cassandra“ Mit diesen Worten schloss sie die Tür und erneut war ich unschlüssig, was ich jetzt tun sollte. Seufzend zog ich die Jacke an und machte mich langsam in Richtung nach Hause. Vielleicht sollte ich ja doch zu Emma gehen? Sofort verwarf ich den Gedanken. Eigentlich gab es auch nur eine Person, mit der ich über diese Situation sprechen konnte. Aber wollte ich das wirklich? Eigentlich war die Antwort eindeutig. Ich wollte, ich musste einfach darüber reden, um mich erleichtert fühlen zu können. Schweren Herzens und dennoch noch immer zwiegespalten suchte ich die Bushaltestelle auf. Zu meinem Glück kam der Bus keine fünf Minuten später. Ich stieg ein, aber erst als der Bus schon fuhr, stellte ich fest, dass ich gar nicht wusste, ob Nate in seinem Strandhaus oder bei sich zuhause wäre. Egal. Dann musste ich halt einfach hoffen!
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Zögerlich drückte ich die Klingeln, hoffte einfach nur, dass Nate da war und dass er mir beistehen würde. Die Tür öffnete sich und mein Herz begann panisch zu rasen. War das jetzt Nate, oder erneut jemand anderes. Vielleicht seine Eltern, oder die Putzfrau? Nach der Party gestern wäre es zumindest definitiv nötig gewesen, dass sie kommen würde. „Cassandra? Was machst du hier? Willst du etwa zu Nate? Oh nein, hast du etwa geweint?“ Von Mitleid war in seiner Stimme nichts zu erkennen. Tatsächlich klang er eher triumphierend. Die letzte Person, die ich mir erhofft hatte, hier zu sehen war Charles. Er grinste mich dreckig an. Jetzt konnte mir wirklich niemand mehr erzählen, dass er nicht Bescheid wusste. Also seufzte ich. „Ich wollte ihn nur etwas fragen und mein Handy ist kaputt gegangen, da habe ich einfach gehofft, dass er hier ist“ Wie oft in den letzten Tagen hatte ich jetzt schon gelogen? Charles grinste. „Nate?“ Rief er hinter sich. „Was ist?“ diese Stimme klang unausgeschlafen, dennoch hatte sie diesen atemberaubenden, rauen aber männlichen Klang. Ich wusste sofort, dass es Nate war. „Da ist wer für dich!“ brüllte Charles erneut. „Ausserdem muss ich gehen. Ich wollte doch noch ein Gespräch mit Emma führen“ täuschte ich mich oder war das gerade eine Drohung? Warnend sah ich ihn an. Charles drängte sich an mir vorbei und als Schritte im Flur ertönten begann mein Herz zu hüpfen. „Wer ist denn…“ Begann Nate. Dann erblickte er mich und seine Züge froren ihm im Gesicht ein. Er hatte Handschuhe an und hielt einen Besen in der Hand. Offensichtlich beseitigte er gerade das Chaos. „Was machst du denn hier?“ Ich schluckte und war kurz davor, mich umzudrehen und weg zu rennen. Ich war schon dabei, mich umzudrehen, da griff er nach meinen Schultern. „Cas! Wieso hast du geweint“ Bei seinen liebevollen Worten konnte ich nicht an mich halten und begann zu schluchzen. Sogleich zog er mich in seine muskulösen Arme. „komm, wir gehen rein. Mein Zimmer wurde vom Chaos verschont“ Dabei lächelte er leicht und zog mich dann an meinem Handgelenk durch das Haus. Es sah schrecklich aus. Überall rote Plastikbecher und ausgelaufene Getränke auf dem Boden. Leere Chipstüten, deren Inhalte auf alle Sofas verteilt lagen, als hätte jemand versucht, ein Kunstwerk aus ihnen zu basteln. Ich liess mich neben Nate auf sein Bett fallen. „Nathan“ schluchzte ich, während er mir über den Rücken streichelte. „Deine Familie?“ Ich nickte. Er wusste, dass ich mit jedem anderen Problem erst zu Emma gehen würde. „Gestern war noch alles gut und dann komme ich heute Morgen in die Küche und sehe sie mit so einem zwanzig Jahre jüngeren rummachen“ Als ich es aussprach klang es noch schlimmer. Mitleidig sah Nathan mich an. „Mir ist mein Handy runtergefallen vor Schock“ fuhr ich fort und vielleicht täuschte ich mich auch, aber seine Mundwinkel zuckten. Zögernd zeigte ich es ihm. „Ich glaube es ist hin“ Leise begann Nate zu lachen und es war genau das, was ich in diesem Moment brauchte. „Ich habe Mum angebrüllt, dass sie verheiratet ist, und dann bin ich abgehauen. Wie konnte sie nur? Sie liebt Dad doch! Und er hatte nicht einmal die Chance, etwas zu tun.“ Ich wusste, dass Nate mich verstand, und das beruhigte mich ungemein. Tröstend murmelte er mir einige Worte zu. „Ich will nicht nach Hause“ schniefte ich, bereute es im selben Augenblick. „Bei mir ist immer ein Platz frei für dich“ bot er an, doch ich wusste, dass es ein fataler Fehler wäre, seinem Angebot zuzustimmen. Schluckend sah ich ihn an.