Kapitel 2

1989 Words
Kapitel 2 Zeitrahmen: Moderne Zeit, Philadelphia, USA Donovan klopfte und wartete, bis jemand an die Tür ging. Er schob seine Aktentasche in die andere Hand und warf einen Blick auf das Haus nebenan. Seine Mutter hätte es einen Bungalow genannt. Seine Veranda war fast identisch mit derjenigen, auf der er stand. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein weiteres, ähnliches, aber etwas anderes Haus, in dem eine ältere Dame, schlank mit guter Haltung und platin-silbernem Haar, ihre Begonien goss, während sie ihre Augen beschattete und Donovan beobachtete. Dieses ganze Viertel in Philadelphia, das in den 1930er Jahren erbaut wurde, bestand aus kleinen Häusern, die auf beiden Seiten von gewundenen Straßen standen, in denen Zuckerahorne die Bürgersteige beschatteten. Alle Häuser, außer diesem, waren ordentlich und sauber, mit gepflegten Rasenflächen. Er schaute auf die verfallenen Regenrinnen und schüttelte den Kopf. Wie kann jemand die Dinge so verfallen lassen? Die Tür öffnete sich quietschend, und eine junge Frau erschien. Donovan fühlte sich, als wäre er von einer sanften tropischen Brise getroffen worden, die von der blauen Karibik herüberwehte. Make-up und Frisur machten bei einer Frau wie ihr keinen Unterschied. Obwohl sie kein Make-up trug und ihr kastanienbraunes Haar nach hinten gezogen und mit einem roten Gummiband befestigt war, war sie auf einer Skala, die von attraktiv über niedlich, hübsch, schön, hinreißend bis hin zu umwerfend reichte, mindestens hinreißend-einhalb. Sie schaute von seinem Gesicht zu dem Ausweis, der an einem Schlüsselband hing. Er brauchte den Ausweis wirklich nicht, aber er trug ihn, um offiziell zu wirken. Der durchsichtige Plastikhalter enthielt sein Foto, mit PRESS in fetten Buchstaben darüber. Unter seinem Foto standen einige beschreibende Sätze in sehr kleiner Schrift. Es hatte sogar einen Streifen mit einem Strichcode auf der linken Seite. Er bezeichnete sich unter anderem als freiberuflicher Journalist. Eine glänzende neue Canon war in seiner Aktentasche verstaut, nur für den Fall, dass er sie brauchen würde. Er starrte ihr einen Moment lang in die Augen. "Ich bin ..." Seine Stimme, normalerweise fest und selbstsicher, schwankte und brach. Er begann erneut. "Ich bin D-Donovan." Die Frau blickte auf seine ausgestreckte Hand, trat zur Seite und winkte ihn herein. Hochmütig, dachte er. Diese Einstellung hat ihr gerade das Doppelte meines üblichen Honorars eingebracht. Er hatte schon öfter mit ihrer Sorte zu tun gehabt - arrogant und hochnäsig, weil sie zu den schönen Menschen gehörte. So ein Pech. Im vorderen Zimmer sah er sich die spartanische Einrichtung an. Die Frau - sie war etwa zwanzig - stand mit verschränkten Armen vor ihm. "Sollen wir anfangen?", fragte er. Sie nickte und ging auf einen Flur zu, der links von ihr lag. Er zuckte mit den Schultern und folgte ihr. Sie kamen zu einem Raum mit einer offenen Tür. Drinnen saß ein alter Mann in einem klapprigen Ohrensessel, der aussah, als stamme er aus den dreißiger Jahren, wie das Haus und der Mann selbst. Er hatte ein paar strähnige graue Haare, die er über die Ohren zurückgeschoben hatte, und seine Augen hatten die Farbe von abgewetzten Bluejeans. Blassgrüne Hosenträger über einem langärmeligen weißen Hemd waren am Bund seiner khakifarbenen Hose festgesteckt. Der alte Mann sah zu, wie Donovan an die Seite des Stuhls trat. "Ich bin Donovan." Er reichte ihm die Hand. Der Mann starrte auf Donovans Hand, dann sah er mit einem fragenden Blick zu der jungen Frau auf. Sag mir nicht, dass er auch hochnäsig ist. Was ist nur los mit diesen Leuten? Er stellte seine Aktentasche auf den Boden. Die Augen des Mannes folgten seinen Bewegungen. "Er ist nicht blind", sagte Donovan zu der Frau. Sie schaute von dem alten Mann zu ihm. "Er ist nicht blind." "Sie sind nicht blind", sagte Donovan. Sie schien verblüfft. "Sie sind nicht blind." "Okay", sagte Donovan, "niemand ist blind." "Keiner ist blind." Ich fühle mich, als spräche ich mit einem Papagei. Noch ein Versuch, dann bin ich raus aus dieser Klapsmühle. "Sie haben mich angerufen", sagte er zu der jungen Frau. Sie nickte. "Weil ..." Sie ging zu einem uralten Rollschreibtisch, holte einen Stapel Papiere heraus und brachte sie zurück. Sie hielt sie Donovan hin. Er nahm sie und warf einen Blick auf das oberste Exemplar. Es war eine verblichene fotostatische Kopie eines U.S. Marine Corps DD-214, eine militärische Entlassung. Darauf stand "William S. Martin" und die Nummer seiner Militäreinheit. Donovan blätterte auf die nächste Seite und scannte sie. Ein Eintrag stach ihm ins Auge: Geburtsdatum: 13. August 1925. "Wow!" Donovan flüsterte. "Mister", las er den Namen oben auf der Seite, "Martin, wie alt sind Sie?" Mr. Martin richtete seine dünnen Schultern auf und verschränkte die Arme vor der Brust. "William S. Martin, Private First Class, eins acht fünf sechs neun vier acht acht." "Hier steht, dass Sie am dreizehnten August neunzehnhundertfünfundzwanzig geboren wurden. Kann das richtig sein?" Der alte Mann starrte Donovan einen Moment lang an. "William S. Martin, Private First Class, eins acht fünf sechs neun vier acht acht." "Ja", sagte Donovan, "Name, Rang und Seriennummer. Das habe ich verstanden. Wenn das Geburtsdatum korrekt ist, sind Sie dreiundneunzig Jahre alt." Mr. Martin starrte ihn nur an. "Diese Entlassungsurkunde ist auf den ersten Dezember fünfundneunzehnfünfundvierzig datiert. Sie haben also im Zweiten Weltkrieg gedient?" "William S. Martin, Private First Class, eins acht fünf sechs neun vier acht acht." Donovan sprach zu der Frau. "Warum gibt er ständig seinen Namen, seinen Rang und seine Seriennummer an?" "Das macht er auch bei mir. Sogar wenn ich ihn frage, sagt er diesen Namenskram schon seit zwei Wochen oder mehr. Sonst hat er nichts zu sagen." Donovan war von der Rede der Frau fast genauso überrascht wie von dem alten Mann, der immer wieder die gleichen Informationen wiederholte. Sie sprach gebrochenes Englisch, aber es war nicht so, als wäre ihre Muttersprache eine andere Sprache, denn sie hatte keinen ausländischen Akzent. Es schien nur so, als ob sie nicht wüsste, wie sie ihre Worte richtig anordnen sollte. Sie ist also doch nicht perfekt. Die junge Frau griff nach dem Papierstapel, blätterte ein paar Seiten um, zog einen Brief heraus und legte ihn oben auf den Stapel. Donovan las laut vor: Abteilung für Veteranenangelegenheiten 5000 Woodland Ave Philadelphia, PA 19144 24. März 2014 Mr. William S. Martin 1267 Bradley Street Avondale PA 19311 Sehr geehrter Herr Martin, Wir sind über Ihren Verstorbenenstatus vom 4. Juni 1988 informiert worden. Wir stellen hiermit Ihre Invaliditätsentschädigungszahlungen mit Wirkung ab diesem Datum ein und verlangen weiterhin die Rückzahlung der bisherigen Entschädigung vom 5. Juni 1988 bis zum heutigen Tag in Höhe von 745.108,54 $, die an das Department of Veterans Affairs zu zahlen ist. Sollte dieser Betrag nicht sofort gezahlt werden, werden wir von Ihrer monatlichen Invaliditätsentschädigung einen Betrag in Höhe von 20.780,80 $ pro Monat einbehalten, bis der Gesamtbetrag zurückgezahlt ist. Mit freundlichen Grüßen, Mr. Andrew J. Tankers, Verwaltungsassistentin des Direktors, Ms. Karen Crabtree. Die VA dient denjenigen, die unserem Land gedient haben. Donovan drehte den Brief, um das Licht von einem nahe gelegenen Fenster einzufangen. Er schielte auf die Unterschrift. Ja, er war tatsächlich mit Tinte unterschrieben, nicht vorgedruckt. Nun, Mr. Andrew J. Tankers, wie wollen Sie $20.780,80 von Mr. Martins "hiermit eingestellten monatlichen Entschädigungszahlungen" einbehalten? Vor allem, da Sie glauben, dass er 1988 gestorben ist? Donovan sah die junge Frau an. "Lesen diese Leute denn nie die Briefe, die sie unterschreiben?" Sie zuckte mit den Schultern. "Was soll ich denn tun?" Donovan fragte. "Wir können das Geld nicht mehr für die letzten zwei Monate bekommen." "Ja, ich sehe, sie haben Ihren ... ist er Ihr Großvater?" "Großartig." "Sie haben die Zahlungen deines Urgroßvaters gestoppt, weil sie denken, dass er verstorben ist." "Er ist nicht verstorben." "Das kann ich verstehen, aber wenn ein Regierungscomputer erst einmal denkt, dass man tot ist, ist es fast unmöglich, ihn vom Gegenteil zu überzeugen." "Aber wie soll das gehen?" "Sie müssen Mister Martin ... haben Sie einen Rollstuhl?" Sie schüttelte den Kopf. "Sie müssen einen Rollstuhl besorgen und Herrn Martin ... haben Sie ein Auto?" Sie schüttelte den Kopf. "Dann müssen Sie ein Taxi rufen und Mister Martin zu den VA-Büros bringen, und er kann ihnen seinen Namen und seinen Rang geben -" "Wo ist dieses Rad-Ding?" Donovan warf einen Blick zur Tür. "Ist deine Mutter hier?" "Keine Mutter." "Dein Vater?" "Beide weg, nur einer, nur Großvater und Sandia." "Wo ist Sandia?" Sie runzelte die Stirn. "Ich bin hier." "Du bist Sandia?" Sie nickte. "Bevor zwei Wochen vergangen sind, hat Großvater dieses und jenes getan, Essen nach Hause gebracht, für Licht und Wasser bezahlt und sich auch um mich gekümmert. Aber jetzt kann ich mich nur noch bemühen, für Großvater zu sorgen und alles andere mit dem Geld nicht." Donovan war einen Moment lang still. Worauf habe ich mich dieses Mal eingelassen? "Warum hast du mich angerufen?" "Ich habe dich im gelben Buch gefunden." "Zeigen Sie es mir." Sie verließ den Raum und kam mit den Gelben Seiten zurück. Sie schlug das Buch zu einer Seite auf, bei der die Ecke umgeknickt war. "Hier ist Ihre Nummer." Er sah sich die Anzeige an. 'Anwalt für Invaliditätsentschädigung. Milton S. McGuire. Wir können Ihre schwierigen Invaliditätsstreitigkeiten lösen. 555-2116.’ "Hmm..." Donovan nahm das Buch und blätterte ein paar Seiten um. "Hier ist meine Anzeige; 'Braille-Übersetzung für Blinde. Donovan O'Fallon. 555-2161.’” Er zeigte es ihr. "Sie haben die letzten beiden Ziffern vertauscht und mich statt des Anwalts erwischt." Sandia starrte die Anzeige an, und er konnte sehen, dass sie nicht verstand, was passiert war. "Ich übersetze gedruckten Text in Blindenschrift, und ich mache auch noch ein paar andere Sachen." Sandia sah ihn an und hielt ihm einen langen Moment lang die Augen zu. "Dann wollen Sie mir nicht helfen?" Die Farbe ihrer Augen war irgendetwas zwischen dem Blau eines Alpensees und dem kerzenblauen Himmel an einem lauen Sommermorgen. "Es tut mir leid", sagte Donovan. "Es gibt nichts, was ich tun kann." Sie wartete einen Moment, als würde sie versuchen, etwas zu verstehen. "Also gut." Sie führte ihn zur Haustür. Auf der Veranda sah er ihr einen Moment lang in die besorgten Augen. "Auf Wiedersehen, Sandia." "Auf Wiedersehen, Donovan O'Fallon." Sie trat zurück und ließ die Tür in Zeitlupe schließen, scheinbar aus eigenem Antrieb, und endete mit einer sanften Finsternis der Sicht. Donovan starrte auf die abgeplatzte Farbe und den abblätternden Rost, wo ihr Bild gestanden hatte. Ein vages Gefühl von Verlust zerrte an etwas in seinem Hinterkopf. Nach einem Moment begann er, den Weg hinunterzugehen. Nebenan arbeitete eine Dame in ihrem Blumenbeet. "Hallo", sagte er, als er über den überwucherten Hof auf sie zuging. Sie beäugte ihn kritisch und schaute auf das Haus, das er gerade verlassen hatte. "Hallo." "Kennen Sie die Leute, die hier wohnen?" "Sie meinen den Zurückgebliebenen und den alten Knacker?" "Ich glaube nicht, dass sie zurückgeblieben ist." "Oh? Hast du mit ihr gesprochen?" "Ja." "Und du glaubst nicht, dass sie ein paar Stöckchen zu wenig hat?" "Sie hat eine Art von Sprachbehinderung." "Nennt man das heutzutage so? Ist der alte Mann noch am Leben?" "Ja, es geht ihm gut." "Keiner hat ihn seit Monaten gesehen. Wir dachten, er sei gestorben und der Spasti hätte ihn in die Tiefkühltruhe gesteckt." Sie lachte wie eine Hyäne. Jemand anderes lachte - ein alter Mann, der hinter einer Reihe von Azaleen auftauchte, wie ein griesgrämiger Schachtelmännchen. Vielleicht war er der Ehemann der Frau. "In der Gefriertruhe!" Er hat gebrüllt wie ein Esel. Vielleicht sollte man euch beide in einen Zoo stecken. Donovan wandte sich ab und ging zu seinem Auto. Er ließ den Motor seines glänzenden rot-cremefarbenen Buick an, zog den Sicherheitsgurt über seinen Schoß und klickte ihn in den Schlitz. Er schaute in den Rückspiegel und sah zwei kleine Mädchen auf dem Bürgersteig herumspringen. Sie hatten mit Kreide krumme Vierecke auf den Zement gemalt und hüpften nun kichernd herum. Vor ihm mähte ein riesiger, verschwitzter Mann ohne Hemd und in zu engen Shorts seinen Rasen. Donovan warf einen Blick zurück auf Sandias Haus, wo hohes Gras wucherte und spindeldürre Rosenstöcke zu Boden fielen. "Verdammt", flüsterte er und stellte den Motor ab.
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