Kapitel 1-1

2034 Words
1 Heute – Zauberinsel: Magna spürte Erleichterung. Sie hatte dieses Gefühl schon so lange nicht mehr empfunden, dass sie die Emotion zunächst fast nicht erkannt hätte. Erleichterung und ein Gefühl des Friedens – ein weiteres Gefühl, das sie seit über einem Jahrhundert nicht mehr empfunden hatte. Heute würde sie – und die Sieben Königreiche – endlich frei sein. Sie musste fest daran glauben, denn dieser letzte Funken Hoffnung war alles, was sie am Leben hielt. Die Göttin würde ihr die Kraft geben, die sie brauchte, und sie würden alle frei sein. Ihre Misserfolge und Erfolge – einige neue, einige vergangene und einige bereits vergessene – überfluteten sie, bis sie das Gefühl hatte, sie immer wieder zu erleben. Ihr Herz schmerzte, als sie daran dachte, wie Orions Vater vor über einem Jahrhundert gezwungen gewesen war, sie in die Tiefen des Ozeans zu verbannen, aber dadurch war die fremdartige Kreatur isoliert worden. Sie hatte gehofft, dass das Wesen irgendwann sterben würde und sie sich aus seinem unheilvollen Griff befreien könnte, aber das war nicht der Fall gewesen. Stattdessen hatte die Kreatur unermüdlich an der Zerstörung ihrer Welt gearbeitet. Als die Insel der Meeresschlange nicht mehr ohne weiteres zugänglich gewesen war, hatte die Kreatur ihre Erinnerungen durchsucht, bis sie ihre Faszination für die Heimat ihrer Mutter, die Zauberinsel, entdeckt hatte. Indem sie ihre magischen Fähigkeiten angezapft hatte, hatte sie Magna gezwungen, auf die schöne Insel zurückzukehren und das Volk ihrer Mutter zu verraten. Die Kreatur hatte sie dazu bringen wollen, jeden zu töten, der sich widersetzte. Stattdessen hatte sie die Bewohner in Stein verwandelt und die Kreatur davon überzeugt, dass dies eine grausamere Strafe als der Tod sei. Als die Kreatur sie benutzt hatte, um einen Zauber zu sprechen, der den Bewohnern der Zauberinsel jede Nacht ihre Magie raubte, mit der Absicht, ihre Magie für selbst zu nutzen, hatte sie die Worte in letzter Sekunde verdreht, um sich selbst – und damit auch das außerirdische Wesen – zu denen zu zählen, die nachts machtlos sein würden. Wütend über ihren Fehler, war die Kreatur kurz davor gewesen, sie zu töten. Lediglich die Tatsache, dass das fremde Wesen ihren Körper brauchte, hatte ihr das Leben gerettet. Im Laufe der Jahre hatte sie immer wieder versucht, sich das Leben zu nehmen oder anderen die Gelegenheit zu geben, sie umzubringen. Jedes Mal hatte die Kreatur verhindert, dass sie beide vernichtet wurden. Ihre Leben waren miteinander verschmolzen – das Wesen konnte diese Welt weder verlassen noch ohne sie existieren. Endlich würden sich ihr Fleiß und ihre Geduld auszahlen. Sie konnte hören, wie außerhalb des Thronsaals eine Schlacht tobte. Ein bösartiges Lächeln umspielte ihre schwarzen Lippen. Sie fuhr mit einer zitternden Hand über ihr weißes Gewand. Tief in ihrem Inneren konnte sie die wachsende Frustration und die Wut des Wesens spüren. In ihrer Gier nach Macht hatte sich die Kreatur zu sehr ausgedehnt, genau wie Magna gehofft hatte. Die vereinten Kräfte von Drago, Orion und den anderen Herrschern der Sieben Königreiche hatten es geschwächt, und das Wesen erkannte langsam, dass es in tödlicher Gefahr schwebte. Magna nahm einen tiefen Atemzug. Sie würde wissen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war, um zum letzten, tödlichen Schlag auszuholen. Fast ein Jahrhundert der Gefangenschaft war vergangen, bevor ihr eingefallen war, wie sie die parasitäre Kreatur, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte, besiegen konnte. Die Planung hatte Zeit gekostet, und sie hatte in den Schatten ihres Geistes warten müssen, um die Kreatur vorsichtig zu manipulieren, bis sich alles zusammenfügte. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie gezwungen gewesen war, Gräueltaten an den Völkern ihrer Welt zu begehen. Ihre Widerstandshandlungen mussten subtil sein, aber sie hatte sich die ganze Zeit über an einen kleinen Funken Hoffnung geklammert, dass sie eines Tages ihre Zauber rückgängig machen und diejenigen befreien könnte, die sie zu Stein verwandelt hatte. Im Laufe der Jahre war sie jedoch von der dunklen Essenz der Kreatur ausgelaugt worden. Mittlerweile war ihr Körper von der ständigen Anstrengung, sich gegen die Kreatur zu wehren, geschwächt. Sie nahm daher ihre gesamte Kraft zusammen, um sicherzustellen, dass ihr Zauber mächtig genug sein würde. Dies würde ihre einzige Chance sein, die Kreatur zu vernichten. Wenn sie versagte, wären die Sieben Königreiche dem Untergang geweiht. Sie holte tief Luft und ging ihren Plan noch einmal gedanklich durch. Damit alles funktionierte, mussten vier Dinge passieren. Die ersten drei waren am schwierigsten zu bewerkstelligen gewesen, aber der letzte Punkt war der wichtigste. Zuerst brauchte sie die Magie des Drachenfeuers. Schuldgefühle und Trauer überkamen sie bei dem Gedanken an den hohen Preis, den das Königreich der Drachen bezahlt hatte. Das Wesen in ihr hatte zu Recht befürchtet, dass die Drachen das größte Potenzial hatten, es zu zerstören, und so war eine ganze Spezies aus dem Krieg ausgeschlossen worden. Alle, bis auf einen Drachen. Drachenfeuer war heißer als eine normale Flamme, und keines war intensiver als das des Drachenkönigs Drago – besonders jetzt, da es durch sein alles verzehrendes Bedürfnis nach Rache genährt wurde. Das war der Grund, warum sie ihn vor all diesen Jahren nicht in Stein verwandelt hatte. Die Kreatur hatte gegen sie gewütet und ihr unerträgliche Schmerzen zugefügt, nachdem sie kurz die Kontrolle übernommen hatte und ins Meer geflüchtet war. Unterdessen hatte Magna verzweifelt versucht, das Wesen davon zu überzeugen, dass es klug war, Drago in Ruhe zu lassen. Sie hatte der Kreatur gesagt, dass die Zauber und Schutzwälle, die die berühmte Macht der Drachen – das Drachenherz – schützten, nur aufgehoben werden würden, wenn Drago eines natürlichen Todes starb. Sie hatte ihr weisgemacht, dass der Drachenkönig schlimmere Schmerzen erleiden würde, wenn sie ihn nicht in Stein verwandelte. Er würde sich in sein unerträglich leeres Königreich zurückziehen und vor Einsamkeit und Kummer sterben. Sie hatte überlegt, das Geschenk, das die Drachen von der Göttin erhalten hatten, wieder zurückzuholen, sobald der Bann gebrochen war. Die Kreatur hatte schließlich nachgegeben, aber nur, weil sie den enormen Schmerz und die durchdringende Stille bemerkt hatte, die gefolgt waren, als Drago sich in seine Höhle zurückgezogen hatte. Magna hatte Glück gehabt, dass Drago nicht wirklich vor Einsamkeit und Trauer gestorben war. Sie brauchte Dragos Hilfe, um die Tentakel zu schwächen und zu zerstören, die das Alien an der Palastmauer und großen Teilen im Inneren ausgebreitet hatte, während sie sich auf den Parasiten konzentrierte, von dem sie beherrscht wurde. Nur ein Feuer, das durch die Magie eines Drachen erzeugt wurde, konnte dem Parasiten etwas anhaben. Außerdem brauchte sie die Macht von Orions Dreizack. Die im Dreizack enthaltene elektrische Energie würde Kreatur nicht nur daran hindern, mit ihr zu kommunizieren, sondern auch mit den unnatürlichen Kreaturen, die sie mit Hilfe ihrer Magie aus sich selbst erschaffen hatte, wie die Höllenhunde und die lebenden Ranken. Das dritte Element, das sie brauchte, war eine Waffe, die nicht aus ihrer Welt stammte. Dies war der kniffligste Teil ihres Plans gewesen. Sie hatte ein Portal zwischen den Sieben Königreichen und einer anderen Welt geöffnet, indem sie einen Zauberspruch angewendet hatte, den sie in König Orays Bibliothek entdeckt hatte. Dieses Portal hatte es Carly Tate ermöglicht, in ihre Welt zu gelangen, was eine Reihe von Ereignissen ins Rollen gebracht hatte, die schließlich zur heutigen finalen Schlacht geführt hatten. Das letzte Element war der Zauberspruch, den sie sorgfältig ausgearbeitet hatte. Das fremde Wesen brauchte einen Wirt, um zu existieren. Die einzige Möglichkeit, es zu vernichten, bestand darin, die Fesseln zu lösen, die sie vor so langer Zeit geschaffen hatte, damit die Kreatur ihren Körper verlassen konnte. Im Moment war sie nicht in der Lage, ihren Körper zu verlassen – es sei denn, Magna starb, und dann, so fürchtete sie, würde sich die Kreatur einfach einen anderen Wirt suchen. Das richtige Timing war entscheidend. Sie musste die Bindung zu dem Wesen in ihrem Inneren lösen und den Zauberspruch sprechen, um es zu töten, solange es noch in ihrer Nähe war. Gleichzeitig musste sie die anderen dazu bringen, die Kreatur anzugreifen, ihre Kräfte zu schwächen und sie abzulenken, während Magna verhinderte, dass die Kreatur von einem neuen Wirt Besitz ergriff. Und obendrein musste sie allen anderen im Raum genug Zeit verschaffen, um zu fliehen. Alle, die in der Nähe von ihr und dem Wesen waren, würden an der Kraft des Zaubers zugrunde gehen. Es gab so viele Faktoren, die misslingen konnten, dass ihr langsam ernsthafte Zweifel am Erfolg ihres Unterfangens kamen. Doch Magna schob sie rasch beiseite. All die schrecklichen Dinge, zu denen sie gezwungen worden war, die vielen qualvollen Tage der Folter, die sie seit jener Nacht vor langer Zeit ertragen musste, und all die verzweifelten Tricks hatten zum heutigen Tag geführt. Sie weigerte sich, aufzugeben und sich geschlagen zu geben. Sie zuckte nicht einmal, als die Türen zum Thronsaal nach innen explodierten und der brennende Körper eines Höllenhundes unter der sengenden Hitze zusammenbrach. Von ihrer Position im Schatten hinter dem Thron aus sah sie zwei Gestalten, die vorsichtig den Raum betraten. Sie erkannte die Frau als eine Hexe von der Zauberinsel, aber es war eher der Mann, der ihre Aufmerksamkeit erregte. Er stammte aus einer anderen Welt, der gleichen, aus der auch Carly Tate gekommen war. Er war derjenige, der ihren Plänen unwissentlich zum Erfolg verhelfen würde. Sie hob ihr Kinn und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Orion und Drago waren nicht weit hinter dem Mann und der Hexe. In ihrem Inneren konnte sie spüren, wie die Kreatur versuchte, ihren Untergebenen zu befehlen, sich im Thronsaal zu versammeln. Es waren nicht mehr viele übrig. Große Teile ihrer Ranken, die draußen postiert gewesen waren, und die meisten Höllenhunde waren bereits vernichtet worden. Die Ausläufer der Kreatur, die im Inneren des Palastes verharrten, näherten sich dem Thronsaal und überzogen die Decke mit einem dünnen Film aus schwarzem Schleim. Mach dich zum Angriff bereit, flüsterte die bösartige Stimme in ihrem Kopf. Ich bin bereit, erwiderte sie pflichtbewusst. Du wirst deine ganze Kraft auf sie loslassen. Gegen unsere vereinte Kraft werden sie nichts ausrichten können, versicherte das Wesen. Ohne ihre Herrscher werden die Königreiche uns gehören. Es ist an der Zeit, sie alle zu vernichten! Ja, stimmte Magna zu. Enttäusch mich diesmal nicht, oder der Schmerz, den ich dir zufügen werde, wird schlimmer sein als alles, was du je zuvor von mir zu spüren bekommen hast, warnte das Wesen. Ich werde dich nicht enttäuschen, versprach Magna im Stillen. Die Kreatur spürte die Entschlossenheit in ihr, ohne den wahren Grund dahinter zu kennen. Die Arroganz des Wesens war wie ein Tumor, der rasch außer Kontrolle geriet, ebenso wie seine Tentakel. Sie bewahrte die Fassung und wartete geduldig auf ihre Gelegenheit. Ihr Blick wanderte zu dem Thron, auf dem König Oray, der König der Zauberinsel, saß. Sein Körper war unnatürlich steif und gebrechlich; der Zauber, den er ausgesprochen hatte, um sich und das Königreich zu schützen, entzog ihm langsam die Lebenskraft. Wieder einmal wurde sie von einer Welle der Reue durchströmt angesichts der Schmerzen und des Leids, die sie gezwungenermaßen herbeigeführt hatte. Sie holte tief Luft und wartete, bis die Hexe und der Mann sich dem Thron näherten, bevor sie dahinter hervortrat. Sie schnitt innerlich eine Grimasse bei dem schrillen Lachen, das ihr entwich und durch den Raum hallte. Dann ließ sie eine Hand über die Rückseite des Throns gleiten und zog einen langen, gebogenen Dolch aus der Scheide, die an ihrer Taille befestigt war. Die Hexe war die Erste, die sich aufrichtete, als sie Magna bemerkte. Magna fing den intensiven Blick der Frau auf und erwiderte ihn entschlossen. „Lass ihn frei, Meerhexe“, forderte die Frau, ihr Gesicht und ihre Stimme waren wuterfüllt. Magna neigte den Kopf zur Seite und ihre Lippen verzogen sich zu einem hämischen Lächeln. „Wir sind nicht allein. Der Meereskönig, König Drago und die anderen Herrscher haben sich mit meinem Volk zusammengetan, um dich aufzuhalten.“ „Ich zittere schon bei dem bloßen Gedanken“, entgegnete Magna sarkastisch und musterte die Frau verächtlich. Sie drehte ihren Kopf leicht zur Seite, damit die Hexe das Aufblitzen der Trauer in ihren Augen nicht sehen konnte. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die gebeugte Gestalt von König Oray. Er sah aschfahl und schlapp aus. Sein fortwährender Kampf gegen das Wesen hatte ihm den Großteil seiner Kraft geraubt. Es war an der Zeit, ihn und auch die anderen zu befreien.
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