Kapitel 2
Junior
Ich funktioniere fast gänzlich auf Autopilot. Wahrscheinlich aus lauter Schock über meine unsagbare Rücksichtslosigkeit.
Dennoch weiß ich, dass es falsch ist, Desiree in diese Sache mit reinzuziehen.
Ich bin dabei, eine unserer unantastbaren Regeln zu brechen – niemals die Unschuldigen zu involvieren oder zu korrumpieren.
Aber sie war die erste Person, die mir eingefallen ist, und die einzige, der ich vertraue, Gio zu retten. Sicher, wir haben ein paar Kontakte zu Tierärzten, von denen wir früher Gebrauch gemacht haben, aber das ist Jahre her. Die müssten jetzt über achtzig sein, allesamt Freunde von meinem Großvater. Ich weiß nicht, wem wir heute noch vertrauen können.
Und wenn Gio sterben sollte, dann wäre das allein meine Schuld. Ich würde mir nie verzeihen. Dabei hadere ich ununterbrochen mit meiner Entscheidung, ihn nicht ins Krankenhaus zu bringen, aber sollte ich das tun, werden sie ihm die Morde an den Russen anhängen. Oder mir. Scheiße! Uns allen.
Mein Vater hätte das hier genauso gehandhabt. Es ist nicht das erste Mal, das wir intern eine Schusswunde behandeln. Es hatte nur noch nie ein unmittelbares Familienmitglied erwischt. Paolo, Luca und Mario folgen uns ins Haus.
Ich bringe Desiree hinein und haste, ohne ihre Hand loszulassen, die Treppen rauf.
Sie ist sauer auf mich und lässt widerwillig die Füße schlurfen, darunter aber kann ich ihre Angst spüren.
Was auch besser so ist. Sie soll Angst haben. In meiner Branche ist Angst ein unverzichtbarer Bestandteil des Geschäfts.
Wir erreichen den Flur und ich gehe zum Gästezimmer, wo Paolo und ich Gio abgelegt hatten. Bei unserer Ankunft hier war er bereits ohnmächtig geworden.
„Oh Kacke.“ Desiree sieht Gio. Sie streift ihren Mantel ab, wirft ihn zu Boden und eilt ins Zimmer.
Ich bin nur noch erleichtert. Meine Befürchtung, ich müsste sie zwingen, damit sie sich ihn überhaupt ansieht, löst sich in Luft auf. Sie ist bereits im Schwesternmodus und voll auf ihren Patienten fokussiert.
„Dein Bruder.“
Sie hat ihn also schonmal getroffen.
Oder sie sieht einfach nur die Ähnlichkeit.
„Lass mich sehen.“ Sie hebt den blutgetränkten Waschlappen von seiner Wunde. „Schusswunde“, stammelt sie. „Hilf mir, ihn auf die Seite zu rollen. Ich muss nachschauen, ob es eine Austrittswunde gibt.“
Die ist mir bereits aufgefallen, aber ich helfe ihr trotzdem, damit sie selbst sieht.
„Gut, das ist gut. Das heißt, wir müssen keine Kugel rausfischen. Wie viel Blut hat er verloren?“
Keine Ahnung, ob sie eine exakte Berechnung von mir erwartet, also halte ich das Handtuch hoch, das er vor dem Waschlappen durchgeblutet hat.
„Sehr gut. Noch ein gutes Zeichen. Wenn eine große Arterie getroffen wäre, würde es sehr viel mehr Blut geben.“
Das hatte ich auch schon vermutet, ich will aber nicht ihre Arbeit stören. „Sag mir, was du brauchst.“ Ich deute auf Paolo im Türrahmen. Er holt sein Telefon raus, um Notizen zu machen.
„Eine Nadel und einen Faden, um die Wunden zu schließen. Verbandszeug. Kochsalzlösung. Viel Kochsalzlösung, um sie sauber zu halten. Zur Not könnte ich auch Alkohol nehmen, aber Kochsalzlösung wäre wirklich besser. Und ich brauche Injektionsnadeln für den Tropf – falls möglich Kaliber 21. Und die Tüten und Schläuche. Kaliumnatriumtartrat für den Tropf. Und ein Antibiotikum. Ist er allergisch auf Penizillin?“
„Nein.“ Auf einmal schnürt die Angst um Gio mir die Kehle zu.
„Dann Penizillin.“
„Warte. Nochmal. Ich hab nicht alles verstanden“, spricht Paolo.
Sie wiederholt die Liste. „Ein Schmerzmittel oder Muskelrelaxans wäre auch gut, denn eine Weile wird es höllisch wehtun.“
„Verstanden“, entgegnet Paolo.
Die Entscheidung, Desiree dazuzuholen, fühlt sich mit jeder Minute besser an. Ihre schnelle, entschiedene Art ist genau der Grund, wie sie meine Mutter von sich überzeugen konnte. Und meiner Mutter kann man es sonst nie recht machen. Sie macht einen hervorragenden Job.
Und außerdem ist sie auch schön anzusehen.
Nicht, dass ich sie deswegen hierher geschleift hätte.
Sie beäugt nochmal die blutigen Handtücher. „Ich glaube nicht, dass eine Bluttransfusion nötig ist.“
„Fall doch, kannst du mein Blut nehmen“, sage ich rasch. Ich weiß noch, wie sie als Kinder unsere Blutgruppen festgestellt hatten und wir Tacones alle dieselbe hatten – Null positiv.
„Oder meines“, spricht Paolo. Er ist beinahe genauso bleich wie Gio.
„Das wäre alles?“, frage ich.
„Im Kofferraum meines Wagens ist ein Erste-Hilfe-Kasten. Den hätte ich auch gerne.“
„Bring ihren Wagen an einen sicheren Ort“, weise ich Paolo an.
„Bin schon dabei“, murmelt Paolo und bricht auf.
Ich habe keine Ahnung, wo er den ganzen Scheiß für sie auftreiben soll, aber ich bin sicher, dass er es irgendwie hinkriegt; genau, wie er irgendwie herausbekommen hat, wie er Desiree finden und herbringen soll. Es geht hier immerhin um das Leben unseres Bruders.