Kapitel 1-2

1254 Words
Desiree Ich nehme kaum meine Umgebung wahr, als ich mit dem Schlüssel in der Hand zu meinem vierzehn Jahre alten Honda Civic rüberlaufe. Den funkelnden schwarzen Range Rover, der ein paar Plätze weiter parkt, bemerke ich gar nicht. Ich bekomme keine Warnung von meinem Bauchgefühl. Vielleicht hätte es mich gewarnt, hätte ich nicht eben eine Zwölf-Stunden-Schicht auf der Unfallstation hinter mir. Womöglich wäre ich dann nicht einfach raus in die Parkgarage gestapft, hätte nicht das Angebot des Wachmanns, mich zu meinem Wagen zu begleiten, verworfen. Erst als zwei große Typen in Trenchcoats auftauchen und direkt auf mich zu kommen, schrillt mein Alarm. Oh Gott. Das wars. Sie werden mich vergewaltigen und umbringen. Mein Herz hämmert wie wild und eine Sekunde bin ich wie erstarrt, dann presche ich nach vorne und renne zu meinem Auto, ehe sie mich schnappen können. „Halt!“ Einer von ihnen brüllt und beide stürzen los, der eine versperrt meine Fahrertür und der andere kommt auf mich zu. „Desiree Lopez?“ Ich kann nicht fassen, dass sie meinen Namen kennen. Ich mache den Mund auf und will schreien, aber der Typ stülpt seine Hand über meinen Mund. „Keinen Mucks.“ Die knappe Anweisung klingt finster. Er riecht nach Zigarrenrauch. Er nimmt mir die Handtasche von der Schulter, holt meine Geldbörse raus und schaut auf meinen Ausweis. „Ja, das ist sie.“ Adrenalin schießt durch meine Adern. Ich weiß, wie es läuft. Wenn dich erstmal einer ins Auto zerrt, dann ist dein Schicksal besiegelt, also musst du dich wehren. Ich ramme meinem Kidnapper den Ellbogen in die Flanke und reiße den Kopf herum, um ihn in die Hand zu beißen. Aber es nutzt nichts. Er murmelt einen Fluch in einer anderen Sprache und packt fester zu. Ich wehre mich mit aller Kraft, ich drehe, zerre, winde mich, aber es macht ihm nichts aus. Er hebt mich hoch und wuchtet mich nach vorne. Sein Kumpel tritt von hinten heran und drückt mir eine Pistole gegen die Rippen. „Schluss mit den Mätzchen. Ab ins Auto.“ Sie hieven mich auf die Rückbank des Range Rovers und quetschen mich in ihre Mitte. Der Wagen fährt los und einer von ihnen reißt mir die Handtasche vom Leib. Ich bekomme einen Beutel übers Gesicht gestülpt und will mich erneut zur Wehr setzen, aber sie schnappen sich einfach meine beiden Handgelenke und fixieren sie links und rechts unten; sie haben leichtes Spiel. „Okay, wir haben sie“, sagt einer von ihnen. Zuerst glaube ich, er spricht mit dem Fahrer, dann aber wird klar, dass er in ein Telefon sprechen muss. „Wir sehen uns gleich.“ „W-was geht hier vor sich?“, fiepe ich. Keine Antwort. Der Anruf gibt mir zu denken. Sie würden nicht erst irgendwo anrufen und sagen, dass sie mich geschnappt haben, wenn sie mich vergewaltigen und hinterher umbringen wollten, oder? Doch, würden sie. Wenn sie nach einer Jungfrau für ihr satanisches Ritual verlangen. Ich bin aber keine Jungfrau mehr. Und diese Theorie ist eher unwahrscheinlich. „Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, aber bitte. Bitte lassen Sie mich gehen.“ Wieder bemüht sich niemand, mir zu antworten. Der Range Rover fährt schnell und da er kaum bremst, würde ich wetten, dass er durch Stoppschilder oder rote Ampeln hindurchrauscht. Er fährt so schnell, dass ich in den Kurven gegen die beiden Männer links und rechts von mir gedrückt werde. Die Fahrt dauert lange genug, um mich nochmal richtig in meine Angst hineinzusteigern. Die Angst wird so groß, dass mein Atem zu zitternden, lautlosen Schluchzern wird. Keine Tränen. Ich muss viel zu verängstigt sein, um loszulassen. Und dann halten sie an. Der Mistkerl zu meiner Rechten zerrt mich aus dem Wagen und ich stolpere hilflos umher, da der schwarze Sack über meinem Köpf mir sowohl die Sicht als auch den Gleichgewichtssinn raubt. Die Umgebung ist ruhiger – wir sind nicht länger in der Stadt, aber ich habe immer noch Asphalt unter den Füßen. „Was zum Teufel treibt ihr da?“, zischt eine erboste Männerstimme und sie kommt mit jedem Wort näher. „Ich hab gesagt, ihr sollt ihr nicht wehtun.“ „Sie ist nicht verletzt, sie hat nur Schiss.“ Die Stimme neben mir klingt ebenfalls gedämpft. Wir müssen an einem Ort sein, wo die Leute uns hören können. Etwa in einer Nachbarschaft? „Lass sie los.“ Der Sack fliegt von meinem Kopf. Ich öffne den Mund und setze zum Schrei an, aber der Laut verstummt auf meinen Lippen, als ich in das bohrende, dunkle Paar Augen blicke, das über dem maskulinen Stoppelkinn meines ehemaligen Arbeitgebers auf mich hinabstarrt. Junior Tacone. Scheiße. Mein galoppierender Puls wird langsamer, setzt ganz aus und rast wieder los. „Junior.“ Ich rede ihn genauso an, wie seine Mutter es getan hatte, als ich mich um sie gekümmert hatte. Das ‚Mister Tacone‘ und den damit einhergehenden Respekt lasse ich weg. Und dann, weil ich mich damals tatsächlich zu diesem Mann hingezogen gefühlt hatte – und gedacht hatte, er könnte vielleicht auch auf mich abfahren – und weil ich mich gerade zu Tode erschreckt habe, verpasse ich ihm eine Ohrfeige. Eine, die sich gewaschen hat. Die Männer zu meinen Seiten murren erbost und packen erneut meine Arme. „Lasst sie los.“ Er packt stattdessen meine Unterarme und zieht mich an sich ran. Durch seinen langen Wollmantel bekomme ich seinen festen, stattlichen Körper zu spüren. Sein Blick ist finster und dominant. Eindringlich. „Das werde ich dir ausnahmsweise durchgehen lassen. Weil sie dir Angst eingejagt haben.“ Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Er wird es mir durchgehen lassen. Ausnahmsweise. Normalerweise hat es also Konsequenzen, wenn man den Gangsterboss schlägt. Aber natürlich. „Jetzt komm rein, ich brauche deine Hilfe.“ Ich schaue den Bürgersteig hinauf auf das riesige Haus im Schein der Straßenlaternen. Es ist nicht das viktorianische Backsteinhaus seiner Mutter, wo ich nach ihrer Hüftoperation drei Monate lang als Krankenschwester gearbeitet hatte. Ist das also sein Haus? Ich will mein Handgelenk aus seinem Griff befreien. „Nein. Du kannst mich nicht einfach ‍… kidnappen und sagen, dass du meine Hilfe brauchst.“ Er wechselt seinen Griff und neigt den Kopf Richtung Haus. „Lass uns reingehen.“ Er macht sich nicht mal die Mühe, auf meinen Einwand einzugehen. Wohl, weil ich völlig falsch liege. Er kann mich sehr wohl kidnappen und meine Hilfe in Anspruch nehmen. Er ist Junior Tacone, von der Chicago-Mafia. Er und seine Männer haben Pistolen. Sie können verdammt nochmal machen, was sie wollen. Die Erleichterung in mir, als ich sein charmantes Gesicht erblickt hatte, verfliegt wieder. Kann gut sein, dass ich hier nicht mehr lebend rauskomme. Was auch immer mich in diesem Haus erwartet, wird nicht angenehm werden. Oder legal. Jemand ist verletzt und sie brauchen eine Krankenschwester. Darauf würde ich jedenfalls tippen. Und jetzt werde ich Zeugin für was auch immer sie zu vertuschen versuchen. Wurde jemand von ihren Leuten verletzt? Oder sind sie dabei, jemanden zu foltern? Soll ich ihn am Leben halten, damit sie irgendetwas aus ihm herauskriegen können? Mir bleibt nichts anderes übrig, als mitzukommen. Ich mag zwar unerschrocken sein, aber ich möchte nicht herausfinden, was passiert, wenn man den Gangsterboss von Chicago vor den Kopf stößt. Ich folge ihm und beeile mich, um mit seinen großen Schritten mitzuhalten. Sein Griff wandert nach unten, sodass seine mächtige Pranke mein eiskaltes Händchen wärmt. Das Ganze hat eine fürsorgliche Qualität, fast als wären wir auf einem Date. Als hätte er mich nicht eben gekidnappt.
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