KAPITEL ZWEI

1984 Words
KAPITEL ZWEI Es war kurz nach 13 Uhr, als Avery vor Roses Haustür stand. Sie lebte in einer Erdgeschosswohnung in einem netten Teil der Stadt. Sie konnte es sich dank der Trinkgelder leisten, die sie als Barkeeperin in einer teuren Bar erhielt - eine Arbeit, die sie bekam, kurz bevor Avery in ihre neue Hütte gezogen war. Ihre Arbeit davor war etwas weniger glamourös, sie hatte in einem Franchise-Restaurant gekellnert, während sie nebenbei von Zuhause aus ein paar schlecht bezahlte Texte für Werbeagenturen schrieb. Avery wünschte, Rose würde sich zusammenreißen und das College zu Ende machen, aber sie wusste, je mehr sie Rose dazu drängen würde, umso wahrscheinlicher würde sie diesen Weg nicht einschlagen. Avery klopfte an die Tür. Sie wusste, dass Rose zu Hause war, denn ihr Auto stand einen Block weiter am Straßenrand. Selbst wenn Avery diesen Hinweise nicht gehabt hätte, wusste sie, dass Rose, seit sie auf eigenen Beinen stand, sich Jobs mit späten Arbeitsstunden suchte, damit sie lange schlafen und sich den ganzen Tag im Haus herumtreiben konnte. Sie klopfte lauter und als Rose nicht öffnete, wollte sie schon fast ihren Namen rufen. Sie entschied sich dagegen, denn ihre Stimme wäre ihr noch weniger willkommen als die des Vermieters, dem sie aus dem Weg gehen wollte. Wahrscheinlich denkt sie sich, dass ich es bin, weil ich sie vorher angerufen habe, dachte sie. Angesichts dessen dachte sie, sie sollte damit weitermachen, was sie am besten konnte: Verhandeln. „Rose“, sagte sie und klopfte erneut. „Aufmachen. Hier ist deine Mutter. Und es ist kalt hier draußen.“ Sie wartete einen Moment und es kam immer noch keine Antwort. Anstatt wieder anzuklopfen, näherte sie sich ruhig der Tür und stand so nah wie möglich davor. Als sie wieder sprach, sprach sie lauter, damit sie Innen gehört werden konnte, aber nicht annähernd laut genug, um draußen ein Szene zu veranstalten. „Du kannst mich weiterhin ignorieren, wenn du willst, aber ich werde bleiben, Rose. Und wenn ich wirklich will, erinnere dich, was ich beruflich gemacht habe. Wenn ich wissen will, wo sich jemand befindet, finde ich er heraus. Oder man kann es sich leicht machen und die verdammte Tür öffnen.“ Nachdem das gesagt war, klopfte sie noch einmal. Dieses Mal kam innerhalb weniger Sekunden die Antwort. Rose öffnete langsam. Sie schaute aus der Wohnung hinaus wie eine Frau, die der Person auf der anderen Seite der Tür nicht traute. „Was willst du, Mama?“ „Für eine Minute oder zwei reinkommen.“ Rose überlegte einen Moment und öffnete dann die Tür. Avery tat ihr Bestes, um zu verbergen, dass ihr Rose Gewichtsverlust entgangen war. Sie hatte ihre Haar schwarz gefärbt und geglättet. Avery ging hinein und fand die Wohnung sorgfältig geputzt vor. Auf der Couch stand eine Ukulele, etwas, das hier sehr fremd wirkte. Avery zeigte darauf und warf Rose einen fragenden Blick zu. „Ich wollte ein Instrument lernen“, sagte Rose. „Gitarre ist zu zeitaufwendig und Klaviere sind zu teuer.“ „Bist du gut?“, fragte Avery. „Ich kann fünf Akkorde spielen. Damit kann ich fast ein Lied spielen.“ Avery nickte beeindruckt. Sie hätte fast gefragt, ob sie das Lied hören könnte, aber sie dachte sich, dass es vielleicht kein guter Moment war. Sie dachte dann darüber nach, sich auf die Couch zu setzen, wollte aber nicht so aussehen, als würde sie es sich hier gemütlich machen wollen. Sie war sich ziemlich sicher, dass Rose diese Einladung nicht aussprechen würde. „Mir geht es gut, Mom“, sagte Rose. „Falls du deshalb hier bist...“ „Das bin ich“, sagte Avery. „Und ich wollte kurz mit dir sprechen. Ich weiß, du hasst mich und gibst mir die Schuld an allem, was passiert ist. Und es ist scheiße, aber ich kann damit umgehen. Aber heute habe ich einen Anruf von deinem Vermieter bekommen.“ „Oh Gott“, sagte Rose. „Dieser gierige Trottel wird mich nicht in Ruhe lassen und…“ „Er will nur seine Miete, Rose. Hast du das Geld, brauchst du Geld?“ Rose lachte über die Frage. „Ich habe letzte Nacht 300 Dollar an Trinkgeld verdient“, sagte sie. „Und ich verdiene fast das Doppelte an Trinkgeldern an einem Samstagabend. Also nein... Ich brauche kein Geld.“ „Gut. Aber, er sagt auch, dass er sich Sorgen um dich macht. Dass er von einigen Dingen gehört hat, die du gesagt hast. Jetzt verarsch mich nicht, Rose. Wie geht es dir wirklich?“ „Wirklich?“, fragte Rose. „Wie es mir wirklich geht? Nun, ich vermisse meinen Vater. Und ich wurde fast von demselben Arschloch getötet, das ihn getötet hat. Und wenn ich dich vermisse, kann ich nicht einmal an dich denken, ohne mich daran zu erinnern, wie er gestorben ist. Ich weiß, es ist verdreht, aber jedes Mal, wenn ich an Dad und seinen Tod denke, muss ich dich hassen. Und mir wird klar, dass, seitdem du als Kommissarin gearbeitet hast, hat mein Leben aus dem einen oder anderen Grund gelitten.“ Es war schwer für Avery das zu hören, aber sie wusste auch, dass es viel schlimmer hätte sein können. „Schläfst du gut?“, fragte sie. „Isst du etwas Ordentliches? Rose... wie viel hast du abgenommen?“ Rose schüttelte den Kopf und ging zurück zur Tür. „Du hast gefragt, wie es mir geht und ich habe dir geantwortet. Bin ich glücklich? Auf keinen Fall. Aber ich bin nicht der Typ, der etwas Dummes macht, Mom. Wenn es soweit ist, wird es mir auch wieder gut gehen. Und es wird vorübergehen. Ich weiß es. Aber wenn es soweit ist, kann ich dich nicht mehr in meinem Leben haben.“ „Rose, es ist…“ „Nein. Mama ... du tust mir nicht gut. Ich weiß, dass du dich sehr bemüht hast, dass es zwischen uns wieder gut läuft. Du hast es mehrere Jahre lang versucht. Aber es funktioniert nicht und ich denke nicht, dass es in Anbetracht der jüngsten Ereignisse jemals wieder gut sein wird. Geh bitte. Geh und hör auf, mich anzurufen.“ „Aber Rose, das ist…“ Rose brach in Tränen aus, öffnete die Tür und schrie. „Mom, würdest du bitte verdammt noch mal gehen?“ Rose sah auf den Boden und unterdrückte ihr Schluchzen. Avery kämpfte gegen ihre eigenen Tränen, als sie dem Wunsch ihrer Tochter nachkam. Sie ging an ihr vorbei und hielt sich schmerzhaft davon ab, sie zu umarmen oder ein letztes Gespräch zu führen. Sie ging einfach durch die Tür hinaus in die Kälte. Aber das Kälteste war die hinter ihr zuschlagende Tür. *** Avery weinte, bevor sie ihr Auto starten konnte. Als sie wieder auf dem Weg zu ihrem neuen Zuhause aufbrach, tat sie alles, was sie konnte, um ihr Schluchzen unter Kontrolle zu bringen. Als die Tränen über ihr Gesicht liefen, wurde ihr klar, dass sie in den letzten vier Monaten mehr geweint hatte als in den Jahren zuvor. Zuerst starb Jack, dann Ramirez. Und jetzt das. Vielleicht hatte Rose Recht. Vielleicht tat sie niemandem gut. Denn der Tod von Jack und Ramirez waren ihre Schuld. Ihre ehrgeizige Karriere hatte den Mörder zu denen geführt, die sie am meisten liebte. Und dieselbe Karriere hatte ihr Rose entfremdet. Egal, dass diese Karriere nun vorbei war. Sie quittierte den Dienst kurz nach Ramirez' Beerdigung und obwohl sie wusste, dass Connelly und O'Malley ihr eine Hintertür offen ließen, wusste sie, dass es für sie inakzeptabel war. Sie fuhr in ihre Einfahrt, parkte und ging rein, wobei ihr immer noch Tränen über das Gesicht rannen. Es war traurig, aber wahr, dass ihr Leben leer wäre, wenn sie ihre Karriere komplett aufgeben würde. Ihr zukünftiger Ehemann wurde ermordet, ihr Ex-Mann, mit dem sie sich gut verstanden hatte, war weg und jetzt wollte die einzige Überlebende aus ihrer Vergangenheit, ihre Tochter, nichts mit ihr zu tun haben. Und statt es wieder gut zu machen, was hast du getan? fragte eine leise Stimme in ihr. Es klang fast wie Ramirez' Stimme und deutete an, dass es noch schlimmer werden würde. Du hast die Stadt verlassen und dich in den Wald zurückgezogen. Anstatt dich dem Schmerz und dem Leben zu stellen, du bist weggelaufen und hast ein paar Tage damit verbracht, dich ins Koma zu trinken. Und was machst du jetzt? Wieder weglaufen? Oder solltest du es vielleicht wieder gut machen? Zurück in der Hütte fühlte sie sich sicherer als vor Roses Haustür. Es schien den Schmerz zu dämpfen, als ihre Tochter die Tür hinter ihr zugeschlagen hat. Ja, sie fühlte sich wie ein Feigling, aber sie wusste einfach nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie hat recht, dachte Avery. Ich bin nicht gut für sie. In den letzten Jahren habe ich nichts anderes getan, als ihr Leben viel schwieriger zu machen. Zuerst war mir die Karriere wichtiger als ihr Vater und es wurde noch schlimmer, als, egal wie sehr ich es versuchte, auch meine Arbeit ständig gegen sie gewann. Und es ist wieder so, auch wenn die Karriere vorbei ist. Und zwar deswegen, weil sie mich für den Mord an ihrem Vater verantwortlich macht. Und damit liegt sie nicht wirklich falsch. Sie ging langsam zu dem Bett, das sie noch nicht ganz aufgebaut hatte. Ihr persönlicher Safe war da, stand zwischen dem Kopfteil und dem Lattenrost. Als sie ihn öffnete, dachte sie daran, wie sie Jacks Wohnzimmer betreten und seine Leiche gefunden hatte. Sie dachte an Ramirez im Krankenhaus, der bereits schwer verletzt war, bevor er getötet worden war. Ihre Hände waren von all dem besudelt. Und sie würde sich niemals davon reinwaschen können. Sie griff in den Safe und zog ihre Glock heraus. In ihren Händen fühlte sich die Waffe wie ein Freund an. Die Tränen kamen wieder hoch, als sie ihren Rücken gegen das Kopfteil lehnte. Sie blickte auf die Waffe und beobachtete sie ausgiebig. Es war so, als wäre sie ihr, da sie sie seit fast zwei Jahrzehnten an ihrer Hüfte oder an ihrem Rücken trug, näher gewesen als jemals ein Mensch. Es fühlte sich so natürlich an, als sie sie sich auf das weiche Fleisch unter ihrem Kinn presste. Es fühlte sich kalt und bestimmt an. Sie stieß ein Schluchzen aus, als sie die Waffe im besten Winkel anlegte, in dem sie die Kugel durchbohren sollte. Ihr Finger fand den Auslöser und begann dort zu zittern. Sie fragte sich, ob sie die Explosion noch hören würde, bevor sie weg war, und wenn dem so wäre, ob es so laut wäre wie das Türknallen mit dem Rose sich verabschiedet hat. Ihre Finger krümmten sich um den Auslöser und sie schloss ihre Augen. Die Türklingel läutete und sie sprang auf. Ihr Finger löste sich und ihr ganzer Körper erschlaffte. Die Glock fiel zu Boden. Fast, dachte sie, als ihr Herz Adrenalin in den Blutkreislauf pumpte. Eine Viertelsekunde später und mein Gehirn würde überall an den Wänden kleben. Sie blickte auf die Glock und trat sie aus dem Weg wie eine giftige Schlange. Sie vergrub ihren Kopf in ihren Händen und wischte die Tränen weg. Du hast dich fast umgebracht, sagte die Stimme, die wohl die von Ramirez war, oder auch nicht. Fühlst du dich nicht wie ein Feigling? Sie schob den Gedanken beiseite, als sie aufstand und zur Haustür ging. Sie hatte keine Ahnung, wer es sein könnte. Sie wagte zu hoffen, dass es Rose war, aber sie wusste, dass das nicht der Fall sein würde. Rose war in dieser Hinsicht ihrer Mutter sehr ähnlich und sehr störrisch. Sie öffnete die Tür, sah aber niemanden. Sie sah jedoch einen abfahrenden UPS-Van, der ihre Einfahrt verließ. Sie blickte auf die Veranda und sah ein kleines Paket. Sie hob es hoch und las ihren eigenen Namen mit ihrer neuen Adresse in sehr sauberer Handschrift verfasst. Die Adresse des Absenders gab keinen Namen an, nur eine New Yorker Adresse. Sie öffnete es langsam und griff hinein. Die Schachtel wog fast nichts und als sie sie öffnete, fand sie zerknüllte Zeitungen. Sie nahm alle heraus und fand am Boden der Schachtel nur eine einzige Sache. Es war ein einzelnes Blatt Papier, in der Mitte gefaltet. Sie entfaltete es und als sie die Nachricht las, blieb ihr Herz für einen Moment stehen. Und plötzlich hatte Avery nicht mehr das Bedürfnis, sich umzubringen. Sie las die Nachricht immer wieder und versuchte, ihren Sinn zu verstehen. Ihr Verstand arbeitete und suchte nach einer Antwort. Mit so einer Frage, stand es außer Frage, sich zu töten, bevor sie nicht beantwortet wurde. Sie saß auf der Couch, starrte die Nachricht an und las sie immer wieder. Wer bist du, Avery? Dein Howard
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