KAPITEL EINS

3247 Words
KAPITEL EINS Vor zwei Monaten… Als Avery Black eine der vielen Kisten öffnete, die noch immer in ihrem neuen Zuhause verstreut herumstanden, fragte sie sich, warum sie so lange gewartet hatte, um aus der Stadt wegzuziehen. Sie vermisste sie überhaupt nicht und fing tatsächlich an, sich darüber zu ärgern, dass sie dort so viel Zeit verschwendet hatte. Sie schaute in eine Kiste und hoffte, dort ihren iPod zu finden. Sie hatte die Kisten nicht beschriftet, als sie ihre Wohnung in Boston verlassen hatte. Sie hatte hastig alles in Kisten geworfen und war während eines Tages ausgezogen. Das war vor drei Wochen gewesen und sie war immer noch nicht mit dem Auspacken fertig. Die Bettlaken waren irgendwo in diesen Kisten, aber sie hatte die letzten drei Wochen auf der Couch geschlafen. Der iPod war nicht in der Kiste, dafür aber einige Flaschen mit Alkohol, die sie fast vergessen hatte. Sie zog einen Tumbler aus der Kiste, füllte ihn mit einer ordentlichen Portion Bourbon und ging auf die Veranda. Sie blinzelte in das helle Morgenlicht und nahm einen Schluck. Sie genoss das brennende Gefühl, das der Bourbon in ihrer Kehle hinterlassen hatte und trank dann gleich weiter. Sie sah auf ihre Uhr, es war kurz nach 10:00 Uhr morgens. Sie zuckte mit den Schultern und ließ sich in den alten Schaukelstuhl fallen, der seit dem Umzug auf der Veranda stand. Sie schaute sich ihre neue Umgebung an und sie überkam das warme Gefühl von Sicherheit, hier den Rest ihres Lebens ganz bequem verbringen könnte. Das Haus war nicht wirklich wie eine Hütte, hatte aber eine rustikale Atmosphäre an sich. Es war ein einfacher einstöckiger Bau mit modernem Interieur. Ihre Postanschrift war in der Nähe von Walden Pond, aber die Anschrift war weit abseits der bekannten Pfade und daher konnte sie sich als „weit draußen“ bezeichnen. Ihr nächster Nachbar war eine halbe Meile entfernt und alles, was sie hinter ihrer Veranda und dem hinteren Küchenfenster sehen konnte waren Bäume. Keine hupenden Autos. Keine geschäftigen Fußgänger, die in Eile waren, während sie in ihre Handys schauen. Kein Verkehr. Kein ständiger Gestank von Benzin und Abgasen oder das Dröhnen der Motoren. Im Morgenlicht nahm sie einen weiteren Schluck ihres Bourbons und lauschte. Nichts. Absolut gar nichts. Nun, das war nicht unbedingt wahr. Sie konnte zwei singende Vögel hören, und das leise Knirschen der Bäume, als eine kühle Brise hereinbrach. Sie hatte alles versucht, Rose dazu zu bringen, mit ihr hierher zu kommen. Ihre Tochter hatte viel durchgemacht und es war klar, dass es ihr nicht helfen würde, in der Stadt zu bleiben. Aber Rose hatte vehement abgelehnt. Nachdem Gras über den letzten Fall gewachsen war, brauchte Rose einen Ort, um dort die Schuld für den Tod ihres Vaters ablegen zu können. Und wie immer wurde Avery diese Schuld überantwortet. So sehr es auch schmerzte, Avery konnte es nachvollziehen. Sie hätte sich genauso verhalten, wenn sie an Roses Stelle wäre. Während des Umzugs hatte ihr Rose vorgeworfen, vor ihren Problemen davonzulaufen. Und Avery hatte kein Problem damit, das zuzugeben. Sie war hierhergekommen, um vor den Erinnerungen an den letzten Fall zu fliehen – an die letzten Monate in ihrem Leben, um ganz ehrlich zu sein. Es war ihnen fast gelungen die Beziehung wiederherzustellen, die sie einmal hatten. Aber als Roses Vater gestorben war - genau wie Ramirez, ein Mann, den sie als Mann an der Seite ihrer Mutter zu tolerieren begann – war es vorbei damit... da fehlt was. Rose gab Avery die Schuld an dem Tod ihres Vaters und Avery fing langsam an, sich selbst die Schuld zu geben. Avery schloss die Augen und leerte das Glas Bourbon. Sie hörte den leisen Geräuschen des Waldes zu und ließ sich von der Wärme des Bourbons trösten. Sie hatte sich im Laufe der letzten drei Wochen von ähnlicher Wärme trösten lassen und sich dabei einige Male so sehr betrunken, dass sie für einige Stunden einen Filmriss hatte. Sie hatte diese Nacht über die Toilette gebeugt verbracht und beweinte Ramirez Tod und die verlorene gemeinsame Zukunft, der sie schon so nahe waren. Avery erinnerte sich nun daran und es war ihr peinlich. Sie hatte geschworen, nie mehr zu trinken. Sie war nie ein großer Trinker gewesen, aber in den letzten drei Wochen hatten Schnaps und Wein das ihre dazu beigetragen, den Tag zu überstehen. Doch wozu? fragte sie sich, als sie aus dem Schaukelstuhl aufstand und zurück ins Zimmer ging. Sie beäugte den Bourbon, sie war versucht sich zu betrinken, damit sie mittags nicht mehr existierte, nur um einen weiteren Tag zu überstehen. Aber sie wusste, dass es feige war. Sie musste das alleine schaffen, mit einem klaren Kopf. Also stellte sie den Bourbon und die anderen Schnapsflaschen in den Küchenschrank. Sie ging zur nächsten Kiste, immer noch auf der Suche nach dem iPod. Auf der Kiste lag ein Stapel Fotoalben. Da sie an Rose dachte, fischte sie Avery schnell heraus. Es waren insgesamt drei, eins davon mit Bildern aus ihrer Collegezeit. Sie ignorierte dieses Album komplett und klappte das zweite auf. Sofort sah sie Rose. Sie war zwölf, auf einem Schlitten mit schneebedeckter Mütze. Auch auf dem Bild drunter war Rose noch zwölf. Auf diesem Foto malte sie in ihrem alten Schlafzimmer etwas auf ihrer Staffelei, das nach einem Sonnenblumenfeld aussah. Avery blätterte alles durch, bis sie etwa in der Mitte des Albums ein Bild sah, das erst vor drei Jahren an Weihnachten aufgenommen worden war. Rose und Jack, Roses Vater, tanzten wild vor einem Weihnachtsbaum. Sie lachten beide so sehr, dass einem schwindlig davon werden konnte. Jacks Weihnachtsmannmütze saß schief auf seinem Kopf und im Hintergrund glänzte die Weihnachtsdeko. Es war als drehte ihr jemand ein Messer im Herz um. Sie verspürte plötzlich das Bedürfnis zu weinen. Seit sie hierher gezogen war, hatte sie kein einziges Mal den Drang dazu verspürt, da sie im Laufe ihrer Karriere ziemlich gut darin wurde, solche Emotionen zu ersticken. Aber dann traf es sie aus dem Nichts und bevor sie es abwehren konnte, öffnete sich ihr Mund und ein qualvolles Stöhnen kam heraus. Sie griff nach ihrem Herzen, als ob das Messer wirklich da wäre und sank zu Boden. Sie versuchte aufzustehen, aber ihr Körper schien sich zu wehren. Nein, schien er zu sagen. Du wirst diesen Moment zulassen und du wirst weinen. Du wirst weinen. Du wirst trauern. Und wer weiß? Es könnte tatsächlich gut für dich sein. Sie klammerte sich an das Fotoalbum und drückte es gegen ihre Brust. Sie weinte laut und ließ für einen Moment diese Verletzlichkeit zu. Sie hasste es, dass es sich so gut anfühlte, es einfach raus zu lassen, einfach zusammenzubrechen. Sie stöhnte und weinte, sie sagte nichts - rief niemandem an, rief nicht zu Gott und betete nicht. Sie war einfach in Trauer. Und es fühlte sich gut an. Es fühlte sich wie ein Exorzismus an. Sie wusste nicht, wie lange sie dort zwischen den Kisten auf dem Boden saß. Sie wusste nur, dass sie, als sie aufstand, nicht mehr das Bedürfnis hatte, sich mit etwas Flüssigem zu betäuben. Sie musste ihren Kopf frei bekommen und ihre Gedanken ordnen. Sie spürte einen vertrauten Schmerz in ihren Händen, etwas, das noch stärker war als das Bedürfnis, ihre Gefühle zu ertränken. Sie ballte die Finger lose zu Fäusten und dachte an Zielscheiben aus Papier und die langen Bahnen der Schießstände. In ihrem Herz sammelte sich etwas mehr Leben, als sie an die wenigen Gegenstände dachte, die sie im Schlafzimmer hatte und die sie irgendwann im Zimmer einräumen würde. Das Zimmer war noch fast leer, aber es gab etwas, das sie im Dunst der letzten Tage fast vergessen hatte. Langsam versuchte Avery durch die Wohnung voller Kisten ins Schlafzimmer zu gehen. Für einen Moment stand sie in der Tür und studierte die Waffe, die in der Ecke stand. Das Gewehr war eine Remington 700, die sie seit ihrem College-Abschluss gehabt hatte. Während des letzten Jahres hatte sie große Pläne gehabt, irgendwo in der Wildnis des Winters Hirsche zu jagen. Ihr Vater hatte dies immer getan und obwohl sie nicht besonders gut darin gewesen war, machte es ihr Spaß. Sie war von ihren Freundinnen deswegen oft ausgelacht worden und hatte wahrscheinlich einen oder zwei Freunde an der Highschool wegen ihrer Zuneigung für den Jagdsport verängstigt. Als ihr Vater starb, hatte sie ihre Mutter gebeten, die Waffe zu nehmen, in der Annahme, ihr Vater hätte es so gewollt. Umzug um Umzug ist sie miteingepackt worden und landete in einem Schrank oder unter einem Bett. Zwei Tage nachdem sie in dieses Haus gezogen war, hatte sie sie zu einem Waffenhändler im Ort gebracht und ließ sie warten. Als sie die Waffe abholte, kaufte sie auch drei Schachteln Munition. Sie dachte, sie könnte genauso gut treffen, auch wenn sie nicht in der Stimmung war. Sie zog sich bis auf ihre Unterwäsche aus und schlüpfte in lange Unterwäsche. An diesem Morgen war es nicht zu kalt gewesen – knapp über dem Gefrierpunkt -, aber sie war es nicht gewohnt, draußen im Wald zu sein. Sie hatte nichts in Tarnfarben, also entschied sie sich für eine dunkelgrüne Hose und einen schwarzen Pullover. Sie war sich bewusst, dass dies nicht die sicherste Art war, jagen zu gehen, aber für den Moment sollte es reichen. Sie zog ein Paar dünne Handschuhe über (sie musste noch in einer anderen Kiste graben, um sie zu finden), schnürte ihre festen Schuhe und zog los. Sie stieg in ihr Auto und fuhr zwei Meilen zu einer Nebenstraße, die zu einem Waldstück führte, welches dem Mann gehörte, von dem sie das Haus gekauft hatte. Er hatte ihr erlaubt, auf seinem Grund zu jagen, ein Bonus zu dem Kaufpreis des Hauses für 10.000 Dollar. Sie fand die Stelle an der Straßenseite, wo sich Jäger offensichtlich schon jahrelang umgezogen oder ihre Wagen dort gewendet hatten. Sie parkte dort ihr Auto, die Fahrerseite knapp von der Straße entfernt. Sie nahm das Gewehr und ging in den Wald. Sie kam sich wirklich albern vor, als sie durch den Wald marschierte. Seit fünf Jahren hatte sie nicht gejagt - genau seit dem Wochenende, als sie von ihrer Mutter die Waffe bekommen hatte. Sie hatte nicht die passende Ausrüstung - die richtigen Stiefel, den Wildgeruch, mit dem Bäume markiert werden, die orangefarbenen Mützen oder Westen. Aber sie wusste, es war Mittwochmorgen und im Wald würden keine anderen Jäger sein. Sie fühlte sich ein bisschen wie das schüchterne Kind, das Basketball nur alleine spielte und dann wegging, wenn die besseren Kinder die Turnhalle betraten. Nach 20 Minuten kam zu einer Erhebung. Sie ging mit der gleichen Vorsicht vor, die sie als Mordkommissarin an den Tag legte. Die Waffe in ihren Händen fühlte sich gut an, obwohl sie ein bisschen fremd war. Sie war viel kleinere Waffen gewöhnt, vor allem ihre Glock und das Gewehr fühlte sich recht massiv an. Als sie oben auf der Anhöhe ankam, entdeckte sie in einigen Metern Entfernung eine umgestürzte Eiche. Sie nutzte sie als magisches Versteck, um sich auf den Boden zu setzen und dann rücklings zum Baum an ihm entlang zu rutschen. Liegend legte sie das Gewehr neben sich ab und blickte in die Baumwipfel. Sie lag friedlich da und fühlte sich noch mehr von der Welt eingeschlossen als vor einer Stunde auf der Veranda. Sie grinste, als sie daran dachte, Rose wäre hier mit ihr. Rose hasste so ziemlich alles, was mit Natur zu tun hatte und würde wahrscheinlich durchdrehen, wenn sie wüsste, ihre Mutter saß gerade im Wald mit einem Gewehr und versuchte möglicherweise ein Reh zu töten. Während sie an Rose dachte, konnte Avery ihren Verstand etwas sortieren und sich auf alles um sie herum konzentrieren. Und wenn ihr das gelang, würde auch ihr Karriere-Instinkt zurückkommen. Sie hörte die Blätter auf dem Boden und in den Bäumen rascheln, als sich die letzten störrischen Blätter gegen den aufkommenden Winter stemmten. Sie hörte etwas rechts über sich, wahrscheinlich ein Eichhörnchen, das herauskam, um in den Wind zu spähen. Sobald sie sich an ihre Umgebung gewöhnt hatte, schloss sie ihre Augen und erlaubte sich, einfach loszulassen. Sie hörte alles, aber sie sah auch, wie ihre Gedanken wieder Raum einnahmen. Jack und seine Freundin, beide tot. Ramirez, tot. Sie dachte an Howard Randall, der in die Bucht stürzte und wahrscheinlich auch tot war. Am Ende sah sie Rose... die wegen der Arbeit ihrer Mutter ständig in Gefahr war. Rose hatte es nie verdient, hatte nie darum gebeten. Sie hatte ihr Bestes getan, um eine unterstützende Tochter zu sein und sie war an ihre Grenzen gestoßen. Ehrlich gesagt, Avery war beeindruckt, dass Rose es so lange mitgemacht hatte. Besonders nach dem letzten Fall, in dem sie in Lebensgefahr war. Und es war nicht zum ersten Mal. Das Knacken eines Asts riss Avery aus ihren Gedanken. Sie öffnete ihre Augen und sie starrte wieder hoch in die größtenteils nackten Zweige. Sie griff langsam nach der Remington, als hinter ihr noch ein leise schleppendes Geräusch zu hören war. Sie drückte das Gewehr an sich und bereitete sich langsam vor. Sie stemmte sich wie ein Profi auf ihre Ellbogen. Sie atmete langsam und achtete darauf, kein Blatt in Bewegung zu versetzen. Ihre Augen suchten alles unterhalb des kleinen Hügels ab, wo sie sich versteckte. Sie entdeckte den Bock im Westen, etwa 70 Meter entfernt. Es war ein Achter-Bock. Nichts Besonderes, aber immerhin. Sie entdeckte noch eine weiteren, aber dieser war teilweise von zwei Bäumen bedeckt. Sie richtete sich etwas auf und hielt das Gewehr fest, an die umgefallene Eiche gelehnt. Sie bewegte ihren Finger und als sie den Abzug fand, umschloss sie das Gewehr fester. Sie zielte und fand es unerwartet schwierig. Als sie das Fadenkreuz anlegte (man legt kein Fadenkreuz an)und freien Schuss hatte, schoss sie. Als der Schuss abgefeuert wurde, erfüllte der Knall den Wald. Der Rückstoß war gering, aber spürbar. Als sie abfeuerte, wusste sie, dass die Kugel nach rechts abwich. Ihr Ellbogen war auf dem Baum verrutscht, als sie abgedrückt hatte. Aber sie sah den Bock nicht entkommen. Als das Geräusch des Schusses ihre Ohren und die Wälder erfüllte, schien etwas in ihrem Kopf zu zittern und dann zu erfrieren. Für einen lähmenden Moment konnte sie sich nicht bewegen. Und in diesem Moment war sie nicht im Wald, weil sie es das Reh verpasst hatte. Stattdessen stand sie in Jacks Wohnzimmer. Überall war Blut. Sowohl er als auch seine Freundin waren getötet worden. Sie konnte den Mord nicht aufhalten und sie hatte das Gefühl, sie getötet zu haben. Rose hatte Recht. Es war ihre Schuld. Sie hätte es aufhalten können, wenn sie schneller gewesen wäre - wenn sie besser wäre. Das Blut glänzte rot, Jacks Augen sahen sie tot an und schienen sie anzuflehen. Bitte, sagten sie. Bitte, mach es ungeschehen. Mach es richtig. Avery ließ das Gewehr fallen. Der Aufprall auf den Boden ließ sie die Beherrschung verlieren und sie weinte hemmungslos. Heiß flossen ihre Tränen. Sie fühlten sich wie kleine Feuerspuren in ihrem kalten Gesicht an. „Es ist meine Schuld“, rief sie in den Wald hinaus. „Es war mein Fehler. Alles.“ Nicht nur Jack und seine Freundin... nein. Auch Ramirez. Und alle anderen, die sie nicht retten konnte. Sie hätte besser sein sollen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Foto von Jack und Rose vor dem Weihnachtsbaum. Sie rollte sich an der umgestürzten Eiche zusammen und begann zu zittern. Nein, dachte sie. Nicht jetzt, nicht hier. Reiß dich zusammen, Avery. Sie kämpfte gegen die Welle der Emotionen an und schluckte sie hinunter. Es war nicht allzu schwer. In den letzten zehn Jahren war sie schließlich gut darin geworden, ihre Emotionen zu kontrollieren. Sie stand langsam auf und hob das Gewehr auf. Sie warf einen kurzen Blick dorthin zurück, wo die beiden Rehe gewesen waren. Sie bedauerte nicht, sie verpasst zu haben. Es war ihr einfach egal. Sie ging denselben Weg zurück, den sie gekommen war, trug das Gewehr über ihrer Schulter und eine Tonne an Schuldgefühlen und Versagen in ihrem Herzen. *** Auf dem Rückweg nach Hause, fand es Avery gut, dass sie das Reh nicht getötet hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie aus dem Wald gekommen war. Hatte sie ein Bungee-Seil an ihrem Auto, das sie langsam nach Hause zog? Sie wusste genug über die Jagd, es war illegal, erschossene Beute zum Verrotten im Wald zu lassen. Zu jeder anderen Zeit hätte sie das Bild eines auf dem Dach ihres Wagens befestigten Rehs witzig gefunden. Aber sie hielt es nur noch für ein weiteres Versehen. Noch eine Sache, die sie nicht richtig durchdacht hatte. Gerade als sie in ihre Straße einbiegen wollte, klingelte ihr Handy. Sie nahm es von der Ablage und sah eine unbekannte Nummer, aber eine Ortsvorwahl, die sie die meiste Zeit ihres Lebens gesehen hatte. Der Anruf kam aus Boston. Sie hob skeptisch ab, ihre Karriere hatte sie gelehrt, dass Anrufe von unbekannten Nummern oft zu Ärger führen. „Hallo?“ „Hi, spreche ich mit Ms. Black? Frau Avery Black?“, fragte eine männliche Stimme. „Ja, wer sind Sie?“ „Mein Name ist Gary King. Ich bin der Vermieter ihrer Tochter. Sie hat Sie als Kontaktperson in ihren Unterlagen genannt…“ „Geht es Rose gut?“, fragte Avery. „Soweit ich weiß, ja. Aber ich rufe wegen verschiedener Dinge an. Vor allem, weil sie mit ihrer Miete im Rückstand ist. Sie ist seit zwei Wochen überfällig und das ist das zweite Mal in drei Monaten. Ich will bei ihr vorbeigehen und mit ihr darüber zu reden, aber sie öffnet nicht und erwidert meine Anrufe nicht.“ „Dazu brauchen Sie mich sicherlich nicht“, sagte Avery. „Rose ist eine erwachsene Frau und sie kann damit umgehen, von einem Vermieter gerügt zu werden.“ „Nun, es ist nicht nur das. Ich habe Anrufe von ihrer Nachbarin bekommen, die sich darüber beschwerte, nachts lautes Weinen zu hören. Dieselbe Nachbarin behauptet, ziemlich gut mit Rose befreundet zu sein. Sie sagt, Rose hat sich in letzter Zeit verändert. Sie sagt, sie redet nur noch darüber, wie schlimm alles ist und wie bedeutungslos das Leben ist. Sie sagte, sie macht sich Sorgen um Rose.“ „Und wer ist diese Freundin?“, fragte Avery. Es war schwer zu kontrollieren, aber sie konnte fühlen, wie schnell sie wieder Kommissarin wurde. „Entschuldigung, aber ich darf das nicht sagen. Vertrauliche Informationen.“ Avery war sich ziemlich sicher, dass Mr. King Recht hatte, also drängte sie nicht weiter. „Ich verstehe. Vielen Dank für Ihren Anruf, Mr. King. Ich kümmere mich gleich. Und ich werde dafür sorgen, dass Sie Ihre Miete bekommen.“ „Das ist in Ordnung und vielen Dank… aber ich mache mir ehrlich Sorgen wegen Rose. Sie ist ein gutes Mädchen.“ „Ja, das ist sie“, sagte Avery und beendete den Anruf. Zu diesem Zeitpunkt war sie weniger als eine halbe Meile von ihrem neuen Zuhause entfernt. Sie wählte Roses Nummer, als sie ihren Fuß fester auf das Gaspedal drückte. Sie war sich ziemlich sicher, wie die kommenden Minuten ablaufen würden, aber jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, spürte sie immer noch eine leise Hoffnung. Wie erwartet, schaltete sich direkt die Mailbox ein. Seit ihr Vater ermordet wurde, hatte Rose nur einen ihrer Anrufe entgegengenommen und das war, als sie sehr betrunken war. Avery entschied sich, keine Nachricht zu hinterlassen, weil sie wusste, Rose würde sie nicht abhören und schon gar nicht zurückrufen. Sie parkte in ihrer Einfahrt, ließ den Motor laufen und rannte hinein, um sich etwas Angenehmeres anzuziehen. Drei Minuten später war sie wieder im Auto und fuhr Richtung Boston. Sie war sich sicher, dass Rose sauer sein würde, weil ihre Mutter in die Stadt kam, um nach ihr zu sehen, aber Avery fand nicht, dass sie angesichts des Anrufs von Gary King eine Wahl hatte. Als die Straße ebener und weniger kurvig wurde, gab Avery Gas. Sie war sich unsicher, wie es in ihrem alten Job weitergehen sollte, aber sie wusste, was ihr an ihrem Job fehlte: Die Tempobeschränkung missachten zu können, wann immer sie wollte. Rose steckte in Schwierigkeiten. Sie fühlte es.
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