KAPITEL DREI

1543 Words
KAPITEL DREI Scarlet stand dort, am Ende ihrer Zufahrt, starrend. Sie konnte es kaum glauben. Dor, auf der anderen Straßenseite, nur ein paar Meter entfernt, sie anschauend mit seinen intensiven, grauen Augen, stand der neue Junge. Sage. Was tat er hier, direkt vor ihrem Haus? Wie lange stand er schon dort? Hatte er ihr Haus beobachtet? War er auf dem Weg zu ihrer Zufahrt? Oder ging er nur vorbei? Aber auf dem Weg wohin? Sie lebte in einer ruhigen Vorstadtstraße und hier lief kaum jemand herum. Dann wieder war sie allerdings nur zwei Blocks von der Stadt entfernt und es war denkbar, dass er irgendwo dort hinlief. Aber das war unwahrscheinlich. Bei dem Gedanken, dass er dort stand, ihr Haus beobachtete oder dort vorbeilief, ließ sie fast ausflippen. Auf der einen Seite konnte sie nicht abstreiten, dass sie aufgeregt war, ihn zu sehen. Aufgeregt war nicht das richtige Wort. Es war mehr wie… gebannt. Sie konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden. Seine glatte Haut, sein starker Kiefer, seine Stolzen Wangenknochen und Nase, seine grauen Augen, lange Wimpern – sie hatte noch nie jemanden getroffen, der so hübsch war wie er. So edel, so stolz. Er schien hier so fehl am Platze, als würde er aus dem Sechzehnten Jahrhundert kommen. Sie konnte auch nichts daran ändern, dass sie Schmetterling im Bauch hatte, wenn sie ihn ansah. Und das war ein Gefühl, dass sie nicht haben wollte. Maria, ihre beste Freundin, hatte klar gemacht, dass sie von ihm besessen war. Wie falsch wäre es von Scarlet, ihn ihr wegzunehmen. Maria würde ihr nie vergeben. Und sie würde sich selbst nie vergeben. Abgesehen davon, dass sie ja auch Blake hatte. Hatte sie? Sie dachte wieder an Vivians Post, dass Blake sie abgeschossen hatte. Hatte Blake ihr das wirklich gesagt? Oder hatte Vivian das erfunden? Egal wie, sie war sich ziemlich sicher, dass Blake aus ihrem Leben verschwunden war. “Ähm…hi”, sagte sie, da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte. Sie hatten sich schließlich einander noch nicht vorgestellt. “Ich wollte Dich nicht erschrecken”, sagte er zurück. Sie liebte seine Stimme. Sie war so sanft, so leicht, aber gleichzeitig stark. Er hatte leise gesprochen und doch war da etwas Autoritäres in seiner Stimme. Sie könnte dieser Stimme für immer zuhören. “Ich bin Sage”, sagte er und streckte eine Hand aus. “Ich weiß”, sagte sie, als sie seine Hand nahm. Die Berührung seiner Haut war elektrisierend. Ihr Nerven kitzelten, als er ihre frierende Hand in seiner warmen hielt. “Kleine Stadt”, fügte sie hinzu, als Erklärung, aber dann war es ihr peinlich. Das war dumm von ihr gewesen, sie hätte nicht sagen sollen, dass sie seinen Namen kannte. Dadurch sah sie verzweifelt aus. Aber warte, dachte sie. Warum dachte sie überhaupt in die Richtung? Nach allem, war er Marias Mann. Oder nicht? “Deine Hand ist so kalt”, sagte er, als er auf ihren Handrücken sah. Scarlet zog sie unsicher zurück. “Tut mir leid,” sagte sie achselzuckend. “Du hast mir Deinen Namen nicht genannt”, sagte er. “Oh, tut mir leid, ich dachte, Du würdest ihn kennen”, sagte sie, dann fügte sie hinzu, “nicht das ich berühmt oder beliebt wäre, oder so. Es ist nur…nun, kleine Stadt halt, weißt Du?” Sie stolperte über ihre eigenen Worte und machte die Dinge mit jedem Satz schlimmer. Das tat sie immer, wenn sie vor Jungs nervös wurde. “Wie auch immer, mein Name ist Scarlet. Scarlet Paine.” Er lächelte. “Scarlet”, wiederholte er. Sie liebte den Klang ihres Namens in seiner Stimme. “Die Farbe von vielen Dingen. Wein, oder Blut, oder Rosen. Natürlich bevorzuge ich letzteres”, fügte er lächelnd hinzu. Scarlet lächelte zurück. Wer sprach denn so? fragte sie sich. Es war, als würde er aus einer anderen Zeit stammen, einem anderen Ort. Sie würde sterben, um mehr von ihm zu erfahren. “Was tust Du hier?” fragte sie, dann fand sie, dass es zu hart klang. “Ich wollte nicht unfreundlich sein oder so. Ich meine nur, was machst Du vor meinem Haus?” Er sah einen Moment nervös aus. “Ja”, sagte er. “Seltsames Timing, oder nicht? Ich war gerade in der Stadt und dachte, ich seh mich mal ein bisschen um. Ich bin neu hier und dachte, ich würde sehen, wo diese Straße hinführt. Ich hatte keine Ahnung, dass sie mich zu Dir führen würde.” Scarlet fühlte sich besser. Zumindest stalkte er nicht ihr Haus oder so. “Nun, da gibt es nicht viel zu sehen. Diese Stadt geht ja nur ein paar Blocks in jede Richtung. Noch ein paar Blocks in die Richtung und das war´s dann.” Er grinste. “Ja. Ich war gerade dabei, das selbst herauszufinden.” Plötzlich rannte Ruth zu ihm, sprang an ihm hoch und leckte seine Hand. “Nicht springen”, tadelte Scarlet sie. “Es ist ok”, sagte er. Er kniete sich hin und streichelte Ruth sanft, streichelte ihr Fell mit seinem Handrücken, kraulte sie hinter den Ohren. Ruth lehnte sich an ihn und leckte seine Wange. Sie begann zu winseln und Scarlet konnte sehen, dass sie ihn wirklich mochte. Sie war schockiert. Ruth war immer so beschützend ihr gegenüber und sie hatte noch nie gesehen, dass sie zu einem Fremden so war. “Was für ein schönes Tier. Bist Du doch, Ruth?”, sagte er. Ruth lehnte sich fester an ihn und leckte ihn erneut und er küsste sie auf die Nase. Scarlet war fassungslos. “Woher weißt Du, dass ihr Name Ruth ist?” Er stand plötzlich auf, überrumpelt. “Ähm…Ich habe es gelesen. Auf ihrem Halsband.” “Aber der Aufdruck ist schwach”, sagte sie. “Ich meine, ich kann es kaum lesen.” Er zuckte mit den Achseln, lächelte. “Man sagt mir nach, ich könne gut sehen”, sagte er. Aber Scarlet war nicht überzeugt. Der Aufdruck war so verblichen, dass fast nichts mehr übrig war und sie konnte sich kaum vorstellen, wie er das gelesen haben wollte. Es machte sie verrückt. Woher kannte er ihren Namen? Aber zur gleichen Zeit fühlte sie sich sehr wohl in seiner Gegenwart. Und auf Grund der Situation, in der sie war, freute sie sich über Gesellschaft. Sie wollte nicht, dass er ging. Aber zur selben Zeit dachte sie an Maria und wie sauer sie sein würde, wenn sie vorbeiführe und sehen würde, dass sie hier mit ihm stand. Sie wäre so eifersüchtig. Sie würde sie vermutlich ihr Leben lang hassen. “Du bist so ziemlich das Geheimnisvollste hier”, sagte Scarlet. “Der neue Schüler. Keiner weiß wirklich etwas über Dich. Aber eine Menge Leute sterben vor Neugier.” “Tun sie das?” zuckte er mit den Achseln. Scarlet wartete, aber er gab nicht mehr von sich preis. “So…wie…was Deine Geschichte ist?” sagte sie. “Ich denke, jeder hat eine, oder?” fragte er. Er drehte sich um und sah zum Horizont, als wenn er überlegen müsste, was er ihr erzählen könnte. “Ich glaube, meine ist langweilig”, sagte er. “Meine Familie…ist vor kurzem hier hingezogen. Also bin ich hier und beende hier mein letztes Jahr.” “Ich habe gehört, Du hast…eine Schwester?” Ein Lächeln deutete sich in seinen Mundwinkeln an. “Hier wird viel geredet, nicht wahr?” fragte er mit einem Grinsen. Scarlet errötete. “Sorry”, sagte sie. “Ja, ich habe eine”, antwortete er, aber gab nicht mehr preis. “Sorry, ich wollte Dich nicht ausquetschen”, sagte sie. Er sah sie an und als sie hochsah, verband sich ihr Blick mit seinem – und für einen Moment fühlte sie sich, als würde die Welt um sie herum schmelzen. Zum ersten Mal an diesem Tag schoben sich all ihre Probleme in den Hintergrund. Sie fühlte sich, als würde sie fliegen. Sie wollte aufhören, ihn anzuschauen, ihre Gefühle unterdrücken, ihre Gedanken an Maria beschwören und sich selbst zwingen, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Aber sie konnte nicht. Sie war eingefroren. “Ich fühle mich geschmeichelt, dass Du das getan hast”, sagte er. Er schaute sie weiterhin an, dann, nach einem Moment, fügte er hinzu, “Würdest Du gerne mit mir spazieren gehen?” Ihr Herz begann, heftiger zu schlagen. Sie wollte mit ihm mitgehen. Sie wollte das mehr als alles andere auf der Welt. Aber ein Teil von ihr hatte Angst. Sie war immer noch erschüttert von ihrer Zeit mit Blake. Sie traute sich nicht selbst, ihren eigenen Gefühlen, ihrem Körper, ihren Reaktionen. Und sie hatte Angst, ihre beste Freundin zu betrügen – obwohl in Wahrheit, Maria natürlich keinen Anspruch auf Sage hatte. Aber vor allem traute sie sich nicht selbst. Was auch immer zwischen ihr und Blake vorgefallen war, der Impuls zu fressen könnte noch da sein. So sehr sie auch mehr wollte, hatte sie doch das Gefühl, sie müsse ihn beschützen. “Es tut mir leid” sagte sie. “Ich kann nicht.” Sie sah die Enttäuschung in seinen Augen, als er nickte. “Ich verstehe.” Scarlet hörte plötzlich das Geräusch von zuschlagenden Türen in ihrem Haus, zusammen mit gedämpften Stimmen, die immer lauter wurden. Es waren ihre Eltern, streitend. Sie konnte sie sogar von hier aus hören. Eine weitere Tür schlug zu und sie drehte sich um und sah das Haus mit Sorge an. “Es tut mir leid, aber ich muss jetzt wieder reingehen—”, sagte sie, als sie sich wieder zu ihm rumdrehte, um sich zu verabschieden. Aber als sie sich wieder rumdrehte, war sie völlig verwirrt. Da war kein Zeichen mehr von Sage. Nirgendwo. Sie schaute in beide Richtungen, drehte sich rum und schaute den Block hinunter, aber da war nichts. Es war unergründlich. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Sie fragte sich, wie er so schnell weggerannt sein konnte. Es war unmöglich. Sie fragte sich, wo er hin war und ob sie noch Zeit hatte, ihn einzuholen. Denn jetzt fühlte sie einen überwältigenden Drang mit ihm zusammen zu sein, mit ihm zu sprechen. Sie bemerkte, blitzartig, dass sie den dümmsten Fehler ihres Lebens begangen hatte, als sie nein gesagt hatte. Jetzt, da er fort war, schmerzte jedes Körperteil in dem Verlangen nach ihm. Sie war so ein Idiot. Sie hasste sich selbst. Hatte sie ihre Chance für immer vergeben?
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