KAPITEL VIER
Immer noch erschüttert von ihrer Begegnung mit Sage ging Scarlet gedankenverloren in ihr Haus.
Sie wurde unsanft herausgerissen, indem sie direkt in ihre streitenden Eltern lief. Sie konnte es nicht glauben. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass die beiden sich je zuvor gestritten hatten und jetzt war das alles, was sie taten; sie spürte einen Stich der Schuld und die Frage, ob das an ihr lag. Sie konnte nicht das Gefühl abschütteln, dass etwas Schlimmes in ihrer aller Leben begonnen hatte, etwas, das nie wieder weggehen würde und was offenbar Tag für Tag mehr eskalierte. Und sie konnte nicht umhin zu denken, dass es ihre Schuld war.
“Du gehst viel zu weit”, schrie Caleb Caitlin hinter der verschlossenen Tür an. “Ernsthaft. Was ist nur in Dich gefahren?”
“Was ist in Dich gefahren?” schoss Caitlin zurück. “Du warst immer auf meiner Seite, hast mich immer unterstütz. Nun ist es, als würdest Du mich ablehnen.”
“Ablehnen?” schoss er zurück.
Scarlet konnte es nicht länger ertragen. Als wenn ihr Tag nicht schon schlimm genug gewesen wäre – sich das anzuhören, brachte sie an den Rand der Verzweiflung. Sie wollte nur, dass sie aufhörten zu streiten. Sie wollte, dass sie wieder normal würden.
Sie ging ein paar Schritte und stieß die Tür zum Esszimmer auf, in der Hoffnung, dass ihr Erscheinen dazu führen würde, dass die beiden aufhörten.
Die beiden stoppten mitten im Streit, als sie herumfuhren und sie anstarrten, wie zwei Rehe im Scheinwerferlicht.
„Wo warst Du?”, herrschte ihr Vater sie an. .
Scarlet war verblüfft: ihr Vater hatte sie nie zuvor angeschrien und noch nie diesen Tonfall verwendet. Sein Gesicht war noch rot vom Streit und sie erkannte ihn kaum.
“Was meinst Du?”, sagte sie verteidigend. “Ich war draußen mit Ruth.”
“Eine Stunde lang?”
“Wovon sprichst Du?”, sagte sie verwundert. “Ich war nur ein paar Minuten draußen.”
“Nein, warst Du nicht. Ich war oben und habe Dein Zimmer überprüft, dann habe ich Dich rausgehen sehen und das war vor einer Stunde. Wo bist Du hingegangen?”, beharrte er und ging um den Tisch herum auf sie zu. “Lüg mich nicht an.”
Scarlet fühlte sich, als er hätte er komplett den Verstand verloren. Nicht nur, dass ihre Mutter verrückt wurde, jetzt war ihr Vater auch noch verrückt. Sie fühlte sich, als würde ihre Welt zusammen stürzen.
“Ich weiß nicht, wovon Du redest”, zickte sie zurück und dabei stieg ihre eigene Stimme auch an. Aber langsam fragte sie sich, ob sie vielleicht ihr Zeitgefühl verloren hatte. Ob irgendwas mit ihr passiert war. Ob sie schon wieder irgendwohin gegangen war und sich nicht daran erinnerte. Der Gedanke daran führte dazu, dass ihr Herz schneller schlug, als sie begann, langsam Angst zu bekommen. “Ich lüge nicht. Und ich schätze es nicht, dass du mich dessen beschuldigst.”
“Hast Du eine Idee, wie krank vor Sorge wir um Dich waren? Ich wollte gerade schon wieder die Polizei rufen.”
“Es tut mir leid!” schrie sie zurück. “Ich habe nichts getan!”
Sie zitterte innerlich vor dem Ausmaß seiner Wut und konnte nicht einen Moment länger dort stehen bleiben. Sie drehte sich um und stürmte aus dem Raum, und brach dabei in Tränen aus. Sie rannte die Stufen hoch.
Sie hatte genug von ihren Eltern. Es war zu viel. Jetzt verstand sie nicht einmal mehr ihr Vater. Und er war immer, ihr ganzes Leben lang, auf ihrer Seite gewesen, egal, worum es ging.
“Scarlet, komm wieder her!” schrie er.
“NEIN!” schrie sie durch ihre Tränen zurück.
Sie konnte die Schritte ihres Vaters hören, der hinter ihr die Treppe hochkam und sie rannte schneller. Sie rannte den Flur entlang, zu ihrem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Einen Moment später klopfte er gegen die Tür.
“Scarlet. Öffne die Tür. Es tut mir leid. Ich möchte mit Dir reden. Bitte. Es tut mir leid.”
Aber Scarlet machte das Licht aus und sprang ins Bett, wo sie sich zusammenrollte. Dort lag sie und weinte und weinte.
“Geh weg!” schrie sie.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hörte sie, wie seine Schritte verschwanden.
Es war zu früh zum Schlafen und Scarlet fühlte sich zu taub, um etwas anderes zu tun. Nach einer langen Zeit griff sie herüber und nahm ihr Handy. Ihre Benachrichtigungen waren verrückt geworden – ihre f*******: Seite quoll über vor neuen Posts und Nachrichten. Dadurch fühlte sie sich noch schlechter und sie schloss es.
Eine lange Zeit lag sie nur so da, sah aus dem Fenster in die Bäume, auf die verschiedenen Farben, die im letzten Licht des Tages schimmerten. Sie beobachtete mehrere Blätter, die von den Bäumen fielen und sah zu, wie sie wirbelnd zur Erde flogen.
Sie fühlte sich überwältigt von Traurigkeit. Blake wollte nicht mit ihr zusammen sein, Vivian hatte die ganze Schule gegen sie aufgebracht, ihre eigenen Freunde verstanden sie nicht, ihre Eltern vertrauten ihr nicht und sie wusste nicht, was mit ihrem Körper geschah. Und vor allem hatte sie es versaut, mit Sage zu sprechen. Alles lief so schief. Und sie konnte nicht darum herum, an den Augenblick zwischen ihr und Blake zu denken, unten am Fluss. Sie konnte nicht aufhöre, darüber nachzudenken, was mit ihr geschehen war. Wer war sie wirklich?
Sie griff herüber und nahm ihr Tagebuch und ihren Stift, lehnte sich herüber und begann zu schreiben.
Ich verstehe mein Leben nicht mehr. Es ist surreal. Ich habe den tollsten Jungen aller Zeiten getroffen. Sage. Ich wollte es nicht zugeben, da Maria ihn mag, aber ich kann nicht mehr aufhören, an ihn zu denken. Ich habe das Gefühl, ihn irgendwoher zu kennen. Wir haben kaum miteinander gesprochen, aber ich fühle schon eine Verbindung zu ihm. Viel mehr als zu Blake.
Aber er war so schnell verschwunden und ich habe ihm dummerweise einen Korb gegeben. Ich wünschte, ich hätte das nicht getan. Es gibt noch so viele Fragen, die ich ihm unbedingt stellen muss. Zum Beispiel, wer er ist. Was er hier macht. Und warum er vor meinem Haus war. Er sagte, er ist nur vorbeigelaufen, aber irgendwie glaube ich ihm nicht. Ich glaube, er hat nach mir gesucht.
Ich erkenne meine Eltern kaum wieder. Jeden Tag verändert sich so viel. Ich weiß auch nicht mehr, wer ich bin. Es ist als wäre die ganze Welt, die ich mal kannte, die sicher und vertraut war, verschwunden. Und ich glaube morgen wird sich wieder alles ändern.
Ich fürchte mich vor Morgen. Wird mich jeder hassen? Wird Blake mich ignorieren? Werde ich Sage sehen?
Ich kann mir noch nicht mal vorstellen, was der nächste Tag bringen wird.
*
Scarlet öffnete ihre Augen, aufgeweckt durch die Türklingel. Sie sah hinaus und war geschockt, als ihr auffiel, dass bereits später Morgen war, die Sonne flutete in ihr Zimmer. Sie bemerkte, dass sie in ihren Sachen eingeschlafen war, auf der Decke. Sie griff nach ihrer Uhr und sah drauf: 8:30. Ihr Herz flatterte in Panik. Sie kam zu spät zur Schule.
Die Türglocke klingelte erneut und Scarlet sprang auf ihre Füße. Nach der Zeit zu urteilen, waren ihre Eltern schon zur Arbeit gegangen, also musste sie an die Tür gehen. Wer klingelte denn so früh am Morgen?
Sie war versucht, es zu ignorieren, sich einfach zu beeilen und für die Schule fertig zu machen, aber es klingelte schon wieder.
Ruth bellte und bellte und schließlich ließ Scarlet sie raus und folgte ihr die Stufen herunter, durch das Wohnzimmer und Richtung Tür.
Ruth stand davor und bellte wie verrückt.
“Ruth!”
Schließlich gab Ruth auf, als Scarlet zur Tür ging. Sie öffnete sie langsam.
Ihr Herz setzte aus.
Dort stehend, sie anstarrend, war Sage. Er hielt eine lange schwarze Rose in beiden Händen.
“Es tut mir leid, hier so reinzuschneien”, sagte er. “Aber ich wusste, Du wärst zu Hause.”
“Woher?” fragte sie total verwirrt.
Er starrte sie nur weiter an.
“Darf ich reinkommen?” fragte er.
“Ähm…” begann Scarlet.
Ein Teil von ihr wollte ihn unbedingt einladen, aber ein anderer Teil war vorsichtig. Was tat er hier? Warum brachte er eine schwarze Rose mit?
Aber dann konnte sie ihn nicht schon wieder fortschicken.
“Sicher”, sagte sie. “Komm rein.”
Sage lächelte breit, als er mit einem einzigen, großen Schritt über die Schwelle trat.
Als er das tat, sank er zu ihrem Erstaunen im Boden ein. Er sank und sank, wie auf Treibsand und hielt ihr eine Hand hin und schrie.
“Scarlet!”, kreischte er. “Hilf mir!”
Scarlet nahm seine Hand und versuchte ihn, hinaus zu ziehen. Aber plötzlich wurde sie auch in das Loch gezogen und tauchte mit dem Gesicht nach unten ein. Sie schrie sich die Lunge aus dem Leib, als sie mit höchster Geschwindigkeit Richtung Erdmittelpunkt gezogen wurde.
Scarlet wachte schreien auf. Sie sah sich in ihrem Raum um, ihr Herz klopfte heftig. Die ersten Strahlen des Tages kamen durch ihr Fenster. Sie sah auf ihre Uhr. 6:15.
Sie war in ihren Klamotten eingeschlafen. Sie atmete erleichtert durch, als ihr klar wurde, dass das alles ein Traum gewesen war.
Ihr Herz schlug heftig. Es hatte sich so real angefühlt.
Sie stand auf, ging in ihr Badezimmer und spritzte sich mehrere Male Wasser ins Gesicht, in dem Versuch, wach zu werden. Als sie in den Spiegel schaute, wurden ihre Ängste noch stärker: Ihr Spiegelbild. Es war anders. Sie war dort, aber ihr Spiegelbild war durchscheinend, als wäre sie ein Geist. Als wenn sie sich auflösen würde. Zuerst dachte sie, dass es am Licht läge. Aber sie drehte das Licht auf und es war immer noch dasselbe.
Sie war so panisch, sie wollte heulen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie brauchte etwas, das sie erdete. Jemanden, mit dem sie sprechen konnte. Jemand, der ihr sagen würde, dass es ok wäre. Dass sie nicht verrückt wurde. Dass sie sich nicht veränderte. Dass sie dieselbe, alte Scarlet war.
Aus irgendeinem Grund dachte Scarlet an das Angebot ihrer Mutter, mit dem Priester. Jetzt fühlte sie sich, als könne sie ihn wirklich brauchen. Vielleicht konnte er ihr helfen, sich besser zu fühlen.
Sie ging in den Flur und sah ihre Mutter, die ebenfalls durch den Flur schritt und sich für die Arbeit fertig machte.
“Mama?” fragte sie.
Caitlin stoppte und drehte sich überrascht zu ihr um.
“Oh Liebling, ich wusste nicht, dass Du schon so früh wach bist”, sagte sie. “Bist Du in Ordnung?”
Scarlet nickte nur, weil sie Angst hatte, sonst zu weinen, ging zu ihr rüber und umarmte sie lange.
Ihre Mutter erwiderte die Umarmung, hielt sie fest und wiegte sie in ihren Armen, und es fühlte sich so gut an, bei ihr im Arm zu liegen.
“Ich vermisse Dich, Schatz”, sagte ihre Mutter. “Und ich liebe Dich so sehr.”
“Ich liebe Dich auch”, sagte Scarlet an ihrer Schulter und die Tränen stiegen ihr auf.
“Was ist los?” fragte ihre Mutter, als sie sich von befreite.
Scarlet wischte eine Träne aus dem Augenwinkel.
“Erinnerst Du Dich noch an Dein Angebot? Den Priester zu treffen?”
Sie nickte.
“Ich würde gerne hingehen. Können wir zusammen dahin? Heute nach der Schule?”
Ihre Mutter lächelte breit und schien erleichtert.
“Natürlich können wir das, mein Schatz.”
Sie umarmte Scarlet noch einmal lange. “Ich liebe Dich. Vergiss das niemals.”
“Ich liebe Dich auch, Mama.”