KAPITEL ZWEI

1929 Words
KAPITEL ZWEI Scarlet stürzte in ihr Zimmer, hysterisch weinend, und warf die Tür hinter sich zu. Sie war den ganzen Weg nach Hause gerannt vom Fluss und hatte seitdem nicht aufgehört zu weinen. Sie verstand nicht, was mit ihr passierte. Der Moment, in dem sie den Puls an Blakes Hals gesehen hatte, als sie sich gefühlt hatte, als ob sie ihn beißen wollte, flammte immer wieder in ihrem Kopf auf. In dem sie sich an ihm nähren wollte. Was geschah nur mit ihr? War sie eine Art Freak? Warum hatte sie sich so gefühlt? Und warum genau dann – von allen möglichen Momenten? Gerade, als sie ihren ersten Kuss hatten? Nun, da sie weit entfernt von dieser Szene war, war es viel schwieriger für Scarlet zu beschwören, wie sich ihr Körper angefühlt hatte – und mit jedem vergangenen Moment bekam sie mehr Abstand dazu. Jetzt fühlte sich ihr Körper normal an. War es nur ein flüchtiger Moment gewesen? War es nur etwas seltsames, einmaliges, dass sie überkommen hatte, das nie wieder kommen würde? Das wollte sie unbedingt glauben. Aber ein anderer Teil von ihr, ein tieferer, fühlte, dass dies nicht der Fall war. Das Gefühl war so stark gewesen, es war etwas gewesen, das sie nie vergessen würde. Wenn sie sich ihm unterworfen hätte und nur eine weitere Sekunde dageblieben wäre, war sie sicher, dass Blake zu diesem Zeitpunkt schon tot wäre. Scarlet konnte nicht umhin, auch an den anderen Tag zu denken. Krank von der Schule nach Hause gekommen. Aus dem Haus gerannt. Vergessen, was geschehen war, wo sie gewesen war. Im Krankenhaus aufzuwachen. Ihre Mutter so besorgt, so ausgeflippt…. Nun kam es alles an die Oberfläche ihres Geistes. Ihre Mutter hatte gewollt, dass sie mehr Ärzte aufsuchte, mehr Tests machte. Und dann, dass sie zu einem Priester ginge. Vermutete ihre Mutter etwas? War es das, hinter dem sie herjagte? Dachte sie, dass sie ein Vampir werden würde? Scarlets Herz schlug schnell, als sie so dasaß, in ihrem Raum, zusammengerollt in ihrem Lieblingsstuhl. Ruth legte ihren Kopf in ihren Schoß und Scarlet beugte sich herunter und streichelte sie. Aber sie tat es mit Tränen in den Augen. Sie fühlte sich geschockt, wie betäubt. Der Gedanke, dass sie krank war, machte ihr Angst, dass sie eine Art Krankheit hatte – oder vielleicht auch etwas Schlimmeres. Innerlich dachte sie, dass es lächerlich wäre, in welche Richtung sie dachte. Aber sie musste sich das fragen. Ihr Wunsch, in seinen Hals zu beißen. Das Gefühl, dass sie an beiden Schneidezähnen gehabt hatte. Ihr Verlangen, zu fressen. War es möglich? War sie ein Vampir? Existierten Vampire wirklich? Sie griff hinüber, öffnete ihren Laptop und googelte es. Sie musste es wissen. Sie öffnete den Wikipedia Eintrag für „Vampir“ und begann zu lesen: “Die Vorstellung des Vampirismus existiert seit Jahrtausenden; Kulturen wie die Mesopotamier, Hebräer, Griechen und Römer hatten Geschichten von Dämonen und Geistern, die den modernen Vampiren zum Vorläufer gereichten. Doch trotz des Auftretens von Vampir-ähnlichen Kreaturen in diesen antiken Zivilisationen stammt die Folklore für die Entität, die wir heutzutage kennen als Vampir aus dem Südost-Europa des frühen 18.ten Jahrhunderts, aus der verbale Überlieferungen von vielen ethnischen Gruppen dieser Region aufgezeichnet und überliefert wurden. In den meisten Fällen sind Vampire wiederkehrende böse Menschen, Suizidopfer oder Hexen, aber sie können auch erschaffen werden, indem ein böswilliger Geist eine Leiche in Besitz nimmt, oder durch den Biss eines Vampires.” Scarlet schlug den Laptop schnell zu und stellte ihn weg. Es war alles zu viel für sie zu verkraften. Sie schüttelte ihren Kopf, in dem Versuch, es geradezu aus ihrem Kopf zu schütteln. Etwas stimmte definitiv nicht mit ihr. Aber war es das? Es ängstigte sie. Noch schlimmer wurde das Ganze durch ihre Gefühle für Blake und der Gedanke daran, was zwischen ihnen passiert war. Sie konnte nicht glauben, dass sie so vor ihm weggerannt war, besonders in diesem Augenblick. Sie hatte so eine bezaubernde Zeit zusammen gehabt, ein Traumdate. Und jetzt das. Endlich, wo ihre Beziehung gerade ihren Anfang nahm. Es war so unfair. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, was er jetzt von ihr dachte. Er musste denken, dass sie ein Freak war, eine Art absoluter Psycho, dass sie einfach so abgesprungen war, mitten in einem Kuss und abgehauen war, in den Wald gesprintet war. Er musste glauben, dass sie definitiv nicht bei Verstand war. Sie war sich sicher, dass er sie nie wieder sehen wollte. Vielleicht ging er zurück zu Vivian. Sie wollte es ihm unbedingt erklären. Aber wie könnte sie das anstellen? Was könnte sie sagen? Dass sie einen plötzlichen Drang verspürt hatte, in seinen Hals zu beißen? Sich an ihm zu nähren? Sein Blut zu trinken? Dass sie vor ihm wegrennen musste, um ihn zu beschützen? Sicher, das würde ihn bestimmt beruhigen, dachte sie. Sie wollte die Dinge richtig stellen. Sie wollte ihn wiedersehen. Aber sie wusste nicht, wie sie es erklären sollten. Nicht nur das, sie hatte auch Angst davor, ihm beim nächsten Mal Nahe zu sein; sie traute sich gerade selbst nicht. Was wäre, wenn dieser Drang wieder über sie kam? Und was, wenn sie ihn beim nächsten Mal wirklich verletzen würde? Als sie darüber nachdachte, brach sie in Tränen aus. War sie dazu verdammt, nie wieder mit Jungs zusammen zu sein? Nein. Sie musste es versuchen. Zumindest musste sie versuchen, die Dinge richtig zu stellen. Sie musste es versuchen, um es sich selbst zu erklären, auf irgendeine Weise. Und wenn nur, damit er sie nicht hasste. Selbst wenn er sie nie wieder sehen wollte, konnte sie die Dinge nicht so stehen lassen. Und tief im Inneren, hoffte ein Teil von ihr immer noch, dass dies vielleicht eine einmalige Sache gewesen war, eine Horrorepisode, und dass sie das vielleicht überwinden konnten und immer noch zusammen sein konnten. Immerhin, wenn sie das überstehen würden, könnten sie alles gemeinsam überstehen. Scarlet fühlte sich langsam etwas besser. Sie wischte sich die Tränen ab, nahm ein Taschentuch, putzte sich die Nase und nahm ihr Handy zur Hand. Sie wählte seine Nummer aus und begann zu schreiben. Dann stoppte sie. Was sollte sie sagen? Es tut mir so leid, was heute passiert ist. Sie löschte das. Es war zu allgemein. Ich weiß nicht, was heute über mich gekommen ist. Das löschte sie auch. Es klang nicht ganz richtig. Sie brauchte die perfekte Balance, den perfekten Mix aus Entschuldigung und der Hoffnung, dass sich nicht alles geändert hatte. Sie musste auch betonen, was sie für eine tolle Zeit mit ihm bis zu diesem Punkt gehabt hatte. Sie schloss ihre Augen und seufzte, angestrengt nachdenkend. Komm schon, komm schon, feuerte sie sich selbst an. Sie begann zu tippen. Ich hatte heute so eine tolle Zeit mit Dir. Es tut mir so leid, dass es so geendet hat. Es gab einen Grund, warum ich so gehen musste, aber ich kann ihn Dir nicht erklären. Ich weiß, dass es schwer ist, zu verstehen, aber ich hoffe, Du kannst das. Ich wollte Dich nur wissen lassen, dass ich eine tolle Zeit hatte und es mir Leid tut. Und ich hoffe, wie sehen uns wieder. Scarlet starrte lange Zeit auf ihren Entwurf und drückte dann schließlich auf Senden. Sie sah ihrem Text beim Verschwinden zu. Ihr Text war nicht perfekt. Sie hatte schon überlegt, wie sie ihn umschreiben konnte, auf eine Million Arten. Und ein Teil von ihr bereute schon, ihn abgesendet zu haben. Vielleicht klang er zu verzweifelt. Vielleicht war er zu kryptisch. Wie auch immer. Er war weg. Zumindest wusste er jetzt, dass sie ihn immer noch mochte und ihn wieder sehen wollte. Sie wusste, dass Blake sein Handy jede Sekunde des Tages bei sich hatte. Sie wusste, er würde es sofort bekommen. Und dass er seine Texte normalerweise innerhalb von Sekunden beantwortete. Scarlet zitterte, während sie auf seine Antwort wartete. Sie legte ihr Handy neben ihren Laptop und schloss ihre Augen, atmete langsam und wartete auf die Vibration. Ersehnte die Vibration. Komm schon, dachte sie. Schreib mir zurück. Sie saß dort, wartete, eine gefühlte Ewigkeit. Sie aktualisierte ihr Handy. Nach ein paar Minuten schaltete sie es sogar aus und wieder an, falls etwas mit der Verbindung nicht stimmte. Dann sah sie auf die Uhr. Zwei Minuten vergangen. Dann fünf. Dann zehn. Sie schlug ihr Handy wieder auf den Tisch und konnte fühlen, wie die Tränen wieder aufstiegen. Er schrieb ihr offensichtlich nicht zurück. Wie konnte sie es ihm verübeln? Sie hätte sich wahrscheinlich auch nicht zurückgeschrieben. Also war es das jetzt. Es war vorbei. Dann, plötzlich, vibrierte ihr Handy. Sie griff herüber und riss es vom Tisch. Aber ihr Herz sank, als sie sah, dass es nicht Blake war. Es war Maria. Ich kann nicht glauben, dass Du so einfach geschwänzt hast. Also… wie war Dein Date mit Blake? Scarlet seufzte. Sie hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte. Keine Sorge. Ich werde nicht wieder schwänzen. Es ist aus zwischen uns. Wirklich? OMG. Warum? Vivian? Nein. Nicht sie. Es war nur… Scarlet stoppte und fragte sich, was sie sagen sollte. …es hat nicht geklappt. Erzähl es mir. Scarlet seufzte. Sie wollte wirklich das Thema wechseln. Gibt nichts zu erzählen. Was gibt´s bei Dir? OMG, Ich kann nicht aufhören, für den neuen Typen zu schwärmen. Sage. Habe heute frische Details gehört. Scarlet war erschöpft und wollte wirklich nicht weiterschreiben. Sie wollte nicht noch mehr Gerüchte und Unterstellungen über den neuen Jungen hören – oder über irgendwen. Sie wollte einfach nur von der Welt verschwinden. Aber Maria war ihre beste Freundin, also musste sie sie bei Laune halten: Was denn? Er hat eine Schwester und einen Cousin. Sie gehen aber nicht auf unsere Schule. Er ist ein Senior. Er kommt von einer Privatschule. Ich habe gehört, er ist reich. So wie super-reich. Scarlet interessierte es nicht. Sie wollte das hier nur beenden. Glücklicherweise, bevor sie tippen konnte, bekam sie eine weitere Nachricht – diese von Jasmin. OMG, was ist mit Deiner f*******: Pinnwand passiert? Scarlet las es überrascht. Was meinst Du? Bevor sie antworten konnte, nahm sie ihren Laptop, öffnete ihn und ging auf ihre Seite. Ihr Herz sank. Vivian hatte darauf gepostet: Netter Versuch, Blake zu stehlen. Es hat nicht funktioniert. Nachdem er Dich abgeschossen hatte, kam er zu uns zurück. Ich wusste, er würde Dich abschießen. Ich war nur überrascht, dass es so schnell ging. Scarlet atmete scharf ein, völlig verblüfft. Sie sah, dass verschiedene ihrer Freunde diesen Post kommentiert hatten und sah, dass es sich auf viele Pinnwände verbreitet hatte. Sie sah auch, dass Vivian es auf Twitter gepostet hatte und das alle von Vivians Freunden wieder-getwittert hatten. Scarlet war entsetzt. Sie hatte sich nie peinlicher berührt gefühlt. Sie löschte den Kommentar von ihrer Pinnwand, blockierte Vivian, ging zu ihren Einstellungen und änderte diese so, dass nur noch ihre Freunde darauf posten konnten. Aber es war natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein – klar, der Schaden war schon angerichtet. Nun würde die ganze Schule denken, dass sie anderen Leuten den Freund stehlen würde. Und dass sie abgeschossen worden war. Ihr Gesicht wurde rot. Sie war so sauer, sie wollte Vivian erwürgen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie schlug ihren Laptop zu und stürmte aus dem Zimmer. Sie flog die Treppen herunter ohne zu wissen, wo sie hingehen sollte oder was sie tun sollte. Alles was sie wusste, war, dass sie Luft brauchte. “Komm mit, Ruth”, sagte sie. Sie packte ihre Leine und Ruth sprang aufgeregt herum, folgte ihr zur Tür hinaus und die Verandatreppen herunter. Scarlet rannte die Treppen hinab, sah auf ihre Füße und war schon auf dem Bürgersteig, bevor sie aufsah. Dort sah sie ihn, wie er dort stand. Sie blieb wie eingefroren stehen. Er stand dort, starrte sie an, als hätte er auf sie gewartet. Es war der neue Junge. Sage.
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