Prolog
„Anaya!“ Eine laute, scharfe Stimme riss sie aus dem Schlaf, gefolgt von einem harten Schlag an die Tür des Dachbodens. Anayas kleiner Körper rollte sich noch tiefer in ihre Decke ein, während sie versuchte, den dumpfen Schmerz in ihrem Rücken zu ignorieren.
„Anaya!!“ Wiederhallte die Stimme, diesmal so laut, dass das ganze Haus es deutlich hören konnte. Jetzt wusste jeder, dass Anaya verschlafen hatte.
Der kleine Körper der zehnjährigen Anaya erhob sich von der Matratze. Mit leiser Stimme antwortete sie auf die Schreie ihrer Mutter: „Ich komme, Mutter!“
Es war eine schüchterne Stimme, die in den Herzen derer, die sie hörten, Mitleid erweckt hätte. Aber die Herzen im Blauen Steinrudel waren schon vor langer Zeit zu Stein geworden.
Anaya stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Riegel der Dachbodentür zu öffnen. Eigentlich durfte sie den Riegel nicht schließen, aber Anaya hatte Angst. Sie war gestern geschlagen worden und hatte das Gefühl, dass es wieder passieren würde, wenn sie die Tür nicht verriegelte.
Mit zerzaustem braunem Haar und großen, wässrigen blauen Augen sah Anaya zu ihrer Mutter auf. Anaya hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt und würde eines Tages zu einer wunderschönen Frau heranwachsen. Es war eine unbestreitbare Wahrheit, dass Anaya eine Schönheit war, die im gesamten Blauen Steinrudel keinen Vergleich hatte.
Leider sah sie auch genauso aus wie ihr Zwillingsbruder.
Anayas Mutter runzelte die Stirn, als sie Anayas Erscheinung betrachtete. Für einen Moment wurden ihre Augen weich, als sie sich an ihren Sohn erinnerte.
„Mutter, es tut mir leid, dass ich zu spät aufgewacht bin. I-Ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen.“ Anaya entschuldigte sich aufrichtig. Es war eine wunderschöne Entschuldigung, die ausgereicht hätte, ein Herz zu einem weichen Pfützchen schmelzen zu lassen.
Doch in dem Moment, als sie sprach, brach der Zauber, der ihre Mutter ergriffen hatte, wie ein dünner Faden. Sie erinnerte sich, dass das zehnjährige Kind nicht ihr Sohn war, sondern die Tochter, die sie verachtete.
Mit zusammengebissenen Zähnen drehte sie sich um und ging wortlos davon. Anaya schloss hastig die Tür des Dachbodens und folgte ihr die Treppe hinunter. Ihr Tempo passte perfekt zu dem ihrer Mutter, etwas, das sie über die Jahre gelernt hatte. Immer mithalten, langsamer werden würde nur zu mehr Strafen führen.
Anaya kam hinter ihrer Mutter die Treppe hinunter und bekam sofort einen Besen in die Hand gedrückt, um das Haus zu fegen. Sie nahm den Besen und klemmte das Ende des Stiels zwischen ihre Zähne. Schnell band sie ihr schulterlanges Haar zu einem Pferdeschwanz, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel, und ließ dann den Besen aus ihrem Mund gleiten.
Das Fegen war leicht. Es dauerte weniger als eine Stunde, um das ganze Haus zu fegen. Anaya beendete die Aufgabe zügig und stellte den Besen an seinen Platz.
Danach ging sie in die Küche und blieb am Eingang stehen, während sie die Szene vor sich mit neidischen Augen beobachtete. Am kleinen Esstisch für vier Personen saßen ihr Vater, ihre Mutter und ihre kleine Schwester Charlotte, die vier Jahre alt war.
Es gab vier Stühle, perfekt für die Familie von vier Personen. Doch Anayas Vater hatte Charlotte auf seinem Schoß sitzen und fütterte sie mit dem Frühstück.
Ihre Mutter bemerkte Anaya am Eingang und warf ihr einen verächtlichen Blick zu. Anaya senkte ihre wunderschönen Augen und spielte nervös mit ihren Fingern.
„Hol dir deinen Teller von der Theke“, sagte Anayas Mutter schroff und ignorierte sie, als wäre sie ein Geist. Anaya huschte durch die Küche und griff nach ihrem Frühstücksteller. Auf dem Teller lag ein Stück Brot, etwas Rührei und eine kleine Schüssel mit dem Curry von gestern Abend.
Anaya dachte, sie hätte sich verguckt. Hatte ihr Vater Charlotte nicht gerade ein Stück Schokoladenpfannkuchen gefüttert? Anaya blickte noch einmal auf, um zu sehen, ob sie sich getäuscht hatte.
Doch zufällig trafen sich Anayas Augen mit denen ihrer kleinen Schwester. Charlotte lächelte Anaya an und kaute auf ihrem Pfannkuchen herum. Ein wenig Schokoladensirup tropfte über ihre Lippe. Ihr Vater wischte es ihr sanft ab und küsste Charlotte liebevoll auf die Wange.
„Braves Mädchen, bist du satt? Möchtest du noch etwas Saft?“
Anaya blickte auf ihren eigenen Teller und verließ schweigend die Küche. Sie hätte es wissen müssen. Sie war schon zehn Jahre alt, wie konnte sie es nicht verstehen?
Die Art, wie Anayas Eltern sie behandelten, war anders als die, wie sie Charlotte behandelten.
Anaya ging nach draußen in den kleinen Hof und aß dort ihr Frühstück. Die Morgensonne fühlte sich wohltuend auf ihrer Haut an.
Anaya brach ein kleines Stück Brot ab, tauchte es in das eiskalte Curry und schob es gedankenlos in ihren Mund. Das kalte Curry zerschmolz auf ihrer Zunge und hinterließ einen bitteren Geschmack.
Während sie aß, stiegen ihr plötzlich Tränen in die blauen Augen. Die hellblaue Farbe schien dunkler zu werden, wenn sie weinte.
Anaya spürte den Unmut ihrer Eltern. Seit jenem Tag, als sie ihren Zwillingsbruder verloren hatte, sahen ihre Eltern sie nicht mehr so an wie zuvor. Anaya war damals noch ein Kind, gerade einmal fünf Jahre alt, und verstand nicht, warum ihre Mutter sie nicht mehr in den Schlaf wiegte oder warum ihr Vater sie morgens nicht mehr küsste.
Erst im darauffolgenden Jahr, als Charlotte geboren wurde, verstand Anaya wirklich, wie tief die Abneigung ihrer Eltern ging. Charlotte war genauso wie Anaya, aber die Ähnlichkeiten endeten dort. Erst als ihre Eltern Charlotte nach Hause brachten, erkannte Anaya, wie weit ihr Ausschluss wirklich reichte.
Charlotte wurde gut behandelt. Anaya nicht.
Charlotte bekam Umarmungen und Küsse. Anaya bekam Pflichten und Aufgaben.
Charlotte wurde von beiden Eltern zur Schule gebracht. Anaya ging alleine.
Charlotte war der Augapfel ihrer Eltern. Anaya wurde zum Dorn, der sie an den Tod ihres Sohnes erinnerte.
Charlotte nahm den Platz des toten Bruders in ihren Herzen ein. Anaya wurde diejenige, die das Licht in ihrem Leben gestohlen hatte.
Charlotte war ihre zweite Chance, nachdem Arnold gestorben war. In ihren Augen war Anaya diejenige, die ihn getötet hatte.
Anaya verstand es nicht. Sie war nur ein Kind. Aber während sie allein in der Sonne saß, allein und innerlich kalt, verstand sie eine Sache: Sie war nicht erwünscht.