Zehn Jahre zuvor
Portland, Oregon
Tonya Maitland stöhnte auf, als sie im Schaufenster des Ladens, an dem sie vorbeiging, die blinkenden Lichter eines Streifenwagens sah. Sie zog die Kapuze ihres dunkelblauen Sweatshirts hoch, rückte den Rucksack auf ihren Schultern zurecht und vergrub die Hände in den Taschen ihres Pullis. Mit etwas Glück war die Polizei hinter jemand anderem her.
„Warte mal, Kleine“, rief ein Mann aus dem Fenster der Fahrerseite.
Tonya warf einen Blick über die Schulter, erkannte, dass sie das Glück verlassen hatte, und begann zu rennen. Sie hörte den Polizisten laut fluchen, bevor er am Bordstein anhielt und in den Parkmodus schaltete. Sie hatte die schmutzige Gasse schon halb durchquert, als er aus seinem Fahrzeug stieg.
Die Gasse ging in eine andere Straße über. Sie befand sich in dem weniger schönen Teil von Portland, der an das Stadtzentrum grenzte, wo sie heute Morgen an einem Projekt gearbeitet hatte. Hinter ihr schrie der Beamte, sie solle stehenbleiben. Sie hob ihre rechte Hand und zeigte ihm den Mittelfinger.
Dann verschwand sie um die Ecke und überquerte die Straße, ohne sich umzusehen. Ein Taxifahrer hupte sie an. Sie zeigte auch ihm den Mittelfinger und versetzte dem Wagen zur Sicherheit einen Tritt gegen die Stoßstange. Sie grinste, als er ihre Geste erwiderte.
Ein weiterer Blick über ihre Schulter verriet ihr, dass der Beamte schnaubend und schnaufend auf den Verkehr wartete. Sie lief eine weitere Gasse entlang. Am Ende befand sich ein Maschendrahtzaun mit einem Tor. Das Tor war mit einer Kette umwickelt, an der ein robustes Schloss hing. Zum Glück standen mehrere große Mülltonnen an der Mauer, die bis zum Zaun reichten. Sie benutzte die Holzpalette, die an der ersten Mülltonne lehnte, als behelfsmäßige Leiter und kletterte auf die erste Tonne. Dann lief sie über die Tonnen dahinter und hängte den Griff ihres Rucksacks an einen Draht, bevor sie über den Zaun kletterte. Mit ihren abgetragenen Turnschuhen stieg sie in die Löcher des Zauns, nahm ihren Rucksack von dem Draht und kletterte auf der anderen Seite hinunter.
Sie hob eine Hand und salutierte mit zwei Fingern vor dem atemlosen Polizisten, bevor sie sich umdrehte und schnell die Gasse entlanglief. Sie war fast am Ende angelangt, als ein weiterer Streifenwagen anhielt und ihr den Ausgang versperrte. Sie stöhnte erneut auf, als sie Officer Max Bennett erkannte, der aus dem Wagen stieg. Sie kam einige Meter von ihm entfernt zum Stehen.
„Wieder mal auf der Flucht, Maitland“, bemerkte Officer Max trocken, als er die hintere Tür seines Wagens öffnete.
Tonya zuckte mit den Schultern. „Hey, Max. Ich versuche nur, euch auf Trab zu halten. Officer Donut da hinten sah aus, als könnte er ein bisschen Bewegung gebrauchen“, murmelte sie, während sie mit einem resignierten Seufzer zur offenen Tür ging.
„Das habe ich gehört, Kleine“, rief der Beamte hinter ihr.
„Ich übernehme das, Joe“, sagte Max.
Tonya setzte sich auf den Rücksitz und lehnte ihren Kopf zurück. Sie hörte zu, wie Joe sich mit Max stritt, bevor der korpulente Polizist sich verärgert umdrehte und den Weg zurückstapfte, den er gekommen war. Ehrlich gesagt, wusste sie nicht, wie der Kerl den Fitnesstest für Streifenpolizisten bestanden hatte. Er würde keinen Bösewicht fangen können, es sei denn, er benutzte eine Gehhilfe.
Sie schaute durch das Gitter zwischen Vorder- und Rücksitz, als Max ins Auto stieg und die Tür schloss. Er sprach in sein Funkgerät und teilte der Zentrale mit, dass er die mutmaßliche Ausreißerin geschnappt hatte. Sie verdrehte die Augen und zog ihren Rucksack auf ihren Schoß.
„Anschnallen, Tonya“, wies Max sie an.
„Anschnallen, Max“, murmelte sie.
Beide legten ihre Sicherheitsgurte an. Tonya wusste aus Erfahrung, dass es einfacher war, Max in dem Glauben zu lassen, sie würde sich ihm fügen. Andernfalls würde sie sich seine Vorträge anhören müssen. Sie lehnte sich zurück und schlang ihre Arme um den Rucksack, in dem sich ihr ganzes Hab und Gut befand.
„Also, was stimmt diesmal nicht mit den Leuten?“, fragte Max und blickte in die Spiegel, bevor er auf die Straße hinausfuhr.
„Nichts“, murmelte sie.
Max schaute sie im Rückspiegel an. „Haben sie dich geschlagen?“, fragte er.
Sie schnaubte und verdrehte die Augen.
„Haben sie dir nichts zu essen gegeben?“, fragte Max.
Sie schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf.
„Hat Mr. Rollings etwas Unangemessenes gesagt oder getan?“, fragte Max weiter und musterte sie aufmerksam im Rückspiegel.
„Nein, nein, nein und nochmals nein. Die Rollings sind nett, okay?“, antwortete sie mit einem bissigen Unterton.
„Warum bist du dann weggelaufen? Das ist das achte Mal in zwei Jahren, Tonya. Erinnerst du dich an das letzte Mal, als du vor dem Richter gestanden hast? Er sagte, das war’s – die letzte Chance. Wenn du nicht bei den Rollings bleibst, schickt er dich in die Jugendstrafanstalt. Wenn du hinter Gittern bist, kannst du nicht mehr fliehen“, erklärte Max.
Tonya sah Max an. Für einen Polizisten war er ganz in Ordnung. Sein dunkelbraunes Gesicht war von Sorge zerfurcht. Er erweckte den Anschein, als würde es ihn wirklich interessieren, was mit ihr passiert war. Sie beugte sich vor, als sie sah, wie er seine Hand hob und einen Fußgänger über die Straße winkte.
„Hat Angela endlich ja gesagt?“, fragte sie.
Max gluckste und tippte auf den Ehering an seiner Hand. Er hatte ihr vor sechs Monaten erzählt, dass er Angela einen Heiratsantrag machen wollte. Angela war eine der Anwältinnen des Portland Department of Child Services. Angela hatte zwei der Fälle bearbeitet, in denen es um Tonyas Unterbringung in einer Pflegefamilie gegangen war.
„Wir haben letztes Wochenende geheiratet“, gestand er.
„Danke für die Einladung“, erwiderte sie, lehnte sich gegen den Sitz und schaute aus dem Fenster.
Max schaute sie wieder an. Sie tat so, als würde sie es nicht bemerken. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr auf den Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants. Sie sah ihn fragend an, als er parkte und die Zündung ausschaltete.
„Ich bin hungrig. Willst du einen Happen essen?“, fragte er.
Sie musterte das Gebäude, bevor sie wieder ihn ansah. „Ich habe kein Geld. Ich hatte gehofft –“, begann sie.
„Ich habe genug“, beruhigte er sie.
Tonya beobachtete, wie Max die Tür öffnete und aus dem Wagen stieg. Er sprach in das Mikrofon an seiner Schulter und teilte der Zentrale mit, dass er Mittagspause machen würde. Sie stieg aus, als er ihre Tür öffnete, wobei sie versuchte, so zu tun, als würde sie ihm einen Gefallen tun und nicht umgekehrt.
Sie liefen über den Parkplatz und betraten das Restaurant. Sie setzte sich an einen Tisch mit Blick auf die Straße. Eine Frau mit einem strahlenden Lächeln kam auf sie zu und nahm ihre Bestellung auf, dann waren sie allein.
„Was geht nur in deinem Kopf vor, Tonya? Du bist doch ein kluges Mädchen. Viele Leute versuchen, dir zu helfen. Du weißt, was von dir erwartet wird: dass du zur Schule gehst und bei deiner neuen Familie bleibst. Warum willst du das nicht?“, fragte Max.
Tonya schürzte ihre Lippen und warf Max einen hitzigen Blick zu. Sie hatte keine schlechten Entscheidungen getroffen – okay, sie hatte ein paar schlechte Entscheidungen getroffen, aber aus den richtigen Gründen. Mit ihren vierzehn Jahren kam sie verdammt gut zurecht. Vor allem im Vergleich zu einigen der anderen Mädchen an der neuen Schule, die sie nicht oft besuchte.
„Schule ist langweilig, okay? Ich habe ein halbes Jahr Arbeit in zwei Wochen erledigt. Ich habe Besseres zu tun, als mit einem Haufen versnobter Kinder herumzusitzen, die sich für etwas Besseres halten und keine Ahnung haben, was in der Welt wirklich los ist. Das Essen kommt“, schnauzte sie.
Sie lehnten sich beide zurück, als die Kellnerin ihre Hamburger vor sie hinstellte. Sie griff nach der Ketchupflasche, öffnete sie und versuchte, etwas davon auf ihre Pommes zu schütten.
Nichts. Warum hat eine Firma eine Ketchupflasche hergestellt, aus der man den Ketchup nie herausbekommt?, stöhnte sie innerlich und schlug auf den Boden der Flasche.
„Lass mich mal“, sagte Max mit einem Hauch von Belustigung in der Stimme.
Sie sah, wie er sein sauberes Messer nahm und damit in der Glasflasche herumstocherte. Nachdem er es herausgezogen hatte, hielt er ihr die Flasche hin. Sie nahm sie und schüttete mehr Ketchup als beabsichtigt auf ihren Teller.
„Heute ist wirklich nicht mein Tag“, murmelte sie.
„Also, was machst du den ganzen Tag auf der Straße?“, fragte Max beiläufig und nahm ihr die Ketchupflasche ab.
Tonya sah zu Max auf, eine Pommes auf halbem Weg zu ihrem Mund. Sie kniff die Augen misstrauisch zusammen, doch anstatt Missbilligung sah sie nur Neugierde in seinem Blick. Sie stopfte sich die Fritten mit Ketchup in den Mund und griff in ihren Rucksack, um ihr Notizbuch herauszuholen. Das war ihr Lebenswerk – oder zumindest die letzten zwei Jahre davon.
„Ich habe recherchiert“, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Sie sah sich im Restaurant um, bevor sie sich nach vorne beugte und Max das Notizbuch über den Tisch zuschob. Er hob eine Augenbraue, bevor er auf den zerfledderten Spiralblock hinunterblickte. Sie nickte.
„Recherchiert?“, wiederholte er.
„Du wirst schon sehen. Ich brauche nur noch ein paar Tage“, sagte sie.
Sie hob ihren Hamburger an den Mund und begann zu essen. Max klappte mit einer Hand das Notizbuch auf, während er sich mit der anderen abwesend seine Pommes in den Mund stopfte. Er warf ihr einen schockierten Blick zu, bevor er wieder ihre akribischen Notizen betrachtete.
„Woher hast du diese Informationen?“, fragte er.
Sie grinste ihn an. „Erwachsene halten Kinder für dumm. Du kennst doch das alte Sprichwort, das Erwachsene so gerne sagen. Dass Kinder gesehen, aber nicht gehört werden sollen. Das ist natürlich absoluter Mist. Die Realität ist, dass Kinder oft weder gesehen noch gehört werden. Dafür hören wir sehr gut, wenn sie etwas sagen, von dem sie glauben, dass wir es nicht verstehen. Ich bin zufällig verdammt gut darin, weder gesehen noch gehört zu werden“, verkündete sie und wedelte mit einer Pommes herum.
Max warf ihr einen missbilligenden Blick zu. „Kannst du das auch sagen, ohne zu fluchen?“, erwiderte er trocken.
„Wie auch immer. Hast du ein Problem damit? Pech gehabt. Schimpfwörter haben eine gewisse Kraft, wenn man sie im richtigen Moment und in der richtigen Situation benutzt“, antwortete sie.
Max schüttelte den Kopf, während er die Seiten umblätterte und weiterlas. „Worte sind mächtig, Schimpfwörter sind vulgär, da gibt es einen Unterschied, Tonya. Was ist dir widerfahren, dass du in so jungen Jahren so zynisch geworden bist?“, fragte er.
Tonya lehnte sich gegen den leuchtend roten Vinylsitz. „Hast du meine Akte nicht gelesen? Woher weißt du dann, was der Richter gesagt hat? Ach, Angela, stimmt ja“, antwortete Tonya. „Isst du deinen Hamburger noch auf? Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr gegessen und bin am Verhungern!“
Max sah sie wieder an und schob seinen Teller über den Tisch. Ohne zu zögern, griff sie nach dem Hamburger und biss hinein.
„Hast du eine Ahnung, wie gefährlich das ist, was du getan hast? Wenn sie dich erwischt hätten – wenn die Männer die Informationen gesehen hätten – Tonya, ich habe schon mitbekommen, dass Leute für weniger getötet wurden“, warnte Max und klappte das Notizbuch zu.
„Aber – es ist gut, oder? Ich meine, die Informationen, die Details? Ich habe alles dokumentiert. Ich habe sogar Bilder. Ich habe nur kein Geld, um sie auszudrucken. Das ist doch gut, oder, Max?“, fragte sie mit ernster Stimme.
„Ja, das ist wirklich gut, Kleine. Was willst du mit deinem Leben anfangen, wenn du mit der Highschool fertig bist? Du bist viel zu klug, um nicht aufs College zu gehen. Willst du zur Polizei gehen und Kommissarin werden?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und betrachtete ihr Notizbuch. „Nein. Ich will Enthüllungsjournalistin werden – die beste der Welt – genau wie meine Eltern, bevor sie ermordet wurden“, gestand sie leise.
Max seufzte. „Das wirst du ganz sicherlich, Tonya. Vorausgesetzt du stirbst nicht, bevor du die Chance dazu bekommst“, antwortete er.