PROLOG
Vor einigen Jahrhunderten
Die Sieben Königreiche
Ashure Waves steckte die Gegenstände, die er gerade erbeutet hatte, in seine Tasche und lächelte einigen Passanten auf der überfüllten Kopfsteinpflasterstraße zu. Auf dem Marktplatz der Insel der Riesen tummelten sich zahlreiche Kaufinteressenten, was ihm reichlich Gelegenheit bot, seine Fingerfertigkeit zu trainieren.
Er berührte eines seiner wertvollsten Besitztümer, einen goldenen Ring mit einer wunderschön polierten Bernsteineinlage. Im Inneren des Bernsteins befand sich ein Staubkorn, das angeblich bei der Erschaffung der Sieben Königreiche eingefangen worden war. Er glaubte zwar nicht daran, aber es war eine gute Geschichte, die er erzählen konnte, wenn er den Ring irgendwann verkaufte.
Leicht beschwipst, summte er vor sich hin, als er sich auf den Weg zurück zum Flaggschiff der Piraten, der Meerwespe, machte. Sein Kapitän, der König der Piraten, Simon Black, hatte ihn in einem Schreiben aufgefordert, früher zurückzukehren. Ashure hoffte, dass dies nicht bedeutete, dass sie bald abreisen würden. Er hatte eine Verabredung mit einer üppigen Riesin, die über der Zyklopenschänke wohnte.
„Dämlicher Name für eine Taverne“, kicherte Ashure, als er den Steg entlangtaumelte. „Sie könnte auch ‚Zum einäugigen Zyklopen‘ heißen oder so!“, verkündete er laut, als er vor der Meerwespe stehen blieb. „Oh, aber alle Zyklopen haben nur ein Auge, oder? Das ist nicht gut.“
Er hielt sich am Seilgeländer der Laufplanke fest und war froh über den zusätzlichen Halt, vor allem, als er mit dem Fuß an einer der hervorstehenden Holzleisten hängen blieb, die verhindern sollten, dass man ausrutschte, und sich bedrohlich über das Seil lehnte. Er blinzelte mehrmals in das dunkle Wasser unter ihm und fluchte, als er einen von Nalis fiesen kleinen Meeraffen sah, der ihn von dem Pfahl unter ihm angrinste. Er schauderte. Vielleicht hätte er letzte Woche doch lieber keine Flasche von Nalis bestem Brandy von ihrem Schiff stehlen sollen. Man hatte ihn gewarnt, dass die Kaiserin der Monster einen niederträchtigen Sinn für Humor hatte, aber, na ja, wenn sich eine Gelegenheit bot …
„Ich werde ihn ihr zurückgeben, wenn ich sie das nächste Mal sehe“, versprach er. „Außerdem habe ich ihr dafür eine schöne Muschelhalskette dagelassen.“
„Ashure! Der Piratenkönig erwartet dich in seiner Kajüte“, rief Bleu LaBluff ihm von oben zu.
Ashure runzelte die Stirn und fragte sich zum hundertsten Mal, warum der Piratenkönig ihn sehen wollte. Er war kein Offizier. Zum Teufel, er war nicht einmal ein guter Pirat! Er schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, einen klaren Gedanken fassen zu können. Selbst in der Mannschaft war er ein Sonderling, und von den nicht diebisch Veranlagten verstoßen worden, seit er alt genug war, eine Tasche zu erreichen.
Ashure sah Bleu mit einem breiten, hämischen Grinsen an. „Natürlich will der Piratenkönig mich sehen. Jeder will den berühmten, ruhmeichen – ruhmreich berühmten – Ashure Waves sehen“, erklärte Ashure mit einer unbeholfenen Verbeugung und einer unkoordinierten Armbewegung.
Bleu ging die Planke hinunter und packte ihn am Arm, als er durch die Bewegung fast durch eine Lücke im Seilgeländer fiel. Unbeholfen klopfte er Bleu auf die Schulter, als der Mann einen Fluch murmelte, Ashure herumdrehte und ihn in die richtige Richtung schubste. Ashure salutierte schwankend und stolperte über das Deck. Um sich herum hörte er das Gekicher der wenigen Männer, die noch Dienst hatten.
„Der Erste Offizier wird ihn morgen früh die Decks schrubben lassen, wenn der Piratenkönig sich seine Seele heute Nacht nicht holt“, murmelte einer der Männer.
Ashure blickte finster drein, drehte sich aber nicht zu ihnen um. Er hatte Gerüchte über den Piratenkönig gehört, seit er alt genug war, sich selbst die Nase zu putzen. Sein Vater – von dem er annahm, dass er sein Erzeuger war – hatte ihm immer damit gedroht, ihn zum gefürchteten Piratenkönig zu schicken, dem Mann, der ihm die Seele aussaugen und ihn für immer gefangen halten würde. Seine Mutter hatte gelacht und gesagt, der Piratenkönig würde seine Zeit nicht mit jemandem verschwenden, der so schwach und wertlos sei wie die dürre Hafenratte, die sie nur selten „Sohn“ nannte.
Im Alter von sieben Jahren hatte Ashure beide Eltern verloren und sich schließlich aus freien Stücken dazu entschlossen, an Bord eines Piratenschiffs zu leben. Doch immer, wenn das Leben so schrecklich wurde, dass er dachte, er würde sterben, floh er auf eine der vielen Inseln. Einen Teil seines Lebensunterhalts verdiente er mit harter Arbeit, doch auch vor Diebstahl und Betrug schreckte er nicht zurück, um über die Runden zu kommen. Oft klaute er aber auch einfach aus Spaß. Deshalb blieb er nie sehr lange an einem Ort. Ob an Land oder auf See, sein Leben war schon immer das eines Piraten gewesen.
Ashure riss eine Tür auf und stieg eine Treppe hinunter. Er war fast unten angekommen, als er ausrutschte und sich gerade noch vor einem bösen Sturz bewahren konnte. Er richtete sich am Geländer auf und zog die Hemdsärmel unter seinem dunkelroten Mantel zurecht. Er fasste sich an den Kopf, um sich zu vergewissern, dass er seinen neuen Hut nicht verloren hatte, der mit einer leuchtend blauen, grünen und violetten Feder von einem der Donnervögel der Kaiserin Nali geschmückt war. Er zischte, als ein elektrischer Funke von der Feder seine Fingerspitzen traf. Ja, der Hut war noch da, mit Feder und allem Drum und Dran.
Ashure fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, räusperte sich und fokussierte mit seinem verschwommenen Blick die Tür am Ende des Korridors. Dies würde sein zweites persönliches Treffen mit dem Piratenkönig sein. Er bezweifelte, dass der Mann sich an ihr erstes Treffen erinnern würde. Ashure hatte sich seither ein wenig verändert. Er schüttelte sich und klatschte seine Handflächen gegen die Wangen, um ein wenig nüchterner zu werden, bevor er dem Anführer der Piraten gegenübertrat.
„Bitte, Göttin, lass ihn mir nur dafür danken, dass ich die Decks so gut geschrubbt habe“, murmelte Ashure.
Er blieb vor der Tür stehen und hob die Hand, um zu klopfen. Bevor er es tun konnte, öffnete sich die Tür. Ashure blieb draußen stehen und wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte.
„Komm rein, Ashure“, befahl Simon Black mit tiefer, rauer Stimme.
Ashure betrat den Raum. Als sich die Tür hinter ihm schloss, warf er einen Blick über seine Schulter. Während er seinen Blick durch das prunkvolle Quartier des Kapitäns schweifen ließ, juckte es ihn in den Fingern, alles zu erkunden. Er drehte sich um, als er Simons tiefes, raues Glucksen hörte.
„Du bist ein ungewöhnlicher Pirat, Ashure“, sagte Simon zur Begrüßung und erhob sich hinter dem massiven dunklen Mahagonischreibtisch.
„Das ist besser, als ein gewöhnlicher Pirat zu sein, Sir – Eure Majestät“, erwiderte Ashure und zuckte zusammen.
Simon lachte, bis er anfing zu husten. Ashure beobachtete, wie der alte Pirat einen zittrigen Atemzug nahm und sich gegen den Schreibtisch lehnte. Dann musterte ihn der Piratenkönig von oben bis unten, während Ashure steif dastand. Er machte sich auf eine harsche Erwiderung von Simon gefasst.
„Du hast ein gutes Herz. Das braucht die Piratenwelt“, meinte Simon.
„Sir?“, fragte Ashure verwirrt.
Simon deutete auf den Stuhl vor einem kleinen Kamin. Ashure ging darauf zu, setzte sich und beobachtete wachsam, wie Simon aus einer Kristallkaraffe zwei Gläser halbvoll mit Bourbon einschenkte. Er nahm das angebotene Glas an, trank aber nicht. Sein Geist klärte sich langsam, und seine Intuition warnte ihn, dass gleich etwas Schreckliches passieren würde.
Mit dem Glas in der Hand setzte sich Simon auf den Stuhl ihm gegenüber. Ashure sah zu, wie der Piratenkönig die Hälfte des Getränks trank, bevor er missmutig in das magische Feuer im Kamin starrte. Die Zeit verging, während der Piratenkönig in Gedanken versunken war, und Ashure saß still da und wartete.
„Erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung, Ashure?“, fragte Simon schließlich.
„Ich hatte gehofft, Ihr hättet sie vergessen, Majestät.“ Ashure verzog das Gesicht. Er hob sein Getränk und nahm einen Schluck, weil er dachte, dass dies wie der Beginn eines Abschieds klang, und ein Schluck Bourbon das, was kommen würde, vielleicht etwas angenehmer machen würde. „Oh! Der ist fast so gut wie der von der Kaiserin“, hauchte er. „Genauso gut – ich wollte sagen ‚genauso gut‘“, korrigierte er sich schnell.
Simon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lachte wieder. „Und genau das macht dich zu einem ungewöhnlichen Piraten, Ashure Waves. Du hast dir nicht nur deine Güte bewahrt, sondern sprichst auch die Wahrheit.“
„Nicht immer“, erwiderte Ashure hastig. „Manchmal ist eine Lüge freundlicher und weiser.“
Simon spielte mit dem Glas in seiner Hand und schwieg noch einige Minuten lang. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte und Ashure spürte, dass ihm der Schweiß ausbrach.
„Du warst ein Junge von sechs oder sieben Jahren, als wir uns zum ersten Mal begegneten“, murmelte Simon.
„Neun, ich war neun, Eure Majestät. Ich war ziemlich klein für mein Alter, doch wie Ihr sehen könnt, bin ich inzwischen gewachsen“, fügte er hinzu.
Simon sah ihm einen Moment lang in die Augen, bevor er seinen Blick rasch wieder abwandte und nickte. Ashure runzelte die Stirn. Es schien fast so, als ob der Piratenkönig ihn nicht direkt ansehen wollte, während sie sich unterhielten.
„Dann eben neun. Du hast auf den Docks gearbeitet und Kisten transportiert, die doppelt so groß waren wie du. Für dein junges Alter warst du sehr erfinderisch. Anstatt die Kisten zu schieben oder zu schleppen, hast du dir Hilfe von Nalis Monstern geholt – und sie haben die Arbeit gemacht, was erstaunlich war. Ich habe dich einen halben Tag lang beobachtet. Du hast in der Menschenmenge Taschendiebstähle begangen, dabei aber immer auch etwas Wertvolles in die Taschen derer gesteckt, die du beklaut hast. Du hast die Händler überredet, dir Arbeit zu geben, die du mit Freude erledigt hast, egal wie schwer oder unbedeutend sie war. Und du hast deinen mageren Verdienst mit den Monstern geteilt, die dir geholfen haben, indem du ihnen Essen gegeben hast, obwohl du es offensichtlich nötiger brauchtest als sie“, erzählte Simon mit einem Seufzer.
„Woher wusstet Ihr, dass ich denjenigen, die ich bestohlen habe, etwas gegeben habe?“, erkundigte sich Ashure neugierig.
Simon griff in seine Vordertasche und zog ein Armband aus dem goldenen Haar der Mähne eines Einhorns heraus. Er strich mit seinen Fingern über die feinen Strähnen. Ashure verfolgte die Bewegung gebannt. Er erinnerte sich. Da war eine Frau gewesen. Sie hatte krank ausgesehen, ihr Gesicht war blass und ihre Glieder zittrig gewesen. In ihrem Korb hatte sie lauter farbenprächtige Blumen gehabt, deren Blüten im Kontrast zu dem trüben Tag besonders schillernd geleuchtet hatten. Er hatte einfach nicht widerstehen können, ein paar davon zu stibitzen.
„Du hast ein paar Blumen aus dem Korb genommen, die meine Frau für mich gepflückt hatte, und mir dafür das dagelassen“, sagte Simon.
Ashure räusperte sich, hin- und hergerissen zwischen Bestürzung darüber, dass der große Simon Black wusste, dass er von Anfang an ein schrecklicher Pirat gewesen war, und Erleichterung darüber, dass er der Geliebten des Piratenkönigs keinen Schaden zugefügt hatte.
„Es schien ein fairer Tausch zu sein. Ich hoffe, Ihr berücksichtigt die Tatsache, dass ich damals erst neun Jahre alt war. Wenn ich gewusst hätte, dass sie Eure Frau ist, hätte ich es mir zweimal überlegt, die Blumen zu klauen“, antwortete er.
„Du wusstest, dass sie krank war, nicht wahr?“, fragte Simon leise.
„Ich habe es vermutet, ja“, gab Ashure zu und fragte sich, worauf dieses Gespräch hinauslief. Warum sprach der Piratenkönig diese Begebenheit nach so vielen Jahren an?
„Wusstest du, dass das Einhornhaar sie heilen würde?“, erkundigte sich Simon.
Ashure lächelte zögernd. „Ich hatte von einer Hexe auf dem Markt Geschichten über die Heilkräfte von Einhornhaar gehört. Die Hexe behauptete, sie hätte ein paar Locken. Später fand ich jedoch heraus, dass sie die gefärbte Mähne eines Riesenrosses als ‚Einhornhaar‘ verkaufte“, verriet er, immer noch erschüttert über die Erkenntnis, dass es die Frau des Piratenkönigs gewesen war, die er geheilt hatte!
Er wusste, dass sie noch viele Jahre an Simons Seite gelebt hatte und erst vor kurzem verstorben war. Die Flaggen aller Piratenschiffe wehten seit drei Monaten auf Halbmast.
„Wo hattest du es her?“, fragte Simon.
„Ich weiß es nicht mehr“, log er. Er hatte sich geschworen, niemandem zu sagen, woher er das Einhornhaar hatte. Er hatte sogar einen Blutschwur geleistet.
„Eine Lüge, aber eine Lüge, um ein Versprechen zu halten. Weißt du, wer ich bin, Ashure?“, fragte Simon.
Angst machte sich in Ashures Magen breit, und Fragmente all der Gerüchte, die er über den Mann gehört hatte, stiegen an die Oberfläche seines Geistes. Er wird dir die Seele aussaugen … und sie für immer behalten.
„Natürlich. Der Piratenkönig, Herrscher über alle Piraten in den Sieben Königreichen. Ihr haltet den Ehrenkodex der Piraten aufrecht und helft, das Gleichgewicht zwischen den Piraten und den anderen Königreichen zu wahren“, zitierte er den Eid, den alle Piraten schworen.
Simon stand auf. Ashure, der nicht wusste, was er tun sollte, erhob sich ebenfalls und hielt abwesend das halbvolle Glas Bourbon in der Hand, als Simon seine Aufmerksamkeit mit der Kraft seines Blickes auf sich zog.
„Ich bin mehr als nur der König der Piraten, Ashure. Ich bin der Hüter der verlorenen Seelen. Meine Zeit neigt sich dem Ende zu. Die Seelen in mir sind zu viele, um sie ohne die beruhigende Berührung meiner reizenden Amadeen zu bewältigen. Es ist an der Zeit, die Gabe der Göttin weiterzugeben. So wurde es schon immer gemacht, Ashure, von einem Piratenkönig zum nächsten“, sagte Simon.
Ashure schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht. Ihr könnt doch nicht mich meinen? Ich bin ein Niemand! Ich bin der Sohn eines in Ungnade gefallenen Piraten und einer hasserfüllten Elfe, die den Anblick ihres eigenen Kindes nicht ertragen konnten“, protestierte er, fassungslos, dass Simon ihn als nächsten Piratenkönig in Betracht zog.
„Du bist mehr als das, Ashure. Du bist ein Pirat, der andere schätzt. Du hast Einfühlungsvermögen, Stärke und besitzt die Fähigkeit, Dinge auf eine Weise zu sehen, wie sie andere nicht sehen“, antwortete Simon, und seine Stimme wurde tiefer und sanfter als noch vor einem Moment.
Ashure schwankte, als sich der hypnotisierende Klang von Simons Stimme mit seinem Blut vermischte. Er schüttelte den Kopf, um die hypnotische Wirkung zu vertreiben.
„Nein, ich meine, wirklich nein. Ich weiß es zu schätzen, dass Ihr denkt, ich könnte ein guter König sein, allerdings habe ich ehrlich gesagt nicht das Verlangen, jemand anderen als mich selbst zu regieren. Und denkt nur an die Insel der Piraten! Glaubt Ihr wirklich, sie würden auf jemanden wie mich hören, einen einfachen Matrosen? Es gibt eine Menge Offiziere, die sicher die Chance ergreifen würden, der nächste König zu werden“, beharrte Ashure.
Simon trat näher an ihn heran und nickte. „In der Tat, das würden sie. Und deshalb bist du perfekt. Du hast kein Verlangen nach Macht. Du stiehlst eher aus einer Laune heraus als aus Böswilligkeit. Du würdest dich nicht auf Kosten der dir anvertrauten Piraten bereichern, weil du denen hilfst, die es nötig haben. Du, Ashure Waves, wurdest vor langer Zeit auserwählt, als du einer kranken Frau ein einfaches, aber sehr wertvolles Geschenk gemacht hast“, erklärte Simon mit leiser, eindringlicher Stimme.
Ashure versuchte, seinen Blick von Simon abzuwenden, und wiegte unwillkürlich den Kopf hin und her, als es ihm nicht gelang, seine Augen von dem hypnotisierenden Blick zu lösen. Simons Augen wirbelten in allen Farben. Ashure spitzte die Lippen, um zu protestieren, als er sah, dass die Schatten inmitten der bunten Strudel nach ihm griffen.
„Nein“, krächzte er, doch tief im Inneren wusste er, dass es bereits zu spät war.
„Du wirst ein großer König sein, Ashure. Zweifle nie daran, denn ich tue es nicht“, sagte Simon leise.
Ashure fragte sich, warum Simons Stimme so klang, als käme sie vom Ende eines langen Tunnels. Plötzlich wurde er von einer gleißenden Farbe umhüllt. Sein Kopf fiel zurück, und die Magie, die in ihn eindrang, hob ihn in die Luft.
Simon und er sahen einander immer noch in die Augen. Im Blick des anderen Mannes konnte Ashure sehen, wie die Göttin vor langer Zeit erschienen war und die verlorenen Seelen in die Obhut des ersten Piratenkönigs gegeben hatte. Er spürte, wie die Kraft ihn durchströmte und neigte den Kopf nach vorne, sodass seine Stirn fast die von Simon Black berührte, während er tief durchatmete. Er hatte jetzt die Fähigkeit, Seelen zu holen, und die Macht, sie freizugeben. Er ballte seine Hände zu Fäusten und schnappte nach Luft.
Dann konnte er die Anweisungen der Göttin hören, die sie dem ersten Piratenkönig erteilt hatte. „Du musst die Eine finden, die über die Fähigkeit verfügt, die Seelen in dir zu besänftigen. Ohne diesen Frieden werden sie lauter werden, bis du sie nicht mehr zurückhalten kannst. Wenn die Seelen entkommen, wird sich das Böse in den Sieben Königreichen und darüber hinaus ausbreiten. Jemand wird dir tief in die Augen schauen, erkennen, wer du wirklich bist, und dich genau dafür lieben.“
Die Farben wirbelten um ihn herum, bevor alles schwarz wurde. Ashures Kopf ruckte wieder zurück, als Simon die Seelen, die tief in ihm eingeschlossen waren, auf ihn übertrug. Ein heiserer Schrei des Entsetzens stieg in Ashures Kehle auf, kam jedoch nicht heraus.
So schnell, wie die Sache begonnen hatte, endete sie auch wieder. Ashure stand wie erstarrt in der Mitte der leeren Kabine, das Glas Bourbon noch immer in beiden Händen haltend. Langsam drehte er sich im Kreis. Alles war klarer, schärfer, selbst in der Dunkelheit.
Ein scharfes Klopfen an der Tür erregte seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich um, als sie sich öffnete und der Erste Offizier eintrat und die Stirn runzelte, als er Ashure allein im Raum stehen sah.
„Waves, was machst du in …?“, knurrte der Erste Offizier, bevor er Ashure in die Augen sah, blass wurde und den Kopf senkte. „Mein König.“
In diesem Moment wurde Ashure klar, dass sein Schicksal besiegelt war. Er war jetzt der König der Piraten – und der Hüter der verlorenen Seelen, der Seelen, die ihn lautstark um Gnade anflehten, während er den Durst nach Rache spürte, den sie nicht verbergen konnten.