Daniel sah Emily mit besorgter Miene an. Sie wusste nicht, warum er sich immer noch so gegen den Vorschlag sträubte. War für ihn die Vorstellung, mit ihr zusammen zu leben, so schrecklich, dass er lieber in dem beengten Kutscherhaus bleiben würde?
Doch schließlich nickte er. „Du hast Recht. Das Kutscherhaus ist nicht geeignet für ein Kind.“
„Dann zieht ihr also ein?“, vergewisserte sich Emily, während sie ihre Augenbrauen aufgeregt hochzog.
Daniel lächelte. „Wir ziehen ein.“
Emily warf ihre Arme um ihn herum und spürte, wie sich sein Griff um sie verstärkte.
„Aber ich verspreche dir, dass ich irgendwie etwas Geld verdienen werde, damit ich ebenfalls zur Familienkasse beitragen kann“, fügte Daniel hinzu.
„Darüber sprechen wir ein andermal“, winkte Emily ab. Im Moment war sie viel zu überwältigt vor Freude, um sich über solche Einzelheiten Gedanken zu machen. Alles, was in diesem Augenblick zählte, war die Tatsache, dass Daniel bei ihr einziehen würde und dass sie ein Kind hatten, dass sie lieben konnten und um das sie sich kümmern mussten. Sie würden eine Familie sein, was Emily überglücklich stimmte.
Dann spürte sie seinen warmen Atem an ihrem Ohr, als er ihr etwas zuflüsterte: „Vielen Dank. Von ganzem Herzen. Danke.“
*
„Würde es dir gefallen, wenn das hier dein Schlafzimmer wäre?“, fragte Emily.
Sie stand mit Chantelle im Türrahmen eines der schönsten Zimmer der gesamten Pension. Daniel befand sich irgendwo hinter ihnen.
Emily beobachtete, wie sich auf Chantelles Gesicht ein verwunderter Ausdruck legte. Dann ließ das Mädchen Emilys Hand los und ging langsam in den Raum hinein, ganz vorsichtig, so als ob sie nichts kaputtmachen oder durcheinanderbringen wollte. Sie trat an das große Bett mit der sauberen, dunkelroten Bettwäsche und streifte leicht mit den Fingern darüber. Anschließend ging sie zum Fenster, von wo aus sie in den Garten und zum Ozean hinausblickte, der über die Baumwipfel hinweg zu sehen war. Emily und Daniel sahen mit angehaltenem Atem zu, wie das Mädchen still im Raum umherlief und vorsichtig eine Lampe hochhob, bevor es sie wieder zurückstellte und anschließend einen Blick in die leeren Schränke warf.
„Was meinst du?“, fragte Emily. „Wenn du keine weißen Wände magst, dann können wir sie auch in einer anderen Farbe streichen. Oder die Vorhänge austauschen. Ein paar Bilder an die Wand hängen.“
Chantelle wandte sich um. „Es gefällt mir genauso wie es ist. Kann ich wirklich ein eigenes Schlafzimmer haben?“
Emily spürte, wie sich Daniel neben ihr versteifte, und wusste sofort, was er gerade dachte, nämlich dass Chantelle in ihren gesamten sechs Jahren noch nie ein Schlafzimmer besessen hatte, dass ihr Leben bis zu diesem Moment von Elend und von Vernachlässigung gekennzeichnet gewesen war.
„Ja, du kannst wirklich eines haben“, bestätigte Emily mit einem freundlichen Lächeln. „Lass uns deine Sachen auspacken, dann fühlt es sich schon gleich wie dein eigenes Zimmer an.“
Chantelle nickte, dann gingen sie zusammen hinüber zum Kutscherhaus, um ihre Sachen zu holen. Doch dort angekommen musste Emily schockiert feststellen, dass Chantelle nur einen einzigen, kümmerlichen Rucksack besaß.
„Das sind all ihre Dinge?“, fragte sie Daniel leise, während sie wieder zurück zum großen Haus gingen.
„Mehr gab es dort nicht“, erwiderte dieser. „Im Haus von Sheilas Onkel gab es so gut wie nichts, das ihr gehörte. Als ich Sheila danach frage, meinte sie, dass sie bei der Zwangsräumung alles zurücklassen mussten.“
Emily schnalzte empört mit der Zunge. Es brach ihr das Herz, an all die schrecklichen Dinge zu denken, die Chantelle in ihrem kurzen Leben schon mitgemacht hatte. Sie wollte um mehr als alles andere auf der Welt dafür sorgen, dass sich das kleine Mädchen sicher fühlte, und dass es die Chance bekam, aufzublühen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Emily hoffte, dass sich Chantelle mit Liebe, Geduld und Stabilität von ihrem schrecklichen Start in das Leben würde erholen können.
Oben in Chantelles neuem Zimmer, hängte Emily die wenigen Kleidungsstücke, die das Mädchen besaß, auf die Kleiderbügel in dem Schrank. Insgesamt waren es nur zwei Paar Jeans, fünf T-Shirts und drei Langarm-Shirts. Es gab nicht einmal genügend Socken für eine Woche.
Chantelle half dabei, ihre Unterwäsche in eine der Schubladen der Kommode zu räumen. „Ich freue mich so, dass ich jetzt Eltern habe“, sage sie.
Emily setzte sich auf den Bettrand, denn sie wollte Chantelle ermutigen, sich ihnen gegenüber zu öffnen. „Und ich freue mich, so ein liebes, kleines Mädchen wie dich zu haben, mit dem ich meine Zeit verbringen kann.“
Chantelle wurde rot. „Du willst wirklich Zeit mit mir verbringen?“
„Natürlich!“, erwiderte Emily leicht verwirrt. „Ich kann es gar nicht abwarten, mit dir an den Strand zu gehen, mit dir auf dem Boot hinauszufahren und Brettspiele oder Ball mit dir zu spielen.“
„Meine Mutter wollte nie mit mir spielen“, meinte Chantelle mit leiser und kleinlauter Stimme.
Emilys Herz zerbrach. „Das tut mir leid“, erwiderte sie, wobei sie versuchte, sich ihren Schmerz nicht anhören zu lassen. „Nun ja, ab jetzt wirst du alles spielen können, was du willst. Was möchtest du denn tun?“
Chantelle zuckte nur mit den Schultern und Emily wurde klar, dass ihr bisheriges Leben so erdrückend und dumpf gewesen sein musste, dass ihr gar nichts einfiel, das ihr Spaß machen könnte.
„Wo ist Daddy hingegangen?“, fragte sie.
Emily warf einen Blick über ihre Schulter und sah, dass Daniel verschwunden war. Nun war sie ebenfalls beunruhigt.
„Er holt sich wahrscheinlich noch ein bisschen Kaffee“, meinte Emily. „Hey, ich habe eine Idee. Warum gehen wir nicht auf den Dachboden und holen ein paar Teddybären für dein Zimmer?“
Sie hatte die ganzen alten Spielsachen von sich und Charlotte aus dem Zimmer, das nach dem Tod ihrer Schwester verschlossen worden war, vorsichtig eingepackt und verstaut. Chantelle war jetzt genauso alt wie Emily damals, als der Raum verschlossen worden war, weshalb viele der Spielsachen für sie geeignet wären.
Sofort hellte sich Chantelles Gesicht auf. „Du hast Teddybären auf dem Dachboden?“
Emily nickte. „Und Puppen. Sie veranstalten auf dem Dachboden zusammen ein Picknick, aber ich mir sicher, dass sie gerne noch einen weiteren Gast hätten. Komm mit, ich zeige dir den Weg.“
Emily führte das kleine Mädchen in den zweiten Stock hinauf und den Flur entlang. Anschließend klappte sie die Leiter zum Dachboden herunter. Chantelle blickte schüchtern nach oben.
„Soll ich zuerst hinaufgehen?“, fragte Emily. „Und sicherstellen, dass dort oben keine Spinnen lauern?“
Chantelle schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe keine Angst vor Spinnen.“ Dabei hörte man ihr an, wie stolz sie auf diese Tatsache war.
Zusammen stiegen sie in den Dachboden hinauf, wo Emily dem Mädchen die Kisten mit alten Spielsachen zeigte. „Du kannst dir alles nehmen, was du willst“, erklärte sie.
„Wird Daddy mit mir spielen?“
Auch Emily wollte Daniel dabeihaben. Sie war sich nicht sicher, wohin und warum er verschwunden war. „Ich frage ihn schnell. Da du ja keine Angst vor Spinnen hast, kommst du hier einen Moment alleine zurecht, nicht wahr?“
Nachdem Chantelle dies mit einem Nicken bestätigt hatte, ließ Emily das kleine Mädchen spielend zurück. Dann suchte sie den zweiten und den ersten Stock nach Daniel ab und ging schließlich ins Erdgeschoss. Dort fand sie ihn in der Küche, wo er reglos bei der Kaffeemaschine stand.
„Geht es dir gut?“, fragte Emily.
Daniel erschrak und wirbelte herum. „Tut mir leid. Ich kam eigentlich nur wegen des Kaffees herunter, doch dann war ich auf einmal von allem so überwältigt.“ Er sah Emily an und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, wie ich das machen, wie ich ein guter Vater sein soll. Ich bin der Sache nicht gewachsen.“
Emily trat zu ihm heran und rieb über seinen Arm. „Das werden wir gemeinsam schon herausfinden.“
„Allein sie sprechen zu hören schmerzt mich. Ich wünschte, ich hätte für sie da sein und sie vor Sheila beschützen können.“
Emily schlang ihre Arme um Daniel. „Du darfst nicht zurückblicken und dich wegen der Vergangenheit sorgen. Alles, was wir nun tun können, ist, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um ihr zu helfen. Es wird alles gut werden. Du wirst ein wunderbarer Vater sein.“
Sie konnte immer noch einen leichten Widerstand in Daniel spüren und wünschte sich so sehr, dass er sich ihr öffnen und ihre Umarmung annehmen würde, um darin Trost zu finden, doch etwas in ihm hielt ihn zurück.
„Sie beginnt schon, Fragen zu stellen“, meinte er. „Sie fragte mich, warum ich ihr nie Geburtstagskarten geschickt habe. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich meine, welche Antwort kann man einer Sechsjährigen schon geben, die sie auch versteht?“
„Ich denke, wir sollten einfach ehrlich sein“, erwiderte Emily. „Geheimniskrämerei hat noch niemandem geholfen.“
Unwillkürlich musste sie an daran denken, wie schmerzhaft wahr ihre Worte in Wirklichkeit doch waren. Ihr Vater hatte sein ganzes Leben lang Geheimnisse mit sich herumgetragen und Emily hatte seit ihrer Ankunft hier gerade einmal die Spitze des Eisbergs entdeckt.
In diesem Moment rannte Chantelle mit einem großen Stoffpandabären unter dem Arm in die Küche. Er war fast so groß wie sie selbst.
„Schau, Daddy! Schau mal!“, rief sie, während sie auf Daniel zustürmte.
Emily war schockiert. Den Bären hatte sie beim Ausräumen von Charlottes ehemaligem Schlafzimmer gar nicht gesehen. Er musste bereits auf dem Dachboden gewesen sein. Er war Charlottes Lieblingsbär gewesen. Sie hatte ihn Andy Pandy – Andy, das Pfötchen – genannt. Ihn jetzt zu sehen, jagte einen schmerzhaften Stich durch den Körper und Emily fragte sich, wie Chantelle das Kuscheltier überhaupt zwischen all den Kisten gefunden hatte.
„Wie heißt denn dein Bär?“, wollte Daniel wissen, während er sich hinabbeugte, sodass er mit Chantelle auf Augenhöhe war.
„Andy Pandy“, antwortete diese mit einem Grinsen.
Schockiert klammerte sich Emily an die Arbeitsplatte. Wieder einmal hatte sie das starke Gefühl, dass dies ein weiteres Zeichen von Charlotte war, eine Art Erinnerung, sie nicht zu vergessen, und um Emily zu zeigen, dass sie von oben zusah.
„Hey, ich habe eine Idee“, sagte Daniel, womit er sie aus ihren Gedanken riss. „Glaubst du, dass Andy Lust hätte, sich eine Parade anzusehen?“
„Ja!“, rief Chantelle.
Daniel sah zu Emily auf. „Was meinst du? Sollen wir alle zur Labor Day Parade gehen? Sozusagen als ersten Familienausflug?“
Indem er sie alle als Familie bezeichnete, riss er Emily aus ihrer Benommenheit.
„Ja“, erwiderte sie. „Das würde mir gefallen.“