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Sie wurden abrupt aus dem Schlaf gerissen, als sich Chantelle im Nebenzimmer regte. Sofort sprangen Emily und Daniel von der Couch, doch wurden im ersten Moment von der Helligkeit des Raumes überrascht. Im Kamin glühte immer noch die Kohle.
Einen Augenblick später öffnete sich die Schlafzimmertür einen winzigen Spalt.
„Chantelle?“, sagte Daniel. „Du kannst herauskommen. Du musst nicht schüchtern sein.“
Langsam öffnete sich die Tür vollständig und gab den Blick auf Chantelle frei, die in einem von Daniels übergroßen T-Shirts bekleidet und mit wirrem Haar dort stand. Obwohl sie weder Daniels dunkles Haar noch seinen leicht gebräunten Teint hatte, so war die Ähnlichkeit zwischen ihnen unbestreitbar. Vor allem die Augen. Sie beide hatten das gleiche stechende Blau.
„Guten Morgen“, sagte Emily, die jetzt erkannte, wie steif sie durch die wenigen Stunden, die sie und Daniel auf der Couch geschlafen hatte, doch war. „Soll ich dir etwas zum Frühstück machen?“
Chantelle kratzte sich am Kinn und wandte den Blick schüchtern zu Daniel. Dieser nickte ihr aufmunternd zu, um ihr zu signalisieren, dass sie hier reden durfte, ohne angeschrien oder eine Nervensäge genannt zu werden.“
„Mhm“, erwiderte Chantelle mit kleinlauter Stimme.
„Was hättest du denn gerne?“, fragte Emily. „Ich könnte dir Pfannkuchen, Toast oder Eier machen. Oder hättest du lieber ein Müsli?“
Chantelles Augen weiteten überrascht und Emily wurde schmerzhaft bewusst, dass sie bisher wahrscheinlich noch nie die Wahl gehabt hatte, was sie essen wollte. Vielleicht hatte ihr sogar niemand je etwas zum Frühstück gemacht.
„Also ich hätte gerne Pfannkuchen“, meinte Emily. „Was ist mir dir, Chantelle?“
„Pfannkuchen“, wiederholte sie.
„Hey, weißt du was?“, fügte Emily hinzu. „Wir könnten ins große Haus gehen und dort frühstücken. Ich habe Blaubeeren im Kühlschrank, die könnte ich für die Pfannkuchen verwenden. Was hältst du davon, Chantelle? Würdest du gerne das große Haus sehen?“
Diesmal nickte das Mädchen begeistert. Daniel sah erleichtert aus, dass Emily an diesem Morgen die Initiative ergriffen hatte. Emily konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, wie sehr ihn das Ganze doch verwirrte.
„Hey“, wandte sie sich vorsichtig an ihn, denn sie wollte ihm nicht auf die Füße treten. „Warum hilfst du Chantelle nicht beim Anziehen?“
Schnell nickte er, wenn auch ein wenig peinlich berührt, dass ihm das nicht selber eingefallen war. Dann führte er das kleine Mädchen in gekünstelter Manier ins Schlafzimmer. Als Emily die beiden beobachtete, sah sie, wie unangenehm Daniel diese einfache Aufgabe eines Vaters zu sein schien. Unwillkürlich musste sie sich fragen, welche Schwierigkeiten er in Tennessee erlebt hatte, während er sich noch an seine neue Vaterrolle gewöhnen musste, und ob er sich so sehr um praktische Dinge, wie etwa die Wohnung, Schule und Ernährung, gesorgt hatte, dass er es noch gar nicht wirklich verarbeiten hatte, nun ein Vater zu sein zu müssen.
Sobald alle fertig waren, verließen sie das Kutscherhaus und liefen den Kiesweg entlang zur Pension. Auf dem Weg kickte Chantelle die kleinen Steine vor sich her und lachte bei dem Geräusch, das sie mit ihren Schuhen erzeugen konnte. Die ganze Zeit über klammerte sie sich an Daniels Hand, doch keiner von beiden schien sich dabei sonderlich wohl zu fühlen. Daniel machte einen steifen und ungemütlichen Eindruck, so als ob er verzweifelt versuchen würde, bloß nichts falsch zu machen oder das zerbrechliche Geschöpf, das nun seiner Pflege übergeben worden war, zu verletzen. Chantelle auf der anderen Seite sah verzweifelt aus, so als ob sie Daniels Hand nie wieder loslassen wollte, als ob ihr das unglaublich großen Schmerz zufügen würde.
Emily war sich nicht sicher, wie sie am besten vorgehen sollte. Zögerlich ergriff sie die andere Hand des kleinen Mädchens und war erfreut und erleichtert zugleich, dass Chantelle nicht zusammenzuckte oder ihre Hand wegzog. Auch Daniel schien Emilys Verhalten zu beruhigen, denn er sah nun wieder etwas mehr wie er selbst aus. Im Gegenzug lockerte sich auch Chantelles Klammergriff an seinem Arm.
Hand in Hand gingen die drei die Verandastufen zur Eingangstür hinauf und Emily führte sie hinein.
Chantelle zögerte an der Türschwelle, so als ob sie sich nicht ganz sicher wäre, wirklich an solch einen Ort zu gehören, weshalb sie Daniel mit fragendem Blick ansah. Dieser lächelte ihr sanft zu und nickte. Langsam trat Chantelle ein, was Emilys Herz vor lauter Emotionen einen Schlag aussetzen ließ. Sie musste gegen die Tränen ankämpfen.
Sofort erkannte Emily, dass Chantelle von dem Haus, in dem sie sich befand, überwältigt war. Sie sah sich um, von der großen, breiten Treppe mit seinem polierten Geländer und dem cremefarbenen Teppich, über den Kronleuchter bis hin zu der riesigen, antiken Rezeption, die sie in Ricos Laden gekauft hatten. Das Mädchen schien von den Kunstwerken und den Fotografien im Flur fasziniert zu sein. Unwillkürlich kam Emily in den Sinn, dass ein Kind wohl genauso aussehen würde, wenn es zum ersten Mal das Haus des Weihnachtsmannes betrat.
Emily führte sie ins Wohnzimmer, wo Chantelle nach Luft schnappte, als sie das Klavier entdeckte.
„Du kannst darauf spielen, wenn du willst“, ermutigte Emily sie.
Chantelle brauchte keine weitere Aufforderung; schnell ging sie zu dem antiken Klavier, das in der Nische bei dem Erkerfenster stand, und begann, auf die Tasten zu hauen.
Emily lächelte Daniel an. „Ich frage mich, ob wir wohl eine angehende Musikerin vor uns haben.“
Daniel beobachtete Chantelle mit fast schon hilfloser Neugier, als ob er noch immer nicht glauben könnte, dass es sie wirklich gab. Das löste in Emily die Frage aus, ob er zuvor überhaupt schon einmal mit Kindern in Kontakt gekommen war. Sie selbst hatte häufig auf Bens Nichten aufgepasst, weshalb sie zumindest ein wenig Ahnung von Kindern hatte. Daniel jedoch schien keinerlei Erfahrung in diesem Bereich zu haben.
In diesem Moment hörte Chantelle auf zu spielen. Das Geräusch der krummen Töne hatte die Hunde auf die Spur gebracht, dass jemand nach Hause gekommen war, weshalb sie von Hauswirtschaftsraum aus zu bellen begannen.
„Magst du Hunde?“, fragte Emily Chantelle, denn sie hatte beschlossen, in dieser Sache die Führung zu übernehmen.
Das Mädchen nickte begeistert.
„Ich habe zwei davon“, fuhr Emily fort. „Rain ist ein Welpe und Mogsy ist seine Mutter. Willst du sie kennenlernen?“
Chantelles Grinsen wurde breiter.
Als Emily sie den Flur entlangführte, spürte sie Daniels Hand auf ihrem Arm.
„Hältst du das für eine gute Idee?“, fragte er im Flüsterton, während sie in Richtung Küche gingen. „Sie werden ihr keine Angst einjagen? Oder sie beißen?“
„Natürlich nicht“, versicherte ihm Emily.
„Aber man hört doch ständig von Hunden, die Kinder anfallen“, widersprach er.
Emily verdrehte nur die Augen. „Das hier sind Mogsy und Rain, weißt du nicht mehr? Sie sind die albernsten und hilflosesten Hunde, die es gibt.“
Als sie die Küche erreichten, bedeutete Emily Chantelle, zum Hauswirtschaftsraum zu gehen. Sobald sie dessen Tür geöffnet hatte, sprangen die Hunde schon hervor und kläfften sie an. Daniel schien vor Anspannung fast zu platzen, als Rain im Kreis um Chantelle herumrannte und Mogsy sich mit ihren Pfoten auf ihrem Oberteil abstützte, um das Mädchen abzulecken. Doch Chantelle genoss das alles sehr und brach in wildes Gelächter aus.
Überrascht weiteten sich Daniels Augen. Instinktiv erkannte Emily, dass er Chantelle gerade zum ersten Mal so voller Freude erlebte.
„Ich glaube, sie mögen dich“, verkündete Emily Chantelle mit einem Lächeln. „Wir können sie mit nach draußen nehmen, wenn du möchtest.“
Das Mädchen sah sie mit ihren großen, blauen Augen an. Sie sah so glücklich aus wie ein Kind an Weihnachten.
„Wirklich?“, stammelte sie. „Darf ich wirklich mit ihnen draußen spielen?“
Emily nickte. „Natürlich.“ Dann gab sie Chantelle ein paar Hundespielsachen. „Ich werde euch vom Fenster aus beobachten.“
Dann öffnete sie die Hintertür, die zum Hof hinausführte, und ließ die Hunde hinausspringen. Chantelle zögerte noch einen Moment, so als ob sie sich noch nicht wirklich traute, alleine hinauszugehen und den ersten Schritt in ihre Unabhängigkeit zu wagen. Doch schließlich fand sie ihr Selbstvertrauen, trat hinaus und warf für die Hunde einen Ball, den sie fangen konnten.
Als Emily zurück in die Küche ging, setzte Daniel gerade eine frische Kanne Kaffee auf.
„Geht es dir gut?“, fragte sie vorsichtig.
Daniel nickte. „Ich habe mich einfach noch nicht daran gewöhnt. Ich sorge mich vor allem darum, dass ihr nichts passiert. Am liebsten würde ich sie in Watte einpacken.“
„Das ist doch ganz normal“, erwiderte Emily. „Aber du musst ihr eine gewisse Unabhängigkeit gewähren.“
Daniel seufzte. „Warum fällt dir das alles so einfach?“
Emily zuckte mit den Schultern. „Das tut es nicht. Ich improvisiere nur. Solange wir ein Auge auf sie haben, ist sie dort draußen vollkommen sicher.“
Sie lehnte sich an die Spüle und blickte durch das große Fenster in den Garten hinaus, wo Chantelle herumrannte und von den Hunden begeistert gejagt wurde. Doch während Emily Chantelle beobachtete, fiel ihr auf, wie sehr das Mädchen Charlotte ähnelte, als diese in ihrem Alter gewesen war. Die Ähnlichkeit war verblüffend, fast schon beängstigend. Der Anblick weckte eine weitere von Emilys verloren geglaubten Erinnerungen, von denen sie seit ihrer Ankunft in Sunset Harbor schon zahlreiche gehabt hatte, und auch wenn sie sie mit ihrer Plötzlichkeit stets überraschten, so schätzte sie jede einzelne von ihnen doch sehr. Sie waren wie Puzzlestücke, jede Erinnerung half ihr, sich ein Bild von ihrem Vater und ihrem gemeinsamen Leben vor seinem Verschwinden zu machen.
Diesmal erinnerte sich Emily daran, einmal schreckliches Fieber, vielleicht sogar eine Grippe gehabt zu haben. Sie waren wieder einmal nur zu dritt gewesen, weil ihre Mutter sie über das Wochenende nicht nach Sunset Harbor hatte begleiten wollen, weshalb ihr Vater sein Bestes gab, um sich um seine Tochter zu kümmern. Sie erinnerte sich daran, dass einer der Freunde ihres Vaters seine Hunde vorbeigebracht hatte und dass Charlotte mit ihnen spielen durfte, wohingegen Emily dafür zu krank war und drinnen bleiben musste. Sie hatte sich damals so darüber geärgert, dass sie nichts von den Hunden zu sehen bekam, dass ihr Vater sie hochgehoben hatte, damit sie aus dem Fenster sehen konnte – aus demselben Küchenfenster, aus dem sie nun ebenfalls hinausschaute – um die Geschehnisse zu beobachten.
Emily trat vom Fenster zurück und schnappte nach Luft. Sie stellte fest, dass ihre Wangen feucht waren, sie musste wohl geweint haben, während sich Chantelle vor ihren Augen in Charlotte verwandelt hatte. Nicht zum ersten Mal hatte Emily das starke Gefühl, dass Charlottes Geist mit ihr kommunizierte, dass sie auf irgendeine Weise in Chantelle weiterlebte und Emily ein Zeichen geben wollte.
In diesem Moment trat Daniel hinter sie und schlang seine Arme um ihre Hüfte. Er bot eine willkommene Ablenkung, weshalb sie ihren Kopf zurückfallen ließ, bis er auf seiner Brust ruhte.
„Was ist los?“, fragte er sanft und mit beruhigender Stimme.
Er muss die Tränen gesehen haben, die über Emily Wangen rollten. Doch diese schüttelte nur den Kopf. Sie wollte Daniel nicht von ihrer Erinnerung erzählen, oder dass sie das Gefühl hatte, Charlottes Geist würde in Chantelle weiterleben, denn sie wusste nicht, wie er darauf reagieren würde.
„Nur eine Erinnerung“, antwortete sie.
Daniel drückte sie dicht an sich und wiegte sie in seinen Armen. Wenn Emily wieder einen ihrer Momente hatte, kümmerte er sich auf so andere Weise um sie als um Chantelle. Bei Emily hatte er sicheren Grund gefasst und sie konnte sehen, wie selbstsicher er im Umgang mit ihr im Vergleich zu seiner Tochter war. Sie hatte sich so oft auf seine schützende Schulter gelegt und nun war sie diejenige, auf die er sich stützte.
„Es ist alles ein wenig überwältigend, nicht wahr?“, meinte sie, als sie ihn schließlich ansah.
Daniel nickte mit qualvoller Miene. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Zum Ersten muss ich sie an der Schule anmelden. Das nächste Halbjahr beginnt am Mittwoch. Außerdem muss ich mich um die Schlafsituation kümmern.“
„Du machst dir nur deinen Rücken kaputt, wenn du weiterhin auf der ausklappbaren Couch schläfst“, stimmte Emily zu. Dann hatte sie eine Idee. „Ziehe doch hier ein.“
Daniel zögerte einen Moment. „Das ist nicht dein Ernst. Du hast hier doch viel zu viel zu tun, um uns auch noch aufzunehmen.“
„Das will ich aber“, beharrte Emily. „Ich will, dass Chantelle genug Freiraum und ein eigenes Zimmer hat.“
„Das musst du nicht tun“, entgegnete Daniel, der sich immer noch ein bisschen gegen den Vorschlag wehrte.
„Und du musst bei alldem nicht alleine sein. Ich bin für dich da. Es wäre viel sinnvoller, wenn ihr hier einzieht, als euch zusammen in das Kutscherhaus zu quetschen.“ Sie drückte sich fest an ihn.
„Aber kannst du es dir wirklich erlauben, eines der Gästezimmer aufzugeben?“
Emily lächelte. „Erinnerst du dich noch daran, dass wir einmal darüber sprachen, das Kutscherhaus in eine von der Pension abgetrennte Ferienwohnung umzubauen? Wäre jetzt nicht der perfekte Augenblick dafür? Chantelle kann das Zimmer neben dem Hauptschlafzimmer haben, sodass sie in unserer Nähe ist. Außerdem bekommt sie ihren eigenen Schlüssel, damit ihr nichts passieren kann. Somit hast du genug Zeit, das Kutscherhaus rechtzeitig zu Thanksgiving renovieren. Ich bin mir sicher, dass es sehr gut bei den Gästen ankommen wird.“