Dylan Masters nahm einen weiteren Schluck Bier und knallte den Krug auf die fleckige Bar. Er war kein großer Mann, aber gut gebaut, mit asiatischen Gesichtszügen und langen Rastalocken, aber es war genug Kraft hinter dem Knall, um ein Stück vom Rand des Bierkrugs absplittern zu lassen.
„Der Hohe Rat der Drachen hat mein Gesuch abgelehnt. Als ich zuhause ankam, war meine Frau bereits tot.“ Dylan kippte den Krug, um auch noch den letzten Schluck Bier zu erwischen, auch wenn es jetzt schon leicht warm und wässrig war. Er hustete und ließ den Krug zum Nachfüllen über die Theke schlittern.
Er war sich nicht sicher, wie die Barkeeperin des AUDREY‘S, Lola, ihn dazu bekommen hatte darüber zu sprechen, was seiner verstorbenen Ehefrau vor drei Jahren zugestoßen war. Er hasste es darüber zu sprechen. Sein innerer Drache hatte sich unter seiner Haut zu einem kleinen Ball zusammengerollt. Seit der schrecklichen Nacht vor vielen Jahren meldete er sich kaum noch und verhielt sich still. Dylan erinnerte sich daran, wie er das Haus betreten hatte, nachdem er die wochenlange Rückreise in Drachenform fliegend hinter sich gebracht hatte. Er hatte noch überlegt, wie er ihr erklären sollte, dass der hohe Rat seine Bitte abgelehnt hatte, als ihm plötzlich auffiel, wie still es war. Das Haus wirkte einfach zu still, um bewohnt zu sein. Er lief durch jedes Zimmer und rief dabei ihren Namen. Schließlich fand er sie in seinem Lieblingsstuhl. Sie trug sein Sweatshirt und hatte es sich mit einem Buch gemütlich gemacht. Sie war bereits seit Tagen tot.
„Hättest du das Urteil des Rats missachtet und ihr deine Drachenschuppen gegeben, um sie zu heilen?“, fragte Lola, während sie sein Bier nachfüllte und es ihm dann zuschob. Die Barkeeperin war wunderschön, aber auf eine Art, die eher beunruhigend als verlockend wirkte. Eine Fülle an kleinen Zöpfen stand von ihrem Kopf ab wie ein Meer von Schlangen, die in verschiedene Richtungen um ihr Gesicht tanzten. Ihre lilafarbenen Augen besaßen eine alterslose Weisheit, wie Dylan sie sonst nur von den uralten Klanführern der Drachen kannte. Ihr mutwilliges Lächeln passte zu der roten Rosentätowierung, die sich über ihre Brust schlängelte und in ihrem prallen Dekolleté verschwand. Dylan wurde das Gefühl nicht los, dass sie bereits wusste, was er sagen würde.
„Natürlich hätte ich sie gerettet. Sie war die Liebe meines Lebens. Die Ärzte sagten uns, dass sie noch Monate zu leben hätte. Hätte ich gewusst, wie wenig Zeit uns wirklich blieb, dann hätte ich...“ Seine Stimme zitterte, als er an diese dunklen Tage zurückdachte. Hätte er damals gewusst, was er heute wusste, dann hätte er sich nicht bemüht den Hohen Rat der Drachen um Erlaubnis anzuflehen; er hätte ein paar Schuppen abgeworfen, sie zu einem Pulver gemahlen und ihr verabreicht. Es war ein wohlbehütetes Geheimnis unter Drachenwandlern – Dylan konnte sich nicht erklären, wie Lola davon wissen konnte – dass Drachenschuppen zu einem Pulver gemahlen, welches auch Drachenstaub genannt wurde, die meisten menschlichen Krankheiten heilen konnten. Damals glaubte er noch an die Regeln des Klans, die es verbieten, Menschen Drachenstaub zu verabreichen. Er glaubte an das System. Er war damals davon überzeugt, dass der Rat ihn und seine Familie beschützen und für sie sorgen würde, denn das war ja schließlich seine Aufgabe. Jetzt aber kannte er die Wahrheit.
Er hörte ein Poltern hinter sich. Er drehte sich instinktiv in die Richtung, aus der die Bedrohung kam, noch bevor sein Gehirn es registrieren konnte. Ein Feuerball schwelte bereits in seinem zur Hälfte gewandelten Hals, bereit ein wildes Meer von Flammen zu entfesseln, das die Bar mit größter Wahrscheinlichkeit niederbrennen würde.
Eine Elfe starrte ihn mit großen, blauen Augen an. Auf ihrem Kopf wuchsen Blumen, und hellgrüne Ranken lockten sich in ihrem blonden Haar. Ihr Kleid bestand aus übereinanderliegenden rosafarbenen und blauen Blütenblättern. Ihr zierlicher Mund war bereits zu einer Warnung geöffnet. Davor schwebte ein Schwarm Bienen, bereit sich gegen ihn zu wehren, falls er angreifen sollte.
Dylan hob entschuldigend die Hand und setzte sich wieder auf seinen Barhocker. Er fühlte sich töricht, während er sein Gesicht wieder in das eines Menschen verwandelte.
„Tut mir leid“, sagte er zu der Elfe. „Ich habe schwere Zeiten hinter mir.“
Die Fee machte ein zwitscherndes Geräusch, bestellte ihr Getränk und ging zurück an ihren Tisch. Dylans Augen weiteten sich, als er die Gefährten der Elfe sah: ein Tigerwandler in einem Ganzkörper-Lederanzug, ein drei Meter großer Troll mit so vielen Warzen, dass seine grüne Haut darunter kaum erkennbar war, und eine rothaarige Hexe, die mit Bällen aus Eis und Feuer jonglierte, und jedes Mal kicherte, wenn welche davon auf den verbrannten Boden fielen. Ein paar Vampire tranken ihre Blutcocktails in der Ecke, und zwei Kobolde knutschten heftig, während sie kichernd und stolpernd zu einer Tür mit dem Schild „Hinterzimmer“ verschwanden.
„Ist das, ähm, normal hier?“, fragte Dylan und band seine Rastalocken im Nacken zusammen.
„Das hier ist AUDREY'S, Schätzchen“, lächelte Lola und zeigte zu viele Zähne. „Wir machen nichts normal hier.“
Dylan nippte an seinem Bier und dachte nach. Die letzten paar Jahre fühlten sich an wie eine niemals endende Reihe von Bars und unbeantworteten Fragen. Nach dem Tod seiner Frau hatte er das erste Jahr damit verbracht, um sie zu trauern und versucht, trotz des riesigen Lochs, das sie in seinem Leben hinterlassen hatte, einfach weiterzumachen. Er hatte ihr gemeinsames Haus verkauft, seinen Job als Ermittler gekündigt und den Klanführern ziemlich deutlich klargemacht, wo sie sich ihre Regeln hinschieben konnten. Dann hatte er sich ein Motorrad gekauft und war einfach losgefahren. Im zweiten Jahr nach ihrem Tod hatte er zum ersten Mal die Gerüchte über die Eisenklauen gehört. Die Geschichten schienen zu gut, um wahr zu sein. Aber der Gedanke, dass die Eisenklauen wirklich existieren könnten, gab ihm neuen Mut und ließ ihn nach der schwer fassbaren Motorradbande suchen. Während er sich im AUDREY‘S umschaute, dachte Dylan, dass dies der perfekte Ort sei, um Antworten zu finden.
„Vielleicht kannst du mir helfen“, sagte er und versuchte einen gleichgültigen Gesichtsausdruck zu bewahren. „Ich habe ein Gerücht über einen Motorradklub, der sich ‚die Eisenklauen’ nennt, gehört. Anscheinend ist es eine Gruppe von verstoßenen Drachenwandlern, die Drachenstaub verteilen.“
„Das hört sich ja bewundernswert an“, sagte Lola, und die Strähnen ihres Haares wuselten aufgeregt um ihren Kopf, wie der wedelnde Schwanz einer Katze.
„Ich suche sie seit ein paar Jahren, aber sie sind mir immer eine Nasenlänge voraus. Sie sind so schnell, dass sie immer wieder bereits verschwunden sind, wenn ich gerade herausgefunden habe, wo ein Handel stattgefunden hat.“
„Was wirst du tun, wenn du sie findest?“, fragte Lola mit gleichgültiger Stimme, während sie einen hellgrün leuchtenden Cocktail für den Troll zusammenmischte.
Dylans Drache rollte und reckte sich in seinem Inneren, wachgerüttelt von dem seltenen Gefühl aufkeimender Hoffnung in seiner Brust. Könnten sie wirklich so nahe sein? Lola wusste offensichtlich etwas über die Motoradbande. Die vorsichtige Art, wie sie dort stand, wie sie den Augenkontakt zum allerersten Mal, seit er durch diese Tür gekommen war, vermied...sie wusste etwas. Und falls er mit seinem Gefühl richtiglag, überlegte sie gerade, ob sie ihm diese Information anvertrauen sollte.
Dylan konnte ihr Zögern gut verstehen. Der Hohe Rat hätte nur zu gern diesen schwer fassbaren Motoradklub ausfindig gemacht um ihn auszulöschen. Er hatte bereits in einigen Städten Hinweise auf Schlägertruppen des Rats gesehen und Gerüchte über Gewalt in Bars vernommen, die sich danach angehört hatten, als habe der Rat seine Handlanger von der Leine gelassen. Aber er musste die Eisenklauen finden.
Lola schaute ihn aufmerksam an und wartete auf seine Antwort.
„Wenn ich sie finde, werde ich mich ihnen anschließen“, sagte er und fragte sich zum ersten Mal, ob sie ihn überhaupt aufnehmen würden. Er hatte als Kämpfer und Ermittler viel zu bieten, aber würde sein ehemaliger blinder Gehorsam gegenüber der Klantradition dafür sorgen, dass sie ihm misstrauten?
Lola lächelte. „Na dann, Zuckerschnütchen, solltest du dir morgen wahrscheinlich mal den Flohmarkt beim Winter-Wondernasium anschauen. Frag nach den besonderen Brownies. Die haben es in sich.“