KAPITEL DREI

627 Words
KAPITEL DREI Als Shane Hatcher am Weihnachtmorgen in die Gefängnisbücherei kam, zeigte die Uhr, dass es zwei Minuten vor der vollen Stunde war. Perfektes Timing, dachte er. In wenigen Minuten würde er ausbrechen. Es amüsierte ihn, dass überall Weihnachtsdekorationen angebracht waren – alle aus Styropor natürlich, nichts Hartes, keine Ecken, nichts, was man als Seil verwenden könnte. Hatcher hatte viele Weihachten in Sing Sing verbracht und der Versuch hier ein Gefühl von Weihnachtsfeierlichkeit zu vermitteln, erschien ihm absurd. Er musste fast laut lachen, als er Freddy sah, den wortkargen Bibliothekar, der eine rote Nikolausmütze trug. An seinem Schreibtisch sitzend drehte Freddy sich zu ihm und warf ihm ein verzerrtes Grinsen zu. Das Grinsen verriet Hatcher, dass alles nach Plan verlief. Hatcher nickte stumm und erwiderte das Lächeln. Dann ging Hatcher zwischen zwei Regale und wartete. Als die Uhr die volle Stunde anzeigte, hörte Hatcher, wie sich die Ladetür am anderen Ende der Bücherei öffnete. Kurz darauf schob der Fahrer eine große Plastikwanne auf Rädern in den Raum. Die Tür schloss sich lautstark hinter ihm. "Was hast du heute für mich, Bader?" fragte Freddy. "Was denkst du, was ich habe?" erwiderte der Fahrer. "Bücher, Bücher, Bücher." Der Fahrer warf Hatcher einen schnellen Blick zu und drehte sich dann weg. Der Fahrer war natürlich eingeweiht. Ab diesem Moment taten Freddy und der Fahrer so, als wäre er nicht da. Ausgezeichnet, dachte Hatcher. Zusammen entluden Freddy und Bader die Bücher auf einen Metalltisch. "Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee drüben in der Kantine?" sagte Freddy den Fahrer. "Oder vielleicht sogar einen heißen Eierpunsch? Den haben sie gerade für die Feiertage." "Klingt gut." Die beiden Männer unterhielten sich während sie durch die beiden Schwingtüren der Bücherei verschwanden. Hatcher stand unbeweglich zwischen den Regalen und kontrollierte die Position der Plastikwanne. Er hatte einen Wärter bestochen, um die Überwachungskamera über die letzten Tage Stück für Stück zu bewegen, bis ein toter Winkel in der Bücherei entstand – einer, der dem Wärter, der die Monitore überwachte, bisher nicht aufgefallen war. Es sah so aus, als hätte der Fahrer die exakte Position gefunden. Hatcher trat zwischen den Regalen hervor und stieg in die Plastikwanne. Der Fahrer hatte eine grobe Wolldecke auf den Boden der Wanne gelegt. Hatcher zog sie über sich. Jetzt kam es zu der einzigen Phase in Hatchers Plan, in der möglicherweise etwas schief gehen könnte. Aber selbst wenn jemand in die Bücherei kam, bezweifelte er, dass dieser jemand in die Plastikwanne gucken würde. Andere, die normalerweise den Bücherwagen genau untersuchen würden, wenn er das Gelände verließ, waren ebenfalls bestochen worden. Nicht, dass er sich Sorgen machte oder nervös war. Solche Emotionen fühlte er schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Ein Mann, der nichts zu verlieren hatte, konnte mit solchen Emotionen nichts anfangen. Das Einzige, was sein Interesse wecken konnte, war das Ungewisse. Er lag unter der Decke und lauschte aufmerksam. Er hörte, wie die Minuten langsam dahin tickten. Noch fünf Minuten, dachte er. Das war der Plan. Diese fünf Minuten würden es Freddy ermöglichen, Wissen über den Plan abzustreiten. Er konnte wahrheitsgetreu sagen, dass er nicht gesehen hatte, wie Hatcher in die Wanne stieg. Er konnte sagen, dass er geglaubt habe, Hatcher hätte die Bücherei bereits davor verlassen. Nach den fünf Minuten würden Freddy und der Fahrer zurückkommen und Hatcher würde aus der Bücherei gerollt und aus dem Gefängnis gefahren werden. Hatcher erlaubte seinen Gedanken auf Wanderschaft zu gehen. Er fragte sich, was er mit seiner Freiheit anfangen würde. Er hatte kürzlich Informationen erhalten, die das Risiko lohnenswert, sogar interessant machten. Hatcher lächelte, als er an eine andere Person dachte, die zweifellos Interesse an seinem Ausbruch haben würde. Er wünschte, er könnte das Gesicht von Riley Paige sehen, wenn sie herausfand, dass er ausgebrochen war. Er lachte leise. Es würde interessant sein, sie wiederzusehen.
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