KAPITEL FÜNF

2096 Words
KAPITEL FÜNF Rileys ungutes Gefühl nahm zu, als sie das BAU Gebäude betrat. Ihr Chef wartete auf sie in seinem Büro. Ein großer, muskulöser Mann mit kantigen Gesichtszügen, war Meredith immer eine imposante Erscheinung. Jetzt sah er sie besorgt an. Bill war ebenfalls da. Riley konnte an seinem Gesichtsausdruck sehen, dass er nicht wusste, um was es bei dem Gespräch ging. "Setzen Sie sich, Agentin Paige", sagte Meredith. Riley nahm ihm gegenüber Platz. "Es tut mir leid, Ihre Feiertage zu stören", sagte Meredith zu Riley. "Es ist eine Weile her, dass wir gesprochen haben. Wie geht es Ihnen?" Riley wusste nicht, was sie davon halten sollte. Es war nicht Merediths Art ein Meeting mit einer Entschuldigung und Erkundigungen nach ihrem Befinden zu beginnen. Normalerweise kam er direkt auf den Punkt. Natürlich wusste er, dass sie wegen Aprils Krise beurlaubt war. Riley verstand, dass Meredith ernsthaft besorgt war. Trotzdem kam es ihr seltsam vor. "Es geht mir besser, danke", sagte sie. "Und Ihre Tochter?" hakte Meredith nach. "Sie erholt sich, danke", erwiderte Riley. Meredith sah sie aufmerksam an. "Ich hoffe, dass Sie bereit sind, Ihre Arbeit wieder aufzunehmen", sagte Meredith. "Denn wir haben Sie noch nie dringender an einem Fall gebraucht." In Rileys Kopf rasten die Gedanken, während sie darauf wartete, dass er sich erklärte. Schließlich sagte Meredith, "Shane Hatcher ist aus Sing Sing geflohen." Seine Worte trafen sie wie eine Tonne Ziegelsteine. Riley war froh, dass sie saß. "Mein Gott", entfuhr es Bill, der gleichermaßen entsetzt war. Riley kannte Shane Hatcher gut – zu gut, wenn es nach ihr ging. Seit Jahrzehnten saß er nun als lebenslänglicher Gefangener im Gefängnis. Während seiner Zeit im Gefängnis war er ein Experte der Kriminologie geworden. Er hatte Artikel in Fachmagazinen veröffentlicht und sogar eine Klasse in dem akademischen Programm des Gefängnisses unterrichtet. Riley hatte ihn einige Male in Sing Sing besucht, um seinen Rat bezüglich eines aktuellen Falles zu bekommen. Ihre Besuche waren immer verstörend gewesen. Hatcher schien eine besondere Affinität ihr gegenüber zu spüren. Und Riley wusste, tief in sich, dass sie faszinierter von ihm war, als sie sein sollte. Sie dachte, dass er wahrscheinlich der intelligenteste Mann war, den sie getroffen hatte – und wahrscheinlich auch der gefährlichste. Sie hatte sich geschworen, dass sie ihn nie wieder besuchen würde. Jetzt erinnerte sie sich nur zu gut an das letzte Mal, als sie sich unterhalten hatten. "Ich werde nicht noch einmal hierher kommen", hatte sie ihm gesagt. "Vielleicht müssen sie gar nicht herkommen, um mich zu sehen", war seine Antwort gewesen. Jetzt erschienen ihr diese Worte verstörend vorausschauend. "Wie ist er entkommen?" fragte Riley Meredith. "Ich habe noch nicht sehr viele Details", erwiderte Meredith. "Aber wie Sie wahrscheinlich wissen, hat er viel Zeit in der Gefängnisbücherei verbracht und dort oft als Assistent gearbeitet. Gestern war er dort, als die Bücher angeliefert wurden. Er muss sich in den Truck geschlichen haben und ist so entkommen. Der Truck wurde spät gestern Abend einige Meilen außerhalb von Ossining gefunden, etwa zur gleichen Zeit, zu der die Wärter seine Abwesenheit bemerkt haben. Von dem Fahrer fehlt jede Spur." Meredith verfiel wieder in Schweigen. Riley konnte sich gut vorstellen, dass Hatcher einen solch riskanten Ausbruchsversuch unternahm. Was den Fahrer anging, wollte Riley lieber nicht darüber nachdenken, was mit ihm passiert war. Meredith lehnte sich über den Tisch zu Riley. "Agentin Paige, sie kennen Hatcher besser als jeder sonst. Was können Sie uns über ihn sagen?" Riley holte tief Luft. Sie war noch immer von den Neuigkeiten erschüttert. "In seiner Jugend war Hatcher ein Gangmitglied in Syracuse. Er war außergewöhnlich brutal, selbst für einen abgehärteten Kriminellen. Man hat ihn 'Shane the Chain' genannt, weil er rivalisierende Bandenmitglieder gerne mit Reifenketten zu Tode geprügelt hat." Riley hielt inne und erinnerte sich an etwas, das Hatcher ihr erzählt hatte. "Ein Streifenpolizist hat es sich zur Aufgabe gemacht, Hatcher das Handwerk zu legen. Hatcher hat zurückgeschlagen, indem er ihn mit einer Reifenkette bis zur Unkenntlichkeit entstellt und getötet hat. Seine blutige Leiche hat er auf die Veranda gelegt, damit sie von der Familie gefunden wird. Danach wurde Hatcher geschnappt. Er ist jetzt seit etwa dreißig Jahren im Gefängnis. Er hätte niemals herauskommen sollen." Schweigen senkte sich über den Raum. "Er ist jetzt fünfundfünfzig", sagte Meredith zögernd. "Ich würde denken, dass er nach dreißig Jahren im Gefängnis nicht mehr so gefährlich ist, wie in seiner Jugend." Riley schüttelte den Kopf. "Da denken Sie falsch. Damals war er nur ein dummer Junge. Er hatte keine Ahnung von seinem eigenen Potenzial. Aber über die Jahre hat er sich großes Wissen angeeignet. Er weiß, dass er ein Genie ist. Und er hat nie wirklich Reue gezeigt. Oh, und er hat über die Jahre eine sehr polierte äußere Erscheinung entwickelt. Und er hat sich im Gefängnis benommen – das hat ihm Privilegien eingebracht, wenn auch keine Verkürzung seines Urteils. Ich bin mir sicher, dass er brutaler und gefährlicher ist, als je zuvor." Riley dachte einen Moment nach. Etwas störte sie. Sie konnte nur nicht genau den Finger darauf legen. "Weiß jemand, warum?" fragte sie. "Warum was?" entgegnete Bill. "Warum er ausgebrochen ist." Bill und Meredith tauschten verwirrte Blicke. "Warum bricht jemand aus dem Gefängnis aus?" fragte Bill. Riley verstand, wie seltsam ihre Frage klang. Sie erinnerte sich daran, dass Bill einmal bei einem Gespräch mit Hatcher dabei gewesen war. "Bill, du hast ihn getroffen", sagte sie. "Erschien er dir als – nun ja, unzufrieden? Rastlos?" Bill zog nachdenklich die Brauen zusammen. "Nein, tatsächlich war er …" Seine Stimme verlor sich. "Fast glücklich, vielleicht?" beendete Riley seinen Gedanken. "Gefängnis scheint ihm zu liegen. Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass er seine Freiheit überhaupt will. Da ist fast etwas Zen–mäßiges an ihm, eine Loslösung von allem im Leben. Er hat keine Begierden oder Verlangen, von denen ich wüsste. Freiheit hat ihm nichts zu bieten. Und jetzt ist er auf der Flucht, ein gesuchter Mann. Also, warum hat er sich entschieden, auszubrechen? Und warum jetzt?" Meredith trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch. "Wie hat ihr letztes Gespräch mit ihm geendet?" fragte er. "Einvernehmlich?" Riley konnte ein ironisches Grinsen kaum unterdrücken. "Nichts zwischen uns war je einvernehmlich", sagte sie. Dann, nach einer kurzen Pause, fügte sie hinzu, "Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Sie fragen sich, ob ich sein Ziel bin." "Ist das möglich?" fragte Bill. Riley antwortete nicht. Wieder erinnerte sie sich an Hatchers Worte. "Vielleicht müssen sie gar nicht hierher kommen, um mich zu sehen". Waren sie eine Drohung gewesen? Riley wusste es nicht. Meredith sagte, "Agentin Paige, Ich muss Ihnen nicht sagen, dass dies ein hoch priorisierter Fall sein wird, bei dem wir unter extremem Druck stehen. Während wir uns hier unterhalten, gehen die Nachrichten an die Medien. Ein Gefängnisausbruch ist immer eine große Sache. Er kann sogar Panik in der Öffentlichkeit auslösen. Was auch immer er vorhat, wir müssen ihn schnell stoppen. Ich wünschte, Sie müssten nicht mit einem so harten und gefährlichen Fall wieder in die Arbeit einsteigen. Sind Sie bereit? Denken Sie, Sie werden das schaffen?" Riley fühlte ein seltsames Kribbeln bei dieser Frage. Es war ein Gefühl, das sie selten, wenn überhaupt vor einem Fall spürte. Sie brauchte einen Moment um zu begreifen, dass das Gefühl schlicht und einfach Angst war. Aber es war nicht die Angst um ihre eigene Sicherheit. Es war etwas anderes. Etwas Unaussprechliches und Irrationales. Vielleicht lag es daran, dass Hatcher sie so gut kannte. Ihrer Erfahrung nach wollten alle Häftlinge etwas im Austausch für Informationen. Aber Hatcher war nicht an den üblichen Dingen, wie Whiskey oder Zigaretten interessiert gewesen. Sein eigenes Quidproquo war sowohl einfach, als auch verstörend gewesen. Er wollte, dass sie ihm etwas über sich erzählte. "Etwas, von dem Sie nicht wollen, dass andere es wissen", hatte er gesagt. "Etwas, von dem Niemand etwas wissen soll." Riley hatte zu bereitwillig nachgegeben. Jetzt wusste Hatcher alles Mögliche über sie – dass sie eine Mutter mit Fehlern war, dass sie ihren Vater gehasst hatte und nicht zu seiner Beerdigung gegangen war, dass es sexuelle Spannungen zwischen ihr und Bill gab, und dass sie manchmal – genau wie Hatcher selbst – Freude an Gewalt und dem Töten fand. Sie erinnerte sich an das, was er während ihres letzten Gesprächs gesagt hatte. "Ich kenne Sie. Auf eine Art kenne ich Sie besser, als Sie sich selbst." Konnte sie wirklich ihren Verstand mit einem Mann wie diesem messen? Meredith saß hinter seinem Schreibtisch und wartete geduldig auf eine Antwort. "Ich bin so bereit, wie ich nur sein kann", sagte sie und versuchte dabei zuversichtlicher zu klingen, als sie war. "Gut", sagte Meredith. "Wie sollen wir vorgehen?" Riley dachte einen Moment nach. "Bill und ich müssen alle Informationen durchgehen, die das Büro über Shane Hatcher hat", sagte sie dann. Meredith nickte. "Ich habe Sam Flores bereits gebeten, alles bereit zu machen." * Wenige Minuten später saßen Riley, Bill, und Meredith im BAU Konferenzraum vor dem großen Display, auf dem der Labortechniker Sam Flores Informationen zusammengefasst hatte. "Ich denke, dass ich alles zusammen habe, was Sie sehen wollen", sagte er. "Geburtsurkunde, Strafregister, Gerichtsmitschriften, etc." Riley nickte Flores anerkennend zu. Die Informationen ließen nichts zu wünschen übrig. Unter anderem sah sie einige grausige Fotos von Shane Hatchers Opfern, darunter auch die blutige Leiche des Polizisten auf seiner Veranda. "Welche Informationen haben wir über den Polizisten, den Hatcher getötet hat?" fragte Bill. Flores rief eine Reihe von Fotos auf, die einen herzlich aussehenden Polizisten zeigten. "Officer Lucien Wayles, bei seinem Tod 1986 sechsundvierzig Jahre alt", berichtete Flores. "Er war verheiratet, drei Kinder, mit der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet, überall beliebt und respektiert. Das FBI hat sich mit der örtlichen Polizei zusammengetan und Hatcher innerhalb von Tagen nach Wayles Tod festgenommen. Was mich erstaunt ist, dass sie Hatcher nicht an Ort und Stelle zu Brei geschlagen haben." Bei dieser letzten Bemerkung schnaubte Bill beifällig. Riley war jedoch am meisten getroffen von den Fotos, die Hatcher selbst zeigten. Sie erkannte ihn kaum. Obwohl der Mann, den sie kannte, einschüchternd sein konnte, schaffte er es ein respektables Äußeres zu präsentieren, sogar auf seine Weise akademisch auszusehen, mit seiner Lesebrille, die immer auf seiner Nasenspitze saß. Der junge Afroamerikaner auf dem Fahndungsbild von 1986 hatte ein schmales, hartes Gesicht und einen grausamen, leeren Blick. Riley konnte kaum glauben, dass es sich um die gleiche Person handelte. So detailliert und vollständig die Präsentation auch war, Riley war unzufrieden. Sie hatte selber geglaubt, dass sie Shane Hatcher besser kannte, als sonst jemand. Aber diesen Shane Hatcher kannte sie nicht – das brutale junge Gangmitglied 'Shane the Chain.' Ich muss ihn kennen lernen, dachte sie. Sie bezweifelte, dass sie sonst in der Lage sein würde ihn zu fassen. Sie hatte ein Gefühl, als würde das kalte, digitale Display gegen sie arbeiten. Sie brauchte etwas Handfesteres – tatsächliche Fotos mit Knicken und ausgefransten Ecken, vergilbte Berichte und Dokumente. Sie fragte Flores, "Könnte ich mir die Originaldokumente ansehen?" Flores schnaubte ungläubig. "Sorry, Agentin Paige – keine Chance. Das FBI hat all seine Papierunterlagen 2014 geschreddert. Jetzt ist alles gescannt und digitalisiert. Was Sie hier sehen, ist alles, was wir haben." Riley seufzte enttäuscht. Ja, sie erinnerte sich daran, dass Millionen von Papierakten geschreddert wurden. Andere Agenten hatten sich beschwert, aber damals war ihr das nicht als problematisch erschienen. Jetzt sehnte sie sich geradezu nach altmodischen Akten. Aber jetzt war das Wichtigste, herauszufinden, was Hatchers nächster Zug sein würde. Ihr kam eine Idee. "Wer war der Polizist, der Hatcher schließlich festgenommen hat?" fragte sie. "Wenn er noch lebt, dann könnte das Hatchers erstes Ziel sein." "Es war kein örtlicher Polizist", sagte Flores. "Und es war kein 'er.'" Er rief ein altes Foto von einer Agentin auf. "Ihr Name ist Kelsey Sprigge. Sie war eine FBI Agentin im Syracuse Büro – damals fünfunddreißig Jahre alt. Sie ist jetzt siebzig und lebt als Rentnerin in Searcy, einer Stadt in der Nähe von Syracuse." Riley war überrascht zu hören, das Sprigge eine Frau war. "Sie muss zum FBI gekommen sein–" fing Riley an. Flores führte ihren Gedanken aus. "1972, als J. Edgars Leiche noch kaum kalt war. Damals wurde es Frauen endlich erlaubt, sich als Agenten zu bewerben. Vorher war sie bei der Polizei." Riley war beeindruckt. Kelsey Sprigge hatte viel Geschichte durchlebt. "Was können Sie mir über sie erzählen?" fragte Riley Flores. "Nun, sie ist eine Witwe mit drei Kindern und drei Enkeln." "Rufen Sie im Syracuse Büro an und sagen Sie ihnen, dass sie alles tun sollen, um Sprigge zu beschützen", sagte Riley. "Sie ist in ernster Gefahr." Flores nickte. Dann wandte sie sich an Meredith. "Sir, ich brauche ein Flugzeug." "Warum?" fragte er verwirrt. Sie holte tief Luft. "Shane ist möglicherweise auf dem Weg, um Sprigge zu töten", sagte sie. "Und ich will zuerst mit ihr sprechen."
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