Kapitel 1

3477 Words
KAPITEL 1 Tansy Bell ließ ihren Kopf gegen die Wand sinken, an der sie saß, und streckte ihr Bein aus. Sie zog eine Grimasse, als Schmerz und Erschöpfung versuchten, ihre gemeinen Krallen in sie zu schlagen. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht laut zu schreien, zog den zerrissenen Stoff zur Seite, der als behelfsmäßiger Verband diente, und betrachtete die Wunde an ihrem Bein. Einmal angeschossen zu werden war totaler Mist, befand Tansy, und zweimal angeschossen zu werden war einfach scheiße. Sie ignorierte die Wunde an der Seite ihres Körpers, denn diese war nicht so schlimm wie die Wunde an ihrem Bein. Ihr Hemd klebte ohnehin daran und sie hoffte, dass die Blutung dadurch gestoppt wurde. Sie hatte Glück, dass sie nicht in schlimmerer Verfassung war, bedachte man, wie viele Waffen auf sie geschossen hatten. Wenigstens ist die Wunde an der Seite nur eine Fleischwunde, dachte sie müde, ganz im Gegensatz zur Wunde an ihrem Oberschenkel. Sie würgte wegen der Galle, die ihr die Kehle hinaufstieg, als sie die Wunde untersuchte, um festzustellen, wie tief die Kugel saß. Sie war ziemlich sicher, dass die Kugel nicht allzu tief saß, denn in diesem Fall hätte sie überhaupt nicht mehr laufen können. Ein Schauer durchfuhr sie, als sie einen unerträglichen Schmerz empfand, der sich wellenartig durch ihren Körper ausbreitete. „Das ist doch echt beschissen“, flüsterte Tansy, während sie sich eine einzelne Träne aus dem kalten, feuchten Gesicht wischte. Sie befand sich tief im Verborgenen, und niemand würde ihre Existenz überhaupt zur Kenntnis nehmen, geschweige denn ihr zu Hilfe kommen. Tansy schloss die Augen und wartete darauf, dass die Übelkeit verging. Sie hatte einen Notfallkoffer dabei, den sie selbst zusammengestellt hatte. Sie hatte allerdings keine l**t, sich selbst zu operieren, erst recht nicht dort, wo sie sich gerade befand. Hier wollte sie nicht sterben, doch wenn sie nicht schnell ein Wunder herbeizaubern konnte, würde sie es mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht lebend hier raus schaffen. In dieser Gegend wimmelte es nur so von zornigen Bastarden, die die Informationen zurückhaben wollten, die sie gestohlen hatte. Und die Kerle wollten auch sie, und zwar vorzugsweise lebend, damit sie sich einen Spaß daraus machen konnten, sie ganz langsam umzubringen. Tansy zog den Rucksack näher, den sie vorhin fallen gelassen hatte. Es hatte keinen Sinn, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Wenn sie die Kugel nicht herausholte, konnte die Wunde nicht heilen und dann würde es später noch mehr wehtun. Nicht zuletzt ist es verdammt schwer zu versuchen, mit nur einem Bein zu laufen, dachte sie wehmütig. Sie musste es wissen, denn genau das hatte sie in den letzten zwei Stunden getan. Sie kramte herum und fand das kleine Notfall-Set. Es enthielt ein Betäubungsmittel für örtliche Betäubung, ein sterilisiertes Set mit Skalpell, Nahtmaterial, Verbandszeug und Antibiotika. Tansy öffnete das Set und konzentrierte sich auf das, was sie tat, und nicht darauf, wie stark ihre Schmerzen waren. Mit ihrem Messer vergrößerte sie das Loch in ihrer schwarzen Hose, damit sie sehen konnte, was sie tat. Sie riss die Verpackung der Spritze mit den Zähnen auf und zog schnell die Flüssigkeit aus dem kleinen Fläschchen auf. Sie betäubte den Bereich um die Wunde, und zog dann die Verpackung mit dem Skalpell und der Pinzette zu sich. Sie kniff in die Stelle, ob sie betäubt genug war, und war zufrieden, dass sie mit der Arbeit beginnen konnte. Sie vergrößerte vorsichtig die Eintrittswunde und fing mit dem schmutzige Stoff, den sie zuvor darum gewickelt hatte, das aus der Wunde fließende Blut auf. Mit der Pinzette tastete sie nach der Kugel. Glücklicherweise schien sie nicht besonders tief zu sitzen oder größeren Schaden im Gewebe angerichtet zu haben. Sie zog sie vorsichtig heraus. Mit dem Unterarm wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, der sich trotz der fast eisigen Temperatur in dem verlassenen Gebäude, in dem sie sich versteckt hielt, gebildet hatte. Das Blut floss d**k und unablässig aus der Wunde, und Tansy wischte so viel auf, wie sie konnte. Dann nahm sie Nadel und Faden und begann, die Wunde in ihrem Oberschenkel zuzunähen. Anschließend reinigte sie die Stelle, wickelte einen sauberen, sterilen Verband darum und verpasste sich eine Spritze mit Antibiotika. Als sie fertig war, zog sie ihr Hemd seitlich vom Körper weg und reinigte und verband auch die Wunde dort. Als Nächstes nahm sie ein normales Nähset aus ihrer Tasche und stopfte das Loch in ihrer Hose und ihrem Hemd, damit es nicht zu sehr auffiel. Nachdem sie sich bestmöglich zusammengeflickt hatte, reinigte sie den Bereich im Gebäude, bis sie zufrieden und der Ansicht war, dass es keinen Beweis dafür gab, dass sie sich jemals dort aufgehalten hatte. Wenn es dunkel war, würde sie weitergehen und möglichst viel Abstand zwischen sich und die Männer bringen, die auf der Suche nach ihr waren. Tansy zog eine Grimasse, als sie ihr Bein belastete. Momentan war es betäubt, es würde später allerdings höllisch wehtun. Sie würde die Menge eingenommener Schmerzmittel, rationieren müssen. Sie wollte weder ihr Denkvermögen verlangsamen noch dass ihr die Schmerzmittel ausgingen, falls sie sie später noch brauchte. Falls es ein Später gibt, dachte sie und beobachtete durch ein schmutziges Fenster, wie mehrere Autos vorfuhren und ein halbes Dutzend Männer ausstiegen. Es ist Zeit, zu verschwinden, Dunkelheit hin oder her, wenn ich am Leben bleiben will, dachte Tansy grimmig. Sie schob sich den schwarzen Rucksack auf ihre Schulter und steckte eine lange Strähne ihres dunkelroten Haares unter die schwarze Strickmütze, die ihre restlichen Haare verdeckte. Wenn einer der Männer ihr Haar sehen würde, wäre es, als würde sie eine Fackel hochhalten. Wenigstens mochte Boris meine Haare, dachte Tansy zynisch. Das war das a*s in ihrem Ärmel, mit dem sie an ihn herangekommen war. Sie glaubte allerdings nicht, dass ihm derzeit irgendetwas an ihr gefiel – auch nicht ihre dicke rote Mähne. Sie konnte es ihm nicht übelnehmen. Sie hatte ihn bestohlen und versucht, seinen psychopathischen Hintern umzubringen. Tansy verließ leise das obere Stockwerk des abbruchreifen Gebäudes, wo sie sich versteckt hatte. Es ist dreckig, kalt und deprimierend, dachte Tansy, während sie zum Treppenhaus ging, das dunkel und schmal war. Es ist genau wie die Welt, in der ich lebe. Tansy glaubte bereits seit langer Zeit nicht mehr an Märchen, sondern nur an die dunkle Welt im Hier und Jetzt. Sie wusste, dass der einzige Weg aus dieser Welt der Tod war – und zwar ihr eigener. Sie hatte sich in den vergangenen fünf Jahren zu viele Feinde gemacht, in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt, als dass ihr Leben verschont bliebe. Sie war nicht wie der Rest ihrer Familie. Sie glaubte nicht an das Leben in anderen Welten, zumindest an keine, die sie jemals kennenlernen würde. Fremde Welten, wie ihr Vater sie in seinen Büchern beschrieb, oder das Wunder, neue Dinge zu erschaffen, wie ihre Mutter dies tat. Sie hatte nicht die rosarote Brille auf und verspürte nicht diese Liebe zum Leben, wie ihre kleine Schwester Tink dies tat. Wenn es überhaupt jemanden gab, der sie verstand, dann war es am ehesten Hannah. Hannah hatte unwissentlich die Weichen für Tansys Leben gestellt. Tansy war entschlossen, die Welt von denen zu befreien, die die Schwachen ausnutzten. Hannahs Entführung, als Tansy gerade mal vierzehn Jahre alt war, ließ Tansy begreifen, dass es in der Welt nur wenig Gutes gab. Sie erinnerte sich an den gequälten Blick ihrer älteren Schwester, der nach ihrer Entführung einfach nicht verschwinden wollte. Was auch immer Hannah widerfahren war: es hatte sie dazu gebracht, an den entlegensten Orten der Welt zu leben, um so den Kontakt zu anderen Menschen weitestgehend zu vermeiden. Die Männer, die verantwortlich für Hannahs Entführung waren, hatte Tansy als erstes verfolgt, als sie achtzehn Jahre alt war und von zu Hause auszog. Sie wusste, dass die an der eigentlichen Entführung beteiligten Männer umgebracht wurden, als das örtliche Militär einschritt. Tansy wusste tief in ihrem Inneren jedoch, dass diese Männer nur Marionetten gewesen waren, deren Fäden von einem mächtigeren Mann gezogen wurden. Es dauerte ein Jahr, um herauszufinden, wer dieser Mann war, ein Jahr, das ihr Leben für immer veränderte. Schnell begriff sie, dass es eine Seite des Lebens gab, die in der Tat noch dunkler war, als sie sich hätte vorstellen können. Sie lernte auch, dass sie selbst nicht unbedingt ein guter Mensch war. Sie hatte gelernt, was es hieß, zu töten oder getötet zu werden. Seither hatte Tansy viele Male getötet. Sie suchte sich den stärksten und tödlichsten Lehrer, den sie finden konnte, und lernte von ihm. Sie verliebte sich auch in ihn, verlor ihn jedoch an die tödliche Welt, gegen die sie kämpfte. Der Mann, den sie als erstes umbrachte, war der, der Branson getötet hatte. Der zweite Mann, den sie tötete, war für unzählige Tode von Männern, Frauen und Kindern verantwortlich. Er benutzte sie, um seine Drogen zu verkaufen, als Sklavenarbeiter für seine Minen, als Prostituierte für sich und seine Männer oder um noch mehr Reichtum zu erlangen. Die Kinder waren es schließlich, die Tansy am meisten veränderten. Ihre Hände zitterten, als sie sich daran erinnerte, wie sie das sterbende kleine Mädchen in ihren Armen hielt. Sonya, dachte Tansy, während die Wut in ihr aufstieg. Sie hatte ihr die Kraft gegeben, weiterzukämpfen. Sie schloss den Namen in ihr Herz ein, damit sie nie vergessen würde, warum sie tat, was sie tat. Sonya war erst elf gewesen, doch der Sadist Roberto San Juan benutzte ihren kleinen Körper zu seinem Vergnügen. Sie lag geschlagen und blutig in seinem Bett. Er war verantwortlich für alle Drogenkartelle in der Region, in der ihre Schwester entführt worden war. Sogar das Militär hatte Angst, gegen ihn aufzubegehren. Nach dem Überfall auf das Lager, in das Hannah verschleppt worden war, wurden viele am Überfall beteiligte Männer oder deren Familienmitglieder getötet. Sonya, so erfuhr Tansy später, war von einem russischen weißen Sklavenhändler gekauft worden. Roberto mochte junge, unschuldige Mädchen. Er benutzte sie und warf sie anschließend weg wie ein gebrauchtes Taschentuch. Es war ihm egal, wen er verletzte oder umbrachte. Tansy dachte kurz an ihre Zeit in Nicaragua zurück, daran, wie sie sich an dem Mann rächte, der ihre Schwester verletzt hatte. Sie hatte stets jünger ausgesehen, was ihr dabei geholfen hatte in Robertos Festung einzudringen. Mit ihren neunzehn Jahren konnte sie ohne weiteres für drei, vier Jahre jünger gehalten werden. Sie hatte das Gesicht eines hübschen jungen Mädchens und den Körper eines Pin-Up-Girls. Das war eine erregende Kombination für einen Mann wie Roberto. Tansy fragte sich oft, woher sie ihren Körperbau und ihre andere Hautfarbe hatte, bis sie ein Bild der Mutter ihres Vaters sah. Sie selbst war ein Abbild ihrer Großmutter Bell, und konnte dadurch Roberto nahekommen. Er sah sie in einem Cafe und wollte sie haben. Sie gab vor, mit einer kleinen Kirchengruppe auf Missionsreise zu sein und in der Nähe zu wohnen. Binnen weniger Stunden nach ihrer Ankunft wurde sie mit zwei seiner Wachen in sein Auto verfrachtet. Sie tat so, als sei sie ein verängstigtes, verwirrtes Kind. Sie musste zugeben, dass sie in der Tat ein wenig Angst hatte, doch sie war alles andere als verwirrt und ganz sicher kein Kind. Sie hatte genug Waffen bei sich, um die beiden Wachen ohne weiteres zu töten. Doch sie hob sich dieses Vergnügen für Roberto auf, als er zu ihr kam. Sie erlaubte ihm, mit ihrem Haar zu spielen und er sagte, wie bezaubernd er sie fand und er sehr gern alle ihre Geheimnisse entdecken würde. Sie ließ ihn reden und sein Ego pflegen und sah ihm zu, wie er sich ein Glas Gin einschenkte. Sie tat zunächst, was er von ihr verlangte. Sie zog ihr Kleid aus, bis sie nur noch ihr winziges rosa Höschen und den dazu passenden BH trug. Beide Kleidungsstücke waren eher altmodisch geschnitten, und hatten dennoch eine verführerische Unschuld. Sorgfältig hielt sie die beiden Haarnadeln mit dem Gift, das sie ihm verabreichen würde, in ihrer dichten roten Mähne versteckt. Sie war sich nicht sicher, wie lange es dauern würde, so wie er sie anstarrte. Sie wartete, bis er ihr ganz nahe war, bevor sie sich mit einem zaghaften Lächeln leicht drehte. „Was haben Sie mit mir vor?“, fragte Tansy mit zögerlicher Stimme. Roberto streckte die Hand aus und strich mit seinem Handrücken über ihre samtige Wange. „Ich werde dich vielleicht behalten“, sagte er mit einem nachdenklichen Blick. „Etwas an dir ist … anders.“ Tansy sah ihn an und lächelte schüchtern. Er war ein atemberaubend gutaussehender Mann, wenn man die Kälte in seinen Augen und den grausamen Zug um seine Lippen ignorierte. Sie wusste alles, was man über ihn in Erfahrung bringen konnte. Sie nutzte die Computerkenntnisse, die sie von ihrer Mutter gelernt hatte, um sich in seine privaten Konten zu hacken und verfolgte alles, was er tat. Heute um Punkt Mitternacht würde er völlig mittellos sein. Jeder Cent seiner unrechtmäßig erworbenen Gewinne würde an Wohltätigkeitsorganisationen weltweit und an die Familien seiner Opfer übertragen werden. Doch das würde er niemals erfahren, denn er würde bereits tot sein und Tansy ganz weit weg von hier. „Aber … was ist mit meiner Familie? Die Missionare werden nach mir suchen und den anderen sagen, dass ich nicht bei ihnen bin“, fragte Tansy mit leicht heiserer Stimme, während Roberto ihre Schulter küsste. Sie zitterte, als er einen Träger ihres BHs zur Seite schob. „Man wird deiner Familie mitteilen, dass du tot bist. Du gehörst jetzt zu mir. Ich mag deinen Geschmack, Julie. Du schmeckst wunderbar. Ich frage mich, wie sich diese schönen Lippen anfühlen werden, wenn sie sich um mich legen“, sagte Roberto und wollte ihre Brüste von hinten mit seiner großen Hand umfassen. Tansy lächelte leicht und drehte sich in seinen Armen, noch bevor er sie berühren konnte. Sie leckte sich über die Lippen und vergewisserte sich, dass er sich ganz auf sie konzentrierte. Langsam hob sie ihre Arme und zog die Nadeln aus ihrem Haar, sodass ihre dicke, schwere Mähne über ihren Rücken bis hinab zu ihrer Taille fallen konnte. Sie wusste, dass Robertos Aufmerksamkeit ganz ihr galt, als seine Augen vor Verlangen aufflackerten und sein Gesicht errötete. Tansy trat noch einen Schritt näher und ließ ihre Arme auf seine Schultern sinken. „Roberto“, hauchte Tansy an seinen Lippen. „Ja, meine bezaubernde Julie“, flüsterte Roberto leidenschaftlich. „Meine Lippen werden sich niemals um dich legen“, flüsterte Tansy, während sie das Ende einer Haarnadel schnell in Robertos Hals stach und das darin enthaltene Gift verteilte. „Und mein Name ist nicht Julie. Ich heiße Tansy und du wurdest soeben aus diesem Leben befördert.“ Roberto riss kurz die Augen auf, das Glas fiel ihm aus der Hand und er brach zusammen. Er versuchte zu schreien, doch Tansy hielt ihm mit einem schnalzenden Geräusch den Mund zu und schüttelte den Kopf. Sie half ihm, sich auf den Boden zu setzen, wo er sie mit einer Mischung aus Zorn und Angst ansah. „Das ist ein viel erträglicher Tod, als du verdienst. Das Gift wird es so aussehen lassen, als hättest du einen Herzinfarkt erlitten“, sagte Tansy, während sie sich von Roberto entfernte, der durch das Gift gelähmt am Boden lag. „Keiner kann dich retten. Du hast dein letztes Opfer gequält“, sagte Tansy, während sie sich die gleichen Kleider anzog, welche die Bediensteten trugen und die sie in der kleinen Tasche bei sich hatte. Sie zog eine schwarze Perücke mit grauen Strähnchen heraus, befestigte ihr Haar rasch und effektiv an der Kopfhaut und setzte sie auf. Mit der gleichen Geschwindigkeit trug sie Make-up auf, das ihrem Gesicht Falten verlieh, und zog sich dicke, schwere Sandalen an, die gern von älteren Frauen getragen wurden. Sie drehte das Innere ihrer Tasche nach außen, wodurch sie wie ein geflochtener Korb aussah. Schnell füllte sie etwas Obst aus einem Korb auf dem Tisch hinein. Als Nächstes ging sie schnell und konzentriert durchs Zimmer und wischte alles, was sie berührt hatte, mit einem speziellen Tuch ab, das dafür vorgesehen war, Fingerabdrücke zu entfernen. Mit einer Fusselbürste sorgte sie dafür, dass auch keine Haarfasern an ihrer Kleidung zurückblieben. Sie ging zu Roberto hinüber, der schwer atmete, kniete sich neben ihn und klopfte ihm mit einem leichten Lächeln auf die Wange. „Das ist für meine Schwester“, flüsterte Tansy und schaute hinab auf sein bleiches, schweißnasses Gesicht. „Du hättest dich niemals mit meiner Familie anlegen dürfen.“ Tansy beobachtete emotionslos, wie er versuchte, etwas zu sagen. Dann wurde sein Gesicht plötzlich schlaff und seine Augen starrten ausdruckslos zur Decke. Sie ging gerade aus dem Wohnzimmer in sein Schlafzimmer, als sie Sonya entdeckte. Sie wusste, dass er das Mädchen dort zurückgelassen hatte, damit sie ihr langsames Sterben sehen und es als Warnung verstehen konnte. Sie hatte gehört, dass er das schon einmal getan hatte. Trotzdem war es hart, so etwas im echten Leben zu sehen. Es gab nichts, was sie für das Mädchen tun konnte. Tansy hörte das Todesröcheln in ihrer Brust, da ihre Lungen mit Blut gefüllt waren. Sie konnte nichts weiter tun als bei ihr zu sitzen, sie zu festzuhalten und eines der Kinderlieder zu singen, die ihre Mutter ihnen immer vorgesungen hatte, wenn sie krank waren. Tansy wiegte Sonyas leblosen Körper fast zehn Minuten lang in den Armen, bevor sie sich dazu zwang, das Mädchen behutsam zurück auf die blutigen Laken zu legen und zuzudecken. Kälte schlich in ihr Herz. Das hier war noch viel schlimmer als nach Bransons Tod. In diesem Augenblick wusste Tansy, dass sie jung sterben würde, da sie die Sonyas dieser Welt nicht einfach allein und sich selbst überlassen würde. Sie würde bis zu ihrem letzten Atemzug für diese Mädchen kämpfen. Und so fand sie sich in ihrer jetzigen Position wieder. Sie war dem nur schwer zu fassenden russischen Milliardär Boris Avilov auf den Fersen, der viel auf dem Schwarzmarkt handelte. Dort war auch Sonya vor vier Jahren an Roberto verkauft worden, nachdem sie aus ihrem Haus verschleppt worden war. * * * Tansy kehrte abrupt in die Gegenwart zurück, als sie das leise Quietschen der Treppenstufen unter sich hörte. Schnell verschwand sie seitlich in den Schatten. Aufmerksam lauschte sie dem leisen Flüstern. Ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie lautlos die Treppe hinunter in den Kellerbereich ging. Es gab mehrere Türen, die aus dem Gebäude herausführten, sie interessierte sich allerdings vor allem für die Geheimtür, die sie unter die Straßen führen würde. Bevor sie bei einem Auftrag zuschlug, vergewisserte sie sich stets, dass sie die Gegend in- und auswendig kannte. Dieses kleine versteckte Juwel hatte sie in den Archiven des Bauamtes entdeckt. Branson hatte ihr stets beigebracht, ihre Beute genau zu kennen und viele unterschiedliche Fluchtwege zu haben. Sei ihnen stets voraus, Tansy. Nur so bleibst du am Leben. Sie hörte Bransons sanfte Stimme in ihrem Kopf. Ich weiß. Ich vermisse dich, Branson, dachte Tansy traurig. Das werde ich immer. Tansy hielt inne, als sie Schritte hörte. „Есть ли какой-нибудь признак ее?“ Eine raue Stimme fragte in stark akzentuiertem Russisch, ob es irgendwo ein Zeichen von ihr gäbe. „Нет, ничто“, Nein, nichts lautete die kurze Antwort. „Die Türen waren noch mit Brettern zugenagelt. Wir mussten sie aufbrechen, um hineinzugelangen. Auch an den Fenstern fehlten keine Bretter“, antwortete die Stimme weiterhin auf Russisch. „Schau trotzdem nach. Avilov will, dass sie gefunden und zu ihm gebracht wird, und zwar lebend. Er will sich das Vergnügen vorbehalten, sie persönlich umzubringen“, sagte der Mann. „Warum denn das?“, fragte der zweite Mann. „Gewöhnlich macht er sich nicht selbst die Hände schmutzig … vor allem nicht, wenn es um Frauen geht.“ Tansy hörte, wie der Mann, der die Frage gestellt hatte, eine körperliche Antwort erhielt. „Es steht dir nicht zu, diese Frage zu stellen! Du wirst tun, was man dir sagt“, antwortete der erste Mann kalt. Nur ein gedämpftes Grunzen war als Antwort zu hören. Offensichtlich gefiel ihm die erste Antwort nicht, und er würde kein zweites Mal fragen. Tansy ging in einen der seitlich gelegenen Räume, dort befand sich ein Loch im Boden, das in den ersten Stock hinunterführte. Vorsichtig griff sie nach dem langen Brett, das sie das Loch gesteckt hatte, und rutschte daran hinab. Ihr brach der Schweiß aus, als sie lautlos jedoch härter als erwartet auf dem Betonboden aufschlug. Ihre Beine gaben nach und sie landete unsanft auf den Knien. Sie rappelte sich mühsam auf und humpelte zur Tür. Die Männer gingen die Treppe hinauf. Sie wartete, bis sie ihre Schritte über sich hören konnte und bewegte sich dann durch die unteren Räume. Sie hielt sich weiterhin im Schatten, da sie nicht darauf vertraute, dass sich nicht doch noch weitere Männer zur Unterstützung der anderen irgendwo befanden. Auf leisen Sohlen schlich sie schnell den g**g entlang und erreichte eine weitere Treppe, die in den Keller führte. Sie ignorierte ihre Schmerzen und verschwand in der Dunkelheit.
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