Das Blatt vor mir

2265 Words
Mit einem lauten Rums fiel ich aus dem Bett, als ich verzweifelt versuchte den Wecker zum Schweigen zu bringen, der da unaufhörlich schrillte. Stöhnend richtete ich mich langsam wieder auf und befühlte meine schmerzende Hüfte. Aua! Müde rieb ich mir über die noch vom Schlaf verklebten Augen, die mir beinahe wieder zufielen und schaute mich suchend in meinem Zimmer um. Im ersten Moment wusste ich nicht einmal mehr, wo ich mich gerade überhaupt befand. Dann jedoch kamen die Bilder der letzten Stunden mit einem Schlag zurück und ich ließ mich kraftlos auf den Boden zurücksinken. Der Abend gestern war noch ziemlich lang und unterhaltsam geworden. Am Ende hatte mich Timo sogar noch zu meinem Zimmer begleitet, um auch ja sicher zu gehen, dass ich dort gut ankam. Wir hatten uns vor meiner Tür noch eine Weile unterhalten und festgestellt, dass wir beide für unser Leben gerne Bogenschießen machten. Daraufhin hatte er mich dazu überredet, dass wir das an unseren freien Tagen unbedingt einmal zusammen machen mussten. Timo war nämlich der festen Überzeugung, dass er darin viel besser sei, als ich und das konnte ich ganz gewiss nicht auf mir sitzen lassen. Wobei er am Ende doch noch eingeräumt hatte, dass ich im Bogenschießen bestimmt trotzdem super gut wäre, zumindest für ein Mädchen. Er war schon wirklich richtig süß, das musste man ihm lassen. Ein Traum.... Deshalb wunderte ich mich ja auch so sehr über mich selbst, dass ich ausgerechnet immer an diesen Idioten, mit den faszinierend silbergrauen Augen denken musste. Er machte sich doch nur einen Spaß daraus mich zu verspotten! Und trotzdem wollte er mir nicht mehr aus dem Sinn gehen. Kopfschüttelnd warf ich einen Blick aus dem Fenster, wo ein wunderschöner Sonnenaufgang die Welt in ein goldenes Licht tauchte. Herrlich! Als ich verwirrt an die Decke blickte, von wo der Lärm kam, verstand ich wenigstens auch, warum ich meinen Wecker nicht gefunden hatte. Es war die Glocke von gestern, die diesen furchtbaren Krach verursachte. Zeit also, zum Frühstück zu gehen. Widerstrebend stand ich auf, machte mich auf den Weg ins Bad und beeilte mich rechtzeitig fertig zu werden. Ich wollte nicht auch noch zu unserer ersten Unterrichtsstunde zu spät kommen. Das wäre dann nämlich die Krönung des gestrigen Tages gewesen. Das Haus, in dem sich die Mensa befand, unterschied sich von den anderen Häusern nur in einer einzigen Ausnahme. Es besaß ein gelbes Flachdach mit Geländer, von dem eine Rutsche nach unten führte. Verstört blickte ich auf dieses Meisterwerk der Baukunst, das mich eher an einen Spielplatz, als an ein Haus erinnerte. Was sollte das da bitte sein? Waren wir hier im Kindergarten gelandet? Wobei... wenn ich so darüber nachdachte, schienen manche schon noch in den Kindergarten zu gehören. Marie und ihre Bande hätten da wirklich gut reingepasst. Grinsend öffnete ich die Eingangstür und sofort wehte mir der verführerische Duft von Kaffee und warmen Brötchen entgegen. Ich zog diesen Geruch tief in meine Nase ein und bemerkte erst jetzt, was für einen riesengroßen Hunger ich überhaupt hatte. Das war mir davor gar nicht aufgefallen! Aber schließlich hatte ich schon gestern so gut wie nichts gegessen und die Hälfte meines Essens wieder ausgespuckt. Da durfte man schonmal hungrig sein. Schnellen Schrittes eilte ich auf die Tür zu, aus der geschäftiges Geschirrklappern und Stimmengewirr zu hören war. Als ich in den Essensraum trat, musste ich mich erst einmal orientieren. Mindestens zwanzig kleine Tische standen kreuz und quer im Raum verteilt, an denen sich Leute tummelten. Zum Glück entdeckte ich gleich Franziska, die sich gerade ein Brötchen mit Marmelade bestrich. Einige Augenpaare folgten mir neugierig, als ich mich durch die Tische zu ihr hinüber schlängelte. Super! Hatten sie immer noch Probleme wegen meinem Missgeschick gestern? Denen schien es ja wirklich prächtig langweilig zu sein. Franziska saß alleine an einem Tisch und war wohl in Gedanken versunken. Denn als ich sie mit einem kleinen: "Guten Morgen!" begrüßte, wäre sie vor Schreck beinahe vom Stuhl gefallen. Empört blickte sie mich an: "Mann Larissa, hast du mich erschreckt! Du kannst dich doch hier nicht einfach so anschleichen! Alter! Du bist ja gemeingefährlich! ... Guten Morgen auch." Verwirrt setzte ich mich zu ihr und wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Welche Laus war der denn über die Leber gelaufen?! "Alles in Ordnung bei dir?", brachte ich schließlich nach einer langen Pause hervor. Ich blickte in Franziskas wunderhübsches Gesicht und sah, dass ihre Augen vor Tränen glänzten. "Ach es ist nur... Es ist bloß, weil...", schniefte sie und ich merkte, dass sie gleich die Beherrschung verlieren würde. Schnell sprang ich auf und führte sie aus dem Speisesaal hinaus, wobei ihre Schultern bereits heftig zu beben begannen. "Komm, so schlimm wird es schon nicht sein. Alles wird gut, ... alles wird gut", murmelte ich etwas hilflos und strich ihr tröstend über den Rücken. Ich buchsierte sie an die Hinterseite des Hauses, wo eine kleine Bank stand, von der aus man einen guten Blick auf die Koppeln mit den Kühen und Pferden hatte. Es war ein so friedlicher Anblick, dass ich mich für ein paar Minuten darin verlor. In der Stadt gab es solche Bilder nicht. Das hier war wirklich eine wunderschöne, malerische Landschaft. Jetzt verstand ich auch ein kleines bisschen, was meine Eltern gemeint hatten, als sie mir vom Arsch der Welt vorgeschwärmt hatten. Aber trotzdem war ich immer noch total sauer, weil sie mich für sechs Wochen hierher in dieses Camp geschleppt hatten. Franziska hatte sich mittlerweile wieder etwas beruhigt und schaute mich mit vom Weinen geröteten Augen niedergeschlagen an: "Ach! Jungs! Es geht um... jaaaa... ähm... aaalllsssooo... Timo. Ich mag ihn schon seit er vor vier Jahren das erste mal hier im Camp aufgetaucht ist. Er ist einfach so mega süß und zuvorkommend! Doch er sieht in mir nicht mehr, als seine beste Freundin... wobei... jetzt bin ich mir da auch nicht mehr so sicher. Er mag dich echt richtig doll, Larissa. Das sieht ein Blinder mit Krückstock. Wie er dich gestern angesehen hat! Das ist so unfair!" Perplex öffnete ich den Mund, um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Franziska war in Timo verliebt? Und sie war eifersüchtig auf mich?! Das musste ich erst einmal verarbeiten. Von dem Gespräch gestern Abend durfte sie auf jeden Fall nichts erfahren. Ich wusste ja nicht einmal, was ich selbst für Timo empfand. Also flunkerte ich: "Oh! Ok... also ich kann dir sagen, dass ich nicht mehr von Timo will, als mit ihm befreundet zu sein. Er ist wirklich nett, aber überhaupt nicht mein Typ. Keine Sorge. Und vielleicht mag er dich ja auch ein bisschen mehr, als eine gute Freundin? Hast du ihn denn schon einmal gefragt?" Franziska schüttelte den Kopf und wischte sich schniefend über die Augen: "Du hast Recht. Er kann ja auch gar nicht wissen, dass ich etwas von ihm will. Vielleicht werde ich ihn ja mal darauf ansprechen... irgendwann. Danke Larissa, du bist die Beste!" Mit diesen Worten umarmte sie mich stürmisch und sprang auf. "Ich muss jetzt los! Der Unterricht beginnt in zwanzig Minuten und ich muss noch meine Sachen holen und mich wieder einigermaßen ansehnlich herrichten!" Wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung und weg war sie. Jetzt stand ich alleine da, auf einem Hof, auf dem ich keine Ahnung hatte, wo sich was befand und das mit einem schlechten Gewissen, weil ich gerade Franziska belogen hatte. Na super! Schnell eilte ich noch einmal in die Mensa zurück, um mir eine Kleinigkeit zu Essen zu holen. Dabei ließ ich unauffällig meinen Blick durch den Raum schweifen, um vielleicht einen kleinen Blick auf Laurin erhaschen zu können. Doch das Objekt meiner Begierde war zu meinem großen Bedauern leider weit und breit nicht zu sehen. Etwas enttäuscht machte ich mich über mein Schokomüsli her und schlang das Essen nur so in mich hinein. Ich verdrückte zwei Müslis und drei Brote, bevor ich endlich einigermaßen satt war. Das Mädchen am Nachbartisch, das glaube ich Jacky hieß und ich gestern auf der Party kennengelernt hatte, schaute mir dabei belustigt zu: "Wenn du weiterhin so viel isst, wird die Küche bald pleite gehen. Dass du dich nicht schämst!" Ich stimmte in ihr Lachen mit ein und gemeinsam machten wir uns auf den Weg in Richtung Schulhaus. Zu meinem großen Bedauern war ich nicht in demselben Kurs von Jacky, Franziska, Timo, Leonie, Martin oder Mona. Somit durfte ich alleine in dem stickigen Schiefen-Turm-von-Pisa-Haus das Zimmer suchen, in dem ich nun gleich Unterricht haben würde. Genial! Etwas genervt lief ich mit dem Plan in der Hand durch die Gänge, auf der Suche nach dem Raum mit der Nummer 77 und kam mir dabei wie ein Tourist in einer fremden Stadt vor. Als ich den Raum endlich gefunden hatte, ließ ich mich kurzerhand einfach auf den erstbesten freien Stuhl fallen. Mich ödete das alles hier jetzt schon ziemlich an, bevor der Unterricht selbst überhaupt begonnen hatte. Das Zimmer hatte zwei winzige Fenster, durch die schwach die ersten Strahlen der Sonne fielen. Es war in einem hässlichen beige gehalten, das mich an modrige Erde erinnerte. Eine Tafel war vorne an der Wand angebracht worden und ein Pult, das aussah, als würde es bei der leisesten Belastung zusammenbrechen, stand seltsamerweise mitten im Raum. Alle Tische und Stühle waren auf das Pult in einem Halbkreis ausgerichtet. Komische Sitzordnung! Stöhnend lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Ich war todmüde von der vergangenen Nacht. Es musste mindestens drei Uhr gewesen sein, als ich schließlich völlig entkräftet ins Bett gefallen war. Viel zu wenig Schlaf also. Und das in den Ferien! Drecks Laden hier! Plötzlich ließ sich jemand neben mich auf den noch freien Stuhl an meinen Tisch fallen. Ich hatte keine l**t die Augen zu öffnen, um zu sehen, wer das nun war. Wenn sich der Volltrottel nicht vorstellte und fragte, ob er sich setzen durfte, war er selbst schuld. Ich war heute Morgen nicht in der Laune einen Smalltalk zu beginnen. Auf einmal durchlief mich ein elektrisierendes Kribbeln, das meine Haare an Armen und Beinen zu Berge stehen ließ. Ohne meine Augen öffnen zu müssen, wusste ich plötzlich, wer sich da neben mir niedergelassen hatte. Ein warmer Schauer durchlief mich und ich musste unwillkürlich lächeln. Langsam öffnete ich ein Auge und schielte nach links. Und tatsächlich. Da saß er direkt neben mir, lässig in seinem Stuhl zurückgelehnt. Seine schwarzen, glänzenden Haare fielen ihm wie ein Vorhang vor die Augen und seine vollen Lippen zeigten seine schneeweißen Zähne. Er hatte seine Füße cool unter den Tisch gestreckt und unter seinem T-Shirt zeichneten sich deutlich seine Bauchmuskeln ab. "Hey Lissy! Nicht einschlafen, die Sonne geht schon am Horizont auf. So bezaubernd, wie du. Strahlend schön", drang Laurins unglaublich samtige Stimme nur langsam zu mir durch. Seltsamerweise machte es mir bei ihm nicht einmal etwas aus, dass er mich Lissy nannte. Im Gegenteil. Es gefiel mir sogar ziemlich gut und hörte sich bei ihm irgendwie richtig süß an. Ich bemerkte, dass ich rot wurde und öffnete hilflos den Mund, brachte aber nur ein gehauchtes: "Hey!" heraus. Wie sehr ich mich auch bemühte meinen Blick von ihm abzuwenden, ich schaffte es einfach nicht mich von seiner unbeschreiblichen Erscheinung loszureißen. "Die Schule ist echt langweilig hier, kann ich dir sagen. Vor allem bei der Betreuerin, bei der wir jetzt gleich Englisch haben. Die ist der Horror!", meinte Laurin gequält und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Nun senkte ich doch beschämt meinen Blick. Mittlerweile musste ich nämlich wie eine überreife Tomate aussehen. In diesem Moment kam auch schon die besagte Lehrerin ins Zimmer gestürmt und warf ihre Tasche auf das Pult. Sie stellte sich als Frau Betz vor, wobei sie sich durch ihre kurzen, roten Haare strich. Sie war eine spindeldürre Frau mit blauen Augen und einer Hornbrille. Und Laurin hatte nicht übertrieben. Frau Betz war unglaublich verplant und ihre Stimme wirkte besser, als eine Schlaftablette. Ich schaltete schon nach einer Minute ab und beobachtete Laurin neben mir, der begonnen hatte mit einer Feder und Tinte irgendetwas auf ein leeres Blatt Papier zu zeichnen. Wie hypnotisiert folgten meine Augen seinen Händen, die so geschickt und selbstsicher über das weiße Papier fuhren. Am liebsten hätte ich ihn berührt und seine Nähe gespürt. Doch davon konnte ich mich gerade noch abhalten. Das wäre sonst wirklich zu peinlich geworden. Auf einmal wandte er sich da mir zu und ich blickte schnell in die andere Richtung. Was war bloß mit mir los? Ich starrte Laurin die ganze Zeit an, als sei ich geisteskrank. Wie peinlich war denn allein das schon?! Da schob sich plötzlich ein zusammengefalteter Zettel in mein Sichtfeld. Verwirrt schaute ich wieder zu Laurin hinüber. Dieser deutete grinsend auf das Blatt vor mir, auf dem in verschnörkelten Buchstaben mein Name geschrieben stand. Ehrfürchtig strich ich darüber, sodass ich mir sogleich wieder vollkommen dumm vorkam. Mann! Ich war echt gestört! Langsam faltete ich das Papier vor mir auseinander und erkannte mein Gesicht darauf, das mir fröhlich entgegen lächelte. Mir stockte der Atem. Er hatte mich wirklich hervorragend getroffen. Meine Haare wehten in einer leichten Brise und mein Mund stand ein kleines bisschen offen, was mich leicht ungläubig und unschuldig wirken ließ. Ein Strahlen war in meinen Augen zu erkennen, daß von Entschlossenheit und Stärke zeugte. Staunend starrte ich auf den Text, der neben dem Bild stand: "Für Lissy, die Geiheimnisvolle, die heller strahlt, als die Sonne." Ich wollte mich gerade staunend bei Laurin bedanken, als dieser in einer fließenden Bewegung aufgesprang und aus der Tür verschwand. In der nächsten Sekunde erklang der scheppernde Gong der Schulglocke und die Stunde war vorbei. Dieser Typ verwirrte mich von Minute zu Minute mehr. Er war mir ein einziges, großes Rätsel. Was sollte das alles nur bedeuten?!
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