Mikkel winselte leicht, als er sich den Weg durch den Flur mit dem fluoreszierenden Licht seines Bürogebäudes bahnte. Er rückte seine Sonnenbrille zurecht und schob sie näher an sein Gesicht, in dem Versuch das grässliche Licht abzuwehren.
Ich war schon seit der Prohibition nicht mehr so besoffen gewesen, dachte er und lächelte über diese lustige Erinnerung. Die guten, alten Zeiten.
Dieses Lächeln stellte sich als Fehler heraus, weil Mikkel fast umkippte, als ihn eine Welle der Übelkeit packte. Während er sich an der Wand abstützte, versuchte er sich zu erinnern, was passiert war. Er konnte sich immer noch gut daran erinnern, wie die Nacht anfing, aber die Erinnerung schwand ab dem Zeitpunkt, an dem Lola ihnen die Schnapps-Auswahl empfohlen hatte. Er war ein unsterblicher Wikinger, verdammt noch mal, und Jo hatte genauso viel getrunken wie er. Auf gar keinen Fall würde sie heute mehr aufrecht gehen können. Gott, war sie überhaupt noch am Leben?
Seine Frage wurde beantwortet als er auf dem Weg zum Pausenraum um die Ecke bog. Da war Jo, strahlend wie immer, die sich mit Nick und ein paar anderen Arbeitskollegen bei einer dampfenden Tasse Kaffee unterhielt. Er überlegte seit wann „Joanna“ in seinen Gedanken zu „Jo“ geworden war, aber Jo fühlte sich besser an, es war irgendwie mehr sie. Sie lächelte ihn an, als er den Raum betrat. Plötzlich blitzte eine Erinnerung in ihm auf und traf ihn wie einen Schlag auf seinen Solarplexus.
Jo, die ihn mit demselben Lächeln ansah, wie im Hinterzimmer der Bar, während ihre Hände neckisch seine Schenkel auf- und abglitten. Diese Erinnerung war wie eine übersinnliche Erfahrung in Farbe und mit Stereo-Sound. Mikkel kam wieder zu sich und merkte, dass er für eine unangenehm lange Zeit wie angewurzelt und schweigend mit einer halben Erektion im Türrahmen stand. Er lächelte in den Raum hinein und ignorierte die hämmernden Schmerzen in seinem Kopf.
„Habt ihr schon mal einen Raum betreten und plötzlich vergessen, was ihr überhaupt dort wolltet?“ Ugh, ich höre mich an, wie ein schlechter Stand-up comedian. Er erntete ein paar obligatorische Lacher. Nur Nick schaute verwirrt erst ihn und dann Jo an.
Mikkel drehte sich schnell wieder um, schlich zu seinem Büro, machte das Licht aus und schloss die Tür. Heute können mich alle mal, dachte Mikkel und griff nach der Schachtel Aspirin aus seiner Schublade. Als er danach griff, erinnerte er sich, wie er seine Hände nach Jo ausstreckte, wie er sie an sich heranzog, wie er sie verschlang. Sie schmeckte nach Whiskey und l**t. Die Erinnerung war verschwommen und schien zu intensiv um wahr zu sein. Ist das überhaupt alles wirklich passiert oder war es nur ein Traum?
Er erinnerte sich, wie er ihren Duft in sich aufsog, wie er ihren Hals küsste und hineinbiss. Er erinnerte sich, wie sie seinen Namen stöhnte und an seinen Haaren zog, die Art, wie sie ganz langsam an seinem Körper hinunterglitt. Die Weise, wie sie ihn streichelte. Es fühlte sich an, als würde sie ihn für immer mit ihren Händen foltern, bevor der unerwartete Biss kam. Er erinnerte sich an das Stöhnen, als ihre Zähne sich in sein Fleisch bohrten und Schmerz und Leidenschaft miteinander verschmolzen, wie er es schon seit Jahrhunderten nicht mehr gespürt hatte.
Alles fiel ihm wieder ein. Wie sie ihren Körper bewegte, langsam und mit solcher Kraft. Mikkels Atmung raste, als er sich daran erinnerte, wie sie ihm die Innenseite seiner Oberschenkel entlang küsste, während sie ihn dabei mit ihren wilden Augen fixierte. Sein Schwanz wurde hart bei der Vorstellung, wie sie ihn in den Mund nahm, dieses warme und weiche Gefühl, als sie ihn mit ihrer Zunge neckte, ihre Wangen damit aushöhlte und ihn immer tiefer und tiefer in sich aufnahm.
Es klopfte an der Türe. Scheiße! Er schmiss fast den Stuhl um, als er aufsprang, den Reißverschluss seiner Hose wieder zumachte und in fünf Sprachen fluchte - eine davon schon ausgestorben.
„Mike!”, brüllte Nicks Stimme durch die Tür. „Ich brauche mal einen Erwachsenen!“
Mikkel schob seinen feuchten Tagtraum beiseite und schnappte sich eine Dose Ginger Ale aus dem kleinen Kühlschrank, der neben seinem Schreibtisch stand. Er hielt die kalte Dose lange genug an seine Hose, bis der gewünschte Effekt eintrat und fluchte, dass er heute überhaupt zur Arbeit erschienen war. Als er endlich wieder soweit war, in die Öffentlichkeit zu treten, öffnete er die Dose und kippte deren Inhalt herunter - in der Hoffnung, dass es seinem Kater ein wenig Abhilfe schaffte.
„Schon unterwegs, Nick!“, brüllte er zurück durch die Tür.
Mikkel versuchte, sich auf etwas anderes als den hämmernden Schmerz in seinem Kopf und den staubtrockenen Mund zu konzentrieren. Er ging mit Nick durchs Büro, während sie die Einzelheiten ihres nächsten Jobs besprachen, wobei er versuchte allem aus dem Weg zu gehen, was ihn reizen könnte. Es fühlte sich so an, wie einer dieser Tage. Mikkel hatte durch jahrelange Erfahrung mit dem Fluch gelernt, dass er am reizbarsten ist, wenn er verkatert oder wütend war. Allein schon die Erinnerung an die verkohlten Überreste eines Inquisitionsgerichthofs waren nach einem wochenlangen Besäufnis in Spanien schon genug gewesen, um ihn empfänglich für einen Wutausbruch zu machen. Er war auf dem Weg zurück zu seinem Büro, als er Jos Stimme im Flur hörte. Er war innerlich angespannt. Reiß dich zusammen.
„Hau verdammt noch mal ab, du Widerling! Ich werde dich fertig machen, wenn du weiterhin diese Scheiße bei mir abziehst!“, spie Jo.
Mikkel ging rüber zu Jo. Es war natürlich Dwayne, der sich wieder wie ein Matrose im Bordell benahm. „Verpiss dich, Dwayne!“, brüllte Mikkel und legte einen Arm um Jos Hüfte.
„Ahh… So ist das also“, sagte Dwayne. “Pass auf dich auf, Kleines. Mike hier ist ein echter Feinschmecker. Und du, meine Liebe, bist nur das Gericht der Woche.“ Mikkels Griff um Jos Hüfte verengte sich.
“Danke für die Klischees und das unangebrachte Anfassen, Jungs”, sagte Jo und löste sich aus Mikkels Griff. Er wollte ihr plötzliches Lösen aus seinem Griff nicht übermäßig analysieren. „Im Gegensatz zu euch Volldeppen habe ich etwas Wichtiges zu erledigen.“ Sie schob Dwayne aus dem Weg und rannte den Flur runter.
Mikkel schnappte sich Dwayne und schubste ihn gegen die Wand, wo er den Widerling festhielt. Er fühlte, wie sich die Wut aufstaute und immer schneller durch seine Adern schoss. Er wusste, dass er sich würde beruhigen müssen, bevor er sich nicht mehr stoppen konnte.
„Halt. Dich. Verdammt noch mal. Fern. Von ihr.” Er schaffte es, seine Nachricht in einem Stakkato zu überliefern und dem Drang zu widerstehen, Dwayne das Lachen aus dem Gesicht zu prügeln. Er hatte geradezu ein Gesicht zum Reinhauen. Er löste mit einem warnenden Blick den Griff von Dwaynes Kragen, bevor er Jo hinterherrannte. Selbst als er fast schon neben ihr war, drehte sie sich nicht zu ihm um.
„Hey, warte doch mal!“, sagte er.
Jo wirbelte herum und bohrte Mikkel den Zeigefinger in die Brust. „Denk bloß nicht“, ihre Augen flackerten wutentbrannt auf, „Denk bloß nicht, dass ich dir gehöre. Du bist nicht mein Freund, Beschützer oder Boss. Ich kann auf mich selbst aufpassen.“
Mikkel stellte sich vor sie, bevor sie abhauen konnte und engte sie in der Ecke des Flurs ein. Meine Güte, sie riecht unglaublich. Er wollte sie verschlingen, genauso wie sie es mit ihm getan hatte. Er wollte sein Gesicht in ihrem Schritt vergraben und sie lecken, bis sie seinen Namen schrie. Er widerstand dem Drang, ihre Wange zu berühren und schaute ihr direkt in die wütenden Augen.
„Geh mit mir heute Abend essen.“ Seine Stimme war dabei so sanft,, dass es selbst ihn überraschte.
Jo starrte zu ihm auf, zögerte einen Augenblick und schob sich dann an ihm vorbei und hastete den Flur runter.
„Im Traum“, spie sie.
Mikkel hatte den ganzen Tag versucht, sein Temperament im Zaum zu halten. Mit einem heftigen Kater zu arbeiten war das Eine, von einem kleinen Idioten angemacht zu werden das Andere, aber von der Frau abgewiesen zu werden, die er mehr als alle anderen seit Jahrhunderten wollte… war mehr als er handhaben konnte. Die Wut kochte in ihm auf. Ein vertrautes Brennen startete in seinem Rückgrat, staute sich wie ein Hurrikan in seinem Bauch auf und bewegte sich unaufhaltsam bis in die Spitze eines jeden Nervs vor. Er musste hier verdammt noch mal raus. Sofort.
Mikkel ignorierte die besorgten Rufe von Nick und seinen anderen Kollegen, als er hinaussprintete. Ihm war es egal, ob sie dachten, dass er sich unprofessionell verhielt, solange er nicht die Kontrolle verlor und sie alle umbrachte. Er suchte in seiner Tasche nach seinen Schlüsseln. Scheiße, die sind in meinem Büro. Es war zu weit weg. Er würde es nicht bis ins Büro, die Garage und dann in sichere Entfernung schaffen. Scheiß drauf.
Er platzte durch die Tür zur Garage, sprang in den ersten Wagen, den er sah: Dwaynes rotes Cabriolet. Mikkel schlug die Konsole unter dem Lenkrad ein und fand die Kabel, um den Wagen kurzzuschließen. Nächstes Mal, sei einfach nicht so ein Arschloch, Dwayne. Dann kriegst du vielleicht auch mal eine ab. Das Cabrio erwachte zum Leben und er trat aufs Gaspedal. Er dachte nicht nach. Konnte nicht klar denken. Er fuhr nach seinem Instinkt, jede Richtung, die er einschlug, war nur das Folgen eines uralten Instinktes.
Das Lenkrad des Wagens quietschte protestierend als er über rot fuhr und eine scharfe Kurve nahm, wobei er so gerade noch verhindern konnte, eine Massenkarambolage zu verursachen. Er erinnerte sich daran, dass selbst so ein Unfall nichts im Gegensatz zu dem war, wenn er es nicht rechtzeitig weg von all den Leuten schaffte. In der heutigen Welt gab es einfach zu viel Brennbares.
Er schlug in eine leere Parkbucht ein, komplett verlassen, bis auf den rostigen Einkaufswagen, der neben ihm stand. Er haute den Parkgang rein und sprang aus dem Wagen, rannte so schnell er konnte in eine verlassene Ecke des Parkplatzes. Die Intensität der aufgestauten Wut war wie schwere, heiße Lava, die aus seinem Inneren herausplatzen wollte. Es war zu viel. Er fiel auf die Knie, heulte in Qualen auf, als seine Haut zu Feuer wurde. Jeder Zentimeter seiner Haut brach in ein Feuer aus, er brannte lichterloh und sein Feuerball löschte alles in einem Radius von 30 Metern aus.
Alles, was Mikkel noch wahrnahm, waren seine Schreie. All seine Nervenenden schrien vor Qualen auf, jeder Zentimeter seiner Haut schmolz und verursachte einen brennenden Albtraum. Er öffnete seinen Mund, um zu schreien, aber stattdessen schossen Flammen aus seinem Mund. Der Asphalt unter seinen Füßen kochte und schmolz, bedeckte seine Haut mit dem schwarzen, kochend heißen Teer. Niemand konnte ihm helfen. Nicht mal er selbst konnte sich helfen.
Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis die Flammen weniger wurden und Mikkel sich aus dem geschmolzenen Asphalt ziehen konnte. Sein Körper sah wieder aus wie vorher, aber er konnte immer noch den brennenden Schmerz auf seiner Haut spüren. Seine Klamotten waren zu Asche verbrannt, er war nackt und mit Ruß bedeckt auf einem verlassenen Parkplatz mit einem geklauten Auto.
„Sowas habe ich auch noch nicht gesehen. Das muss ich dir lassen!“, rief eine Stimme aus der anderen Ecke des Parkplatzes. „Du hast fast die Bar gegrillt. Aber das ist ja schon fast normal für einen Wochentag.“
Mikkel sah ungläubig in die Richtung, aus der Lola kam. Sie schien völlig unbeeindruckt von dem, was sie soeben gesehen hatte. Ihre Zöpfe waren wie riesige Dutts hochgesteckt und wirkten wie Katzenohren über ihrem Kopf. Auf ihrem T-Shirt stand „I eat zombie brains“. Sie begutachtete Mikkels dreckigen, nackten Körper von oben bis unten und neigte ihren Kopf frech zu Seite, weil ihr das Spektakel offensichtlich zu gefallen schien.
Lola blies ihr pinkes Kaugummi zu einer großen Blase auf und reichte ihm einen Beutel auf dem vorne stand: „Laufen ist für Verlierer—Heile Krebs Trink-a-thon 2013“