Kapitel 1
Caitlin
Mit den Fäusten auf Brusthöhe und den Ellbogen zur Seite raus animiere ich meine Tanzworkout-Schüler zu einer Runde Arschgewackel zum Song Sweet but Psycho.
Ja, das Lied ist so ziemlich meine Hymne.
„Step-and-Touch, Hände vor und runter“, singe ich ins Headset und bewege mich besonders anschaulich, damit es mein Kurs besser mitbekommt.
Tanzworkouts sind total mein Ding. Ich unterrichte sie viermal die Woche im Freizeitzentrum auf dem Campus und an den freien Abenden nehme ich an anderen Sportkursen teil. Ich liebe alles, was mich in Bewegung hält – was für einen Informatik-Geek eher ungewöhnlich ist.
Mein Bewegungsdrang grenzt zwar längst an eine Obsession, hat aber nichts damit zu tun, dass ich meinen Körper hasse oder so. Ich mache keinen Sport, um irgendein Körperideal zu erreichen.
Ich brauche einfach die Bewegung. Sonst fällt es mir schwer, in meinem Körper präsent zu bleiben.
Dissoziative Persönlichkeitsstörung lautet die offizielle Diagnose. Wenn es mir zu viel wird, dann checke ich aus. Bewegung hilft. Schmerz und s*x helfen sogar noch besser.
Ich bin also offiziell kaputt.
Aber das ist ziemlich egal, denn meine Zeit ist bald abgelaufen.
Mein kleiner Dreh am Casinogeschäft der Tacones – jener Trick, mit dem ich bei jeder Transaktion einen Fünftel Cent abgeschöpft habe – ist vor zwei Wochen stillgelegt worden.
Und obwohl ich die Gelder auf einem Offshore-Konto geparkt habe, ehe ich die Collegegebühren für mich und meinen Bruder damit bezahlt habe, besteht eine nicht unerhebliche Chance, dass ich mich bald mit Betonschuhen auf dem Grunde irgendeines Sees wiederfinde.
Aber das war mir bereits klar, als ich mich auf meinen kleinen Racheplan eingelassen hatte.
„Zweite Position, Beine auseinander, tief einatmen.“ Ich beginne das Cool-down. Die Stunde ist immer viel zu schnell vorbei. Ich führe die Gruppe durch die abschließenden Dehnungen und bedanke mich, dass sie gekommen sind.
„Danke, Caitlin.“ Meine Schüler winken mir zu, um sich zu verabschieden. Hier beim Sport bin ich fast normal. Ich könnte eine von ihnen sein. Eine hübsche, lächelnde Studentin, die ihr wöchentliches Workout absolviert.
Erst wenn die Leute mich ein bisschen besser kennenlernen, merken sie, dass bei mir was nicht stimmt. Und entscheiden, dass ich das Mädchen bin, um das sie besser einen großen Bogen machen. Was für mich völlig in Ordnung ist.
Ich schnappe mir mein Handtuch und schaue auf mein Telefon. Ich prüfe es auf Nachrichten, während ich zu den Duschen rübergehe. Nicht, dass ich je welche bekomme. Es ist einfach nur eine neurotische Angewohnheit aus der Zeit, als mein Bruder Trevor noch bei seinen Pflegeeltern lebte und ich die Krise kriegte, wenn er mir nicht jeden Tag ein Lebenszeichen von sich zukommen ließ.
Aber das ist okay. Er musste nicht denselben Albtraum durchmachen wie ich.
Das ist eine der vielen Macken, die ich den Tacones zu verdanken habe. Sozusagen der Nebeneffekt, wenn dein Vater von der Mafia ermordet wurde.
Das Problem ist nur, dass ich für meine Rache wohl besser doch nicht ins Wespennest gestochen hätte. Wahrscheinlich haben sie es jetzt auf mich abgesehen.
Lebendig bin ich Trevor nämlich nützlicher als tot. Obwohl ich genug Geld aufgetrieben habe, um uns beiden das College zu finanzieren.
Ich sollte ihn warnen, also wähle ich seine Nummer und er geht direkt ran.
„Hi Caitie.“ Er ist der einzige Mensch, der mich Caitie nennen darf.
„Hi, Trevor. Alles in Ordnung bei dir?“
„Ja. Warum sollte es nicht so sein?“ Manchmal kommt es mir echt seltsam vor, wie normal er sich entwickelt hat – also verglichen zu mir. Aber er hatte auch eine anständige Pflegefamilie. Und er hatte mich.
Ich konnte mich damals nur auf Boshaftigkeit und auf mich selbst verlassen.
„Hey, also ich muss dir was sagen“, sage ich eilig, um es irgendwie rauszubekommen. Seit die Zahlungen eingestellt wurden, wollte ich es ihm bereits viermal erzählen, hatte aber jedes Mal gekniffen.
„Worum gehts?“
„Ähm, kann sein, dass ich eine Firma gehackt habe, mit der ich mich besser nicht angelegt hätte.“
„Au Scheiße. Was ist passiert? Sitzt du im Gefängnis?“
„Nein, nicht im Gefängnis. So wird es wohl auch nicht laufen. Weißt du noch, wer Dad damals ermordet hatte?“
Trevor wird totenstill. Als er antwortet, klingt er verängstigt. „Sag mir, dass du das nicht getan hast.“
„Doch, das hab ich. Sie werden es wahrscheinlich sowieso nicht herausfinden, aber falls doch, erinnerst du dich noch an den Ort, an dem wir uns treffen würden, falls etwas mit der Pflegefamilie schiefgehen sollte?“
Keine Ahnung, warum ich in Rätseln spreche. Ist schließlich nicht so, als ob die Mafia gerade in der Umkleide lauert. Oder mein Telefon abhört.
„Ich erinnere mich.“
„Falls ich fliehen muss, dann werde ich dorthin gehen. Okay?“
„Scheiße, Caitie. Das klingt übel. Bist du übergeschnappt?“
„Das sagen sie jedenfalls“, trällere ich. „Wie auch immer, es wird schon nichts passieren. Ich dachte nur, ich sollte dir besser Bescheid sagen. Für den Fall.“
„Vielleicht solltest du besser sofort untertauchen.“
„Nein, ich bin nicht mal sicher, ob sie es zu mir zurückverfolgen können. Aber wenn ja, dann finde ich schon eine Lösung. Mach dir keine Sorgen.“
„Doch, ich mache mir definitiv Sorgen.“
Mein Herz erwärmt sich. Trevor ist der einzige Lichtblick in meinem Leben.
„Das brauchst du nicht. Du kennst mich – ich kann gut auf mich alleine aufpassen. Ich finde schon eine Lösung. Sei einfach nur vorsichtig, falls du irgendwelche Nachrichten von mir bekommst, und sag niemandem, wo ich bin.“
„Geht klar. Verdammt, Caitlin.“
„Ist schon in Ordnung. Versprochen. Ich schreibe dir morgen.“
„Na schön. Pass auf dich auf.“
„Das werde ich.“ Ich lege auf und verstaue mein Telefon, dann ziehe ich meine durchgeschwitzten Klamotten aus und gehe unter die Dusche.
Wenn ich mir dabei nur so sicher wäre.
Ich dusche und in Gedanken trällere ich die Melodie von Sweet but Psycho vor mich hin.