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MAISEY
Ich wischte über den beschlagenen Spiegel in meinem winzigen Badezimmer. Nachdem ich nach meiner Brille gegriffen hatte, die ich zum Duschen auf dem Waschbecken deponiert hatte, starrte ich mich an und fragte mich, was der Kerl an mir sah. Ich betrachtete meine feuchten Haare, die an meinem Hals und Rücken klebten. Meine reizlosen Augen. Reizloses Gesicht. Alles an mir war reizlos. Langweilig. Durchschnittlich.
Dennoch hatte er mich wunderschön genannt.
Ich konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Er hatte mir eine Heidenangst eingejagt und dann meine Welt erschüttert. Und wir hatten bloß miteinander geredet. Ich hatte ihm mein Handy gegeben, als hätte ich unter einem Zauber gestanden. Vielleicht hatte ich das auch. Tat es noch immer, Stunden später.
Ich dachte an seine breiten Schultern und wie sich sein schmutziges T-Shirt an diese geschmiegt hatte. Die abgetragene Jeans, die… alles einfach richtig umfangen hatte. Doch es waren seine Augen gewesen, die mich angezogen hatten. Das dunkle Blau. Ich war nicht daran gewöhnt, der Fokus solch intensiver Blicke zu sein, da ich normalerweise ignoriert wurde. Er hatte mich angesehen, als ob ich… alles sei. Als hätte er auf mich gewartet.
Es fühlte sich an, als hätte ich auf ihn gewartet. Die Männer, die ich in der Vergangenheit gedatet hatte, waren im Vergleich zu ihm Jungen gewesen. Tatsächlich waren sie wirklich Jungen gewesen. Bloß Typen aus der Highschool. Nachdem die Ich-will-was-du-hast-Einstellung meiner Schwester mir in der Highschool jede Chance auf einen festen Freund verdorben hatte, hatte ich irgendwann aufgegeben, weil sie mir jeden Einzelnen ausgespannt hatte. Wenn ich an irgendetwas oder jemandem nur das kleinste bisschen Interesse zeigte, nahm sie es mir weg. Vor allem nach Tommy hatte ich die Nase voll gehabt. Er war der einzige Kerl, mit dem ich je geschlafen hatte. Einmal. Dann hatte sie ihre Krallen in ihn geschlagen und sie hatten gemeinsam Dinge getan, die ich selbst jetzt noch nicht ausprobiert hatte. Kerle hatten sie mir schon immer vorgezogen, obwohl wir identisch waren.
Sie war die Spaßige. Die Wilde. Sie hatte die gleichen reizlosen Haare und Augen und dennoch war sie nicht reizlos.
Ich hatte nie eine Chance gehabt, vor allem nicht, weil sie s*x als Teil der Eroberung sah. Ich wusste noch immer nicht, ob sie es tat, um zu beweisen, dass sie besser war als ich, oder nur weil sie neue und glänzende Dinge mochte. Vielleicht beides. Sie war durch und durch eine Narzisstin. Sie war nicht zufrieden, bis sie hatte, was sie wollte und was mir gehörte. Im Anschluss drehte sie es so herum, dass es meine Schuld war, dass sie es mir weggenommen hatte. Ein Date zum Abschlussball. Ein Gehaltsscheck. Mein ganzes Bankkonto.
Doch Paisley war nicht hier. Nach dem, was sie getan hatte – dieses Mal – hatte ich mich mitten in der Nacht davongestohlen. Ich hatte mitgenommen, was in mein Auto gepasst hatte, und war gegangen. Mein Handy hatte ich gegen ein billiges Model eingetauscht, das ich bar bezahlt hatte. Ich hatte sogar meine einzige Kreditkarte zerschnitten – obwohl ich den Kredit, den sie darauf angesammelt hatte, jahrelang abbezahlen würde. Ich bezahlte meine Studentendarlehn mit der geringsten Rate ab und lebte von der Hand in den Mund.
Hätte ich Geld übriggehabt, hätte ich es für die Mammographie benutzt, die mir angeraten worden war. Ich legte die Finger auf meinen linken Busen und drückte auf die Stelle, wo ich den kleinen Knoten gefunden hatte. Ich war zu einer kostenlosen Sprechstunde gegangen, wo ihn die Krankenschwester ebenfalls ertastet und mir empfohlen hatte, nach Billings oder Bozeman zu gehen, um weitere Untersuchungen durchführen zu lassen. Sie hatte gesagt, dass ich jung und das Ganze vermutlich nichts Schlimmes sei. Eine Zyste, die mit Flüssigkeit gefüllt war.
Dennoch waren das Untersuchungen, die ich mir dank Paisley nicht leisten konnte, weil ich keine Versicherung hatte.
Die letzten zwei Monate hatte sie nicht gewusst, wo ich war. In der Zwischenzeit würde ich genug zusammenkratzen, um für die Untersuchungen bezahlen zu können, und mich bemühen, nicht in Panik zu geraten. Mir fielen da bessere Dinge ein. Wie beispielsweise der Typ auf der Ranch. Zu wissen, dass Paisley nicht in der Nähe war, hatte mir etwas Selbstvertrauen gegeben, als ich mit ihm gesprochen hatte.
Niemand in der Stadt wusste, dass ich eine eineiige Zwillingsschwester hatte. Als mich also Heißer Cowboy – ich wusste nicht einmal seinen Namen! – angeschaut hatte, als wollte er mich wie schmelzendes Eis lecken, hatte er mich nicht mit Paisley verwechselt.
Das ergab keinen Sinn. Warum ich? Ich war eine vom Glück verlassene Reinigungskraft. Dank Paisley war ich eine Studienabbrecherin und pleite. Ich hatte keine Ahnung, wie man jemanden datete. Wie man etwas anderes war als… ich. Durchschnittlich. Langweilig. Ich hatte gelernt, dass ich Männer nicht halten konnte.
Ich schloss die Augen und seufzte, dann spürte ich wieder das Flattern in meinem Bauch. Er wollte, dass ich ihn anrief. Es wurde spät. Während ich den Kühlschrank geschrubbt und den Rest der To-Do-Liste im Wainright-Haus abgearbeitet hatte, hatte ich darüber nachgedacht, was ich sagen würde, sollte er das Gespräch überhaupt annehmen.
Der Kerl wollte mit mir ausgehen und ich wusste nicht einmal, wer er war. Wenn er von den Wainrights angestellt worden war, musste er ein vernünftiger Typ sein. Und er hatte eine Anstellung. Das war ein Plus, auch wenn sein Job ein schmutziger war. Wie gut, dass ich Putzfrau war.
Wah!
Sie war verrückt, diese Anziehungskraft. Die Gefühle, die er in mir hervorrief. Es war sofort passiert, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Es hatte eine Verbindung gegeben, etwas, was ich nicht erklären konnte, und noch dazu mit einem Mann, der vermutlich ein Jahrzehnt älter war als ich. Es war nicht so, als hätte ich abgeschieden in einem Kloster gelebt. Ich sah die ganze Zeit Männer. Heiße Männer. Heiße Cowboys, aber ich hatte mich noch nie so gefühlt. Es kam mir vor, als wäre ein Teil von mir mit ihm gegangen, als er verschwunden war.
Ich schnappte mir die Tube Feuchtigkeitscreme und schmierte mir ein wenig davon ins Gesicht.
Ich wollte noch einmal spüren, wie seine Finger meine Wange streichelten. Und andere Stellen. Der Typ hatte all die richtigen Dinge gesagt. Hatte mir das Gefühl gegeben, besonders zu sein. Sogar hübsch und ich hatte bis zu den Armen in Spülwasser gesteckt.
Wer war er? Warum war er ins Haus gekommen? Was war sein Job auf der Ranch? Irgendetwas, bei dem er hart für diese Muskeln schuften musste. Etwas Schmutziges. Mir waren die Schrammen und Kratzer auf seinen Händen nicht entgangen. Er trug keine schicken Anzüge oder ließ sich die Hände maniküren.
Paisley mochte Sugar-Daddys, eine Eigenschaft, die sie sich von unserer Mutter abgeschaut hatte. Das Leben im Luxus, ohne tatsächlich dafür zu arbeiten. In einem ramponierten Wohnwagen mit Mann Nummer… zwanzig zu leben, war allerdings kein Luxus.
Das wollte ich nicht. Ich wollte einen starken Mann, der für mich da war. Mit dem ich ein Leben auf der Grundlage von harter Arbeit und Liebe bauen konnte. Mit gegenseitigem Respekt und Leidenschaft. Geld war wichtig, aber es war nicht alles.
Ich hatte es so satt, mich um andere zu kümmern.
Ich war stets die Verlässliche, die Vernünftige gewesen. Mein Vater hatte uns verlassen, als wir zwei Jahre alt gewesen waren. Meine Mutter hatte nie lange einen Job behalten können. Nichts Beständiges und nichts, was mehr als den Mindestlohn bezahlt hätte. Sie hatte oft ihren aktuellen Job gekündigt wegen irgendeiner sicheren Sache, die ihr das schnelle Geld bringen würde. Es hatte eine ganze Liste sicherer Sachen gegeben, als ich noch klein gewesen war, doch keine hatte jemals das kaputte Teil der Wohnwagenheizung repariert oder die Stromrechnung bezahlt. Ich hatte dafür sorgen müssen, dass uns ein Brotlaib und Erdnussbutter gereicht hatten, indem ich mir mit vierzehn Jahren einen Job besorgt hatte.
Sechs Jahre später hatte sich nicht viel geändert. Mom lebte in dem Wohnwagen, allerdings mit ihrem neuesten Freund, der ihr alle möglichen glänzenden Dinge geben sollte, doch stattdessen eingezogen war und nun von ihr schmarotzte. Paisley hatte mich bestohlen, nicht nur mein Geld, sondern auch meine Chance auf einen Studienabschluss. Sie hatte Geld gebraucht und war daher zu meiner Bank gegangen, wo sie mein College-Geld abgehoben hatte. Sie hatte es für eine Reise nach Mexiko mit dem Kerl der Woche ausgegeben.
Mexiko! Ich hatte Montana noch nie verlassen.
Es machte mich noch immer fuchsteufelswild, wenn ich daran dachte, wie hart ich gearbeitet hatte – während ich Vollzeit studiert hatte – um Geld zu sparen, und sie hatte es einfach am Strand verprasst. Das hatte das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht, als ich auf dem Studierendensekretariat erfahren hatte, dass ich meine Gebühren nicht bezahlt hatte. Dass sie meinen Platz deswegen gekündigt hatten. Das war der Moment, in dem ich Paisely angerufen und sie es mir gestanden hatte, indem sie mir ein Foto von ihren Bräunungsstreifen geschickt hatte.
Vor ihrer Rückkehr war ich gegangen. Ich hatte alles gepackt, bevor Mom Fragen hatte stellen können, nicht dass sie mir viel Aufmerksamkeit schenkte, abgesehen davon, dass ich die Stromrechnung bezahlte. Ich war in eine winzige Stadt drei Stunden entfernt gezogen in der Hoffnung, dass ich einen Neuanfang wagen könnte. In der Hoffnung, dass Mom ihre eigenen Nebenrechnungskosten bezahlen konnte und dass Paisley verstand, dass ich nicht mehr ihr Goldesel war.
Es spielte ohnehin keine Rolle. Ich hatte nichts mehr. Mom ergriff immer Paisleys Seite und Paisley nahm alles. Ich hatte buchstäblich keiner von ihnen mehr etwas zu geben. Ich hatte meine Kleider, einige Kinkerlitzchen und Andenken. Mein klappriges Auto, das praktisch nur noch von Rost zusammengehalten wurde. Ich arbeitete. Ich las. Ich schlief. Ich war eine Einzelgängerin.
Daher erregte mich die Vorstellung eines Mannes wie dem Heißen Cowboy, der ganz dominant und herrisch auftrat und mich mit gekrümmtem Finger zu sich winkte. Ich hatte, ohne nachzudenken, die Wainright-Küche zu ihm durchquert. Ich hatte einfach nur… gehorcht.
Meine Nippel wurden unter meinem Handtuch hart. Ich hatte nur ein paar Minuten mit dem Kerl verbracht und dennoch hatte er mich angetörnt.
Ich ging zur Kommode, zog ein T-Shirt sowie Leggings heraus und setzte mich auf mein Bett. Das Haus war winzig. Es war eine alte Bergarbeiterhütte oder so etwas, die nur ein Zimmer mit einem Badezimmer hatte. Sie wurde möbliert vermietet, war sauber, billig und sicherer als der Wohnwagen, in dem ich aufgewachsen war.
Sollte ich ihn anrufen? Konnte ich? Ich griff nach dem Handy, das ich auf dem Bett liegen gelassen hatte, und starrte auf meinen Nachrichtenverlauf. Biss auf meine Lippe.
Heißer Cowboy stand oben. Er hatte sich selbst ein Wort geschickt: Hübsche.
Ich war mir nicht sicher, ob das süß oder sexy oder zu gut, um wahr zu sein, war.
Ich musste bloß mein Display berühren. Ich holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Versuchte, meine Nerven zu beruhigen. Das brachte auch nichts. Seit ich ihn zum ersten Mal erblickt hatte, war ich vollkommen verkrampft und angespannt wegen ihm.
Nein. Ich konnte das nicht tun. Ich konnte ihn nicht anrufen. Was, wenn er seine Meinung geändert hatte? Was, wenn er mich nur verarscht hatte? Was, wenn…
Er wirklich zu gut war, um wahr zu sein. Wir hatten uns fünf Minuten unterhalten. Vielleicht weniger. Deswegen hatte er mich um ein Date gebeten. Er hatte nicht genug Zeit gehabt, mein wahres Ich kennenzulernen. Er hatte sich nicht des ganzen Ballasts bewusst werden können, den ich mit mir herumschleppte. Er wusste nicht, dass ich sexuell nicht so erfahren war wie Paisley. Er hatte zweifellos Bedürfnisse und Sehnsüchte, die so dunkel und schmutzig waren wie er. Das konnte ich ihm nicht geben. Ich hatte keine Ahnung, wie das ging.
Außerdem, auf einen Kerl zu stehen, nachdem man ihn gerade mal fünf Minuten kannte, war etwas, was meine Mutter tun würde. Sie würde sich verlieben, dann abhängig werden und das ohne ein echtes Fundament. Ich kannte nicht einmal seinen Namen. Ich hatte versucht, das komplette Gegenteil von meiner Mutter zu werden, und nur durch ein verschmitztes Lächeln hatte ich herausgefunden, wie schwach ich war. Er hatte bloß den Finger krümmen müssen und ich war zu ihm gelaufen, als hätte ich unter einem Bann gestanden.
Nachdem ich das Handy an das Ladekabel gesteckt hatte, legte ich es auf den Boden. Im Anschluss kletterte ich ins Bett und schaltete das Licht aus.
Ich rief ihn nicht an. Denn wenn ich es tat und er seine Meinung darüber geändert hatte, wie hübsch ich war und dass er mit mir ausgehen wollte, würde das wehtun. Mehr als es das momentan tat. Genau wie all die Male, wenn meine Mutter abserviert worden war.
Dieser Tage hatte ich Hoffnung. Hoffnung, dass ich nie wie sie sein würde. Dass mich meine Schwester nie finden und wieder verarschen würde. Hoffnung, dass ich etwas aus mir machen konnte, wenn ich nicht ständig nach unten gezogen wurde. Das war alles, woran ich mich klammerte, weil es das Einzige war, das ich hatte. Hoffnung war das Einzige, das mir meine Schwester nicht nehmen konnte.
Dennoch schlief ich mit dem Gedanken an blaue Augen und tödliche Lächeln ein.