Erstes Kapitel-1

1746 Words
Erstes Kapitel Sasha Die Männer meines Vaters sagen, dass er nur noch wenige Tage zu leben hat. Vielleicht sogar nur Stunden. Wir befinden uns in seinem Haus in Moskau – einer Residenz, die zu betreten mir nie zuvor gestattet worden war. Ein Ort, den ich gehasst habe, seit ich ein kleines Mädchen war. Jetzt bedeutet er mir wenig. Ebenso wie sein bevorstehender Tod. Ich kann nicht behaupten, den Mann zu lieben. Er war ein furchtbarer Vater und ein noch schlimmerer Partner für meine Mutter. Partner, nicht Ehemann – nein, er hätte sie nicht heiraten können. Das ist gegen den Bratwa-Kodex. Sie war dreißig Jahre lang seine Geliebte, bis er sie letzte Woche darüber informiert hat, dass sie nun die Geliebte von Vladimir wäre, seiner rechten Hand. Genau – er hat seine Geliebte wortwörtlich einem anderen Mann überschrieben. Als ob sie eine Hure wäre, die sein Eigentum ist. Nein, schlimmer noch als eine Hure – als ob sie seine Sklavin wäre. Sie hatte in der Sache keine Wahl. Wie schon gesagt, er ist kein guter Mann, mein Vater. „Komm, Sasha, dein Vater will dich sehen“, sagt meine Mutter gedämpft. Meine ehemals wunderschöne Mutter sieht plötzlich alt aus. Sie ist blass, ihr Gesicht eingefallen und angespannt vor Trauer. Trotz allem liebt sie meinen Vater noch immer zutiefst. Ich folge ihr in sein Zimmer. Er wollte nicht in einem Krankenhaus sterben, also wurde sein großes Schlafzimmer in ein Krankenzimmer umgewandelt. Um sein Bett herum stehen medizinische Geräte und er wird rund um die Uhr von Krankenschwestern betreute. Die Vorhänge sind aufgezogen und die Sommersonne scheint durch die großen Fenster. „Aleksandra.“ Er spricht mich mit meinem vollen Namen an. Ich zucke zusammen. Er ist so respekteinflößend wie eh und je, obwohl er abgemagert und zerbrechlich in seinem purpurroten Morgenrock aussieht. Sein Gesicht hat eine graue, todkranke Farbe. „Komm.“ Er ruft mich an seine Seite. Ich leiste seinem Befehl widerwillig Folge. Ich mag dreiundzwanzig sein, aber etwas an diesem Mann vermittelt mir noch immer das Gefühl, ein verirrtes Kind zu sein. Er nimmt meine Hand und ich muss mich bemühen, bei der Berührung seiner trockenen, knochigen Finger nicht zu erschaudern. „Sasha, ich werde für dich sorgen“, sagt er. Hustet. Ich schlucke. Für uns zu sorgen war das einzig Gute, was er für mich und meine Mutter je getan hat. Ich sollte dankbar sein. Wir haben unser ganzes Leben im Luxus verbracht. Ich konnte sogar das College meiner Wahl besuchen – die University of Southern California, wo ich Schauspiel studiert habe. Aber natürlich hat er mich zurück nach Moskau beordert, sobald ich meinen Abschluss in der Tasche hatte. Und ich bin zurückgekehrt, weil er die Kontrolle über den Geldhahn hat. Wenn er mir in seinem Testament genug Geld vermacht, werde ich nach Amerika zurückkehren und meine Träume verfolgen. „Dein Ehemann wird heute eintreffen.“ Zunächst verstehe ich nicht, was er sagt. Ich blinzle. Blicke über meine Schulter zu meiner Mutter. „Wie bitte?“ Ich muss ihn ganz sicher missverstanden haben. „Der Mann, der dich heiraten wird. Um dich zu beschützen und deine finanziellen Interessen zu verwalten.“ Ich ziehe meine Hand aus seiner. „Wie bitte, was?“ Zorn flackert in den Augen meines Vaters auf und mein Körper reagiert augenblicklich und beginnt zu zittern. Ganz egal, wie sehr ich mich bemühe, mich davon nicht aus der Fassung bringen zu lassen, ich bin immer noch das kleine Mädchen, das verzweifelt versucht, ihm zu gefallen, seine Liebe zu gewinnen. Ihn dazu zu bringen, mich zu sehen und mir seine Aufmerksam zu schenken. Natürlich zeige ich das nie. Mittlerweile habe ich schon sehr lange den rebellischen Teenager für ihn gespielt. Ich werfe nachdrücklich meine Haare in den Nacken. „Ich werde niemanden heiraten.“ Er deutet mit dem Finger auf mich. „Du wirst tun, was ich dir sage, und dankbar sein, dass ich einen Weg gefunden habe, um dich zu beschützen und für dich zu sorgen, wenn ich unter der Erde bin.“ Ein paar Speicheltropfen fliegen aus seinem Mund. Mein Magen dreht sich um. Es ist zu verstörend, zu beobachten, wie der Tod sich über ihn hermacht, um nicht davon berührt zu werden, aber ich will nicht, dass es mir etwas ausmacht. Ich will ihn einfach weiterhin hassen können. Ich hasse ihn. „Wer?“, verlange ich. „Wen soll ich heiraten?“ Ein Klopfen an der Tür ertönt und mein Vater nickt, als ob er zufrieden wäre. Vladimir betritt das Zimmer. „Maxim ist da.“ Mir stockt der Atem, als ob mir jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst hätte. Maxim. Doch ganz sicher nicht? Was für einen kranken, verdrehten Plan hat mein Vater denn da ersonnen? Maxim, der charmante, mächtige, ehemalige Protegé meines Vaters? Den ich durch meine Lügen ins Exil vertrieben hatte? Maxim betritt das Zimmer und ich weiche von der Seite meines Vaters zurück in die dunkle Zimmerecke, wo meine Mutter steht, die alles genau beobachtet, besorgt, die Hände ringt. „Du hast davon gewusst“, klage ich sie an. Tränen schwimmen in ihren Augen. Darüber bin ich froh, weil es mir hilft, meine eigenen hinunterzuschlucken. „Maxim“. Mein Vater hält ihm seine Hand hin. Maxim wirft einen Blick in unsere Richtung und ich will gehen, aber meine Mutter greift nach meinem Arm und hält mich fest. Vladimir kommt ebenfalls ins Zimmer, positioniert sich vor der Tür, als ob er den Ausgang versperrt. Er sieht aus wie ein Gefängniswärter. Maxims gut aussehendes Gesicht ist ausdruckslos. Allein sein Anblick, nach sechs Jahren, lässt mein Herz höher schlagen. Er trägt noch immer dieselbe undurchdringliche Maske. Ich erinnere mich. Er muss mich sicherlich hassen nach allem, was ich ihm angetan habe. Er greift nach der Hand meines Vaters, kniet sich neben das Bett. „Papa.“ Papa. So nennen sie meinen Vater, weil er ihr Anführer ist. Ich glaube, auf eine Art war er auch wie ein Vater für Maxim, der, so erinnere ich mich, mit vierzehn aus einem Waisenhaus abgehauen ist. Vermutlich war er ein besserer Vater für ihn als für mich, sein eigenes Fleisch und Blut. „Endlich bist du hier“, krächzt mein Vater und legt seine freie Hand auf Maxims Schulter wie ein Priester, der ihn segnet. „Ich habe eine letzte Bitte, Maxim.“ „Was ist es?“ Maxims Stimme ist leise und ehrfürchtig. Wenn man sie so beobachtet, würde man nie denken, dass mein Vater Maxim verbannt hatte, nicht nur aus seiner Gegenwart, sondern sogar aus dem Land. „Hast du den Diebeskodex befolgt?“ Maxim nickt. „Du hast keine Frau, keine Familie?“ „Njet.“ „Gut. Du wirst den Kodex jetzt brechen und Sasha heiraten“, sagt mein Vater. Auch wenn ich es halb erwartet hatte, treffen mich diese Worte dennoch wie eine Flutwelle, brechen über mir zusammen, reißen mich in eine Panik. Maxim hat mir seine breiten Schultern und seinen Rücken zugewandt und ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber er muss ebenso schockiert sein wie ich. Langsam erhebt er sich aus seiner knienden Position, steckt seine Hände in die Hosentaschen und wartet ab, erwidert nichts. „Ich werde Sasha meine sämtlichen Anteile an den Erdölquellen vermachen, solange sie mit dir verheiratet ist. Du wirst ihre Finanzen verwalten und sie vor Bedrohungen beschützen. Wenn sie stirbt, bevor sie Kinder bekommen hat, gehen die Anteile an Vladimir über, der damit beauftragt ist, die Moskauer Zelle zu führen und für Galina, Sashas Mutter, zu sorgen.“ „Du verkaufst mich“, stoße ich aus meiner Zimmerecke hervor. Das tut er – genauso, wie er meine Mutter verkauft hat. „Ruhe!“ Mein Vater wirft eine Hand in die Luft, deutet in meine Richtung, lässt sich aber nicht einmal dazu herab, mich anzuschauen. Maxim, hingegen, dreht sich zu mir um. Er mustert mich lange und gründlich, denkt vermutlich daran, wie ich sein Leben ruiniert habe. Er könnte nun an Vladimirs Stelle an der Spitze der Bratwa stehen, wenn ich nicht gewesen wäre. Ich presse die Lippen zusammen, damit er nicht sieht, wie sie zittern. „Sie ist keine Jungfrau mehr“, sagt mein Vater, als ob er sich dafür entschuldigen würde, minderwertige Ware zu liefern. Ich möchte mich am liebsten übergeben. „Sie hatte eine wilde Zeit, in der ich keine Kontrolle über sie hatte, als sie in Amerika aufs College gegangen ist. Aber andererseits bist du auch an amerikanische Frauen gewöhnt, oder nicht?“ Maxim erwidert noch immer nichts. „Du wirst das für mich tun“, sagt mein Vater. Es ist keine Frage, es ist ein Befehl, aber er mustert Maxims Gesicht aufmerksam, sucht nach Reaktionen. „Nimm sie mit nach Chicago. Halte sie von dem ganzen Ärger hier fern – sicher und unversehrt. Genieß ihren Wohlstand.“ Maxim fährt sich mit der Hand über das Gesicht. „Du kannst sie für die Lügen bestrafen, die sie über dich erzählt hat. Nichts für ungut, ja? Du bist gut zurechtgekommen in Amerika. Ich habe gehört, Ravil lebt wie ein König und du profitierst davon.“ Ich werde ganz still, als ich höre, dass mein Vater weiß, dass ich gelogen habe. „Und wenn ich zuerst sterbe?“, fragt Maxim, ganz der Geschäftsmann. Das hier ist eine Transaktion. Mein Vater bietet ihm eine Aussteuer für meine Hand an. „Wer hat den Treuhandanteil an Sasha?“ „Vladimir“, antwortet mein Vater. Maxim nickt eilig, fast unmerklich. Vladimir ist mit im Zimmer, aber Maxim schaut ihn nicht an. „Übertrage sie an Ravil“, sagte er. Ravil ist der Boss der Bratwa-Zelle in Chicago und somit Maxims Boss, seit er des Landes verwiesen wurde. Vladimir verlässt augenblicklich das Zimmer. „Du wirst das für mich tun“, wiederholt mein Vater und blickt Maxim an. Maxim neigt den Kopf. „Das werde ich.“ „Sei meiner Familie gegenüber nicht respektlos, indem du meiner Tochter gegenüber nicht respektvoll bist.“ „Niemals“, erwidert Maxim sofort. Er dreht sich zu mir um und mustert mich. Etwas in meinem Magen flattert, als ich seinen düsteren Blick auf mir spüre. Wenn mein Vater seinen Willen bekommt, werde ich diesem Mann gehören. Er wird mich vollkommen kontrollieren. Mein ganzes Schicksal liegt in seiner Hand. Aber ich werde mich ihm nicht zu Füßen legen und die unterwürfige, anbetende, allzeit verfügbare Geliebte spielen, wie meine Mutter es getan hat. Drauf geschissen. Ich werde mich wehren.
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