Chapter 4

2319 Words
Am andern Tag stieg er frierend und mit einer sonderbaren Bangigkeit in die Postkutsche. Der Schwager knallte mit der Peitsche, die Räder knirschten. Das schöne Mädchen blieb in Innsbruck. Als er am Ziel der Reise aus dem Wagen stieg, steif vor Kälte und zerschlagen von den Stößen der schlechten Federn, stöberte es. Weiß und ruhig lag alles Land, tief begraben unter weichem Schnee, der nach dem warmen Wetter hereingeweht war. Peter wunderte sich über die vielen Menschen, die vor dem Gasthaus zur Post standen. Aber er sah bald, dass ihre Aufmerksamkeit weder dem angekommenen Wagen noch ihm galt. Eine schrecklich bewegte Gruppe lenkte seinen Blick auf sich. Eine sehr junge, totenblasse Nonne mit weißer Flügelhaube und schwarzem Gewand drehte sich, von zwei Schwestern aus dem Kloster nur mühsam gehalten, in entsetzlichen Krämpfen. Sie bäumte sich, warf den Oberleib schnellend von vorne nach rückwärts, so dass die weiße Haube fast den Boden und die Absätze ihrer plumpen Schuhe berührte. Schaum stand ihr vor dem Mund, die Augäpfel waren weißlich verdreht, die Hände krampfig verbogen. Eine Irrsinnige vielleicht, eine Kranke jedenfalls. Von Grauen erfasst, sah Peter, dass ein Priester vor ihr stand, ein magerer Mann mit strengem Gesicht und tiefliegenden Augen. Sein fuchsroter Vollbart wehte im kalten Wind, das geschorene Haupthaar umgab in feuerfarbenem Kranz das braune Kapuzinerkäppchen über der Tonsur, den Leib umschlotterte die Kutte; ein zerknittertes Chorhemd war darübergezogen und über den Schultern lag die violett und goldene Stola. Der Anblick war erschreckend und unheimlich. Viele Frauen lagen auf den Knien, ohne des Schneeschlammes zu achten, der sie durchnässte, Männer mit harten Gesichtern glotzten fassungslos, Kinder schrien auf. Den Schwestern, die die Kranke mit aller Anstrengung festhielten, klapperten die Zähne. Angewurzelt stand Peter vor so gänzlich überraschendem Anblick. Welch unsichtbare Gewalt drehte und schüttelte den armen Nonnenleib so grausam? Aus blauen Lippen im blassen verzerrten Gesicht reckte sich die geschwollene Zunge, der zerbissene Mund schien Sätze bilden zu wollen. Gellende Schreie fuhren schneidend auf, die Augen wölbten sich vor, ein springendes Zittern durchlief ihre Glieder. Dann gröhlte eine tiefe Männerstimme aus ihr: „Tarach ziach zo! Joho! Du Göttle, du Teigmanndele du! Luder, Luder, ich zerschmeiß' dich!” Ein junger Bauer musste den Schwestern zu Hilfe eilen, um die in Krämpfen um sich schlagende Nonne vor eigenem und fremdem Schaden zu bewahren. Rötlicher Speichel rann über ihr Kinn, die Flügelhaube fiel und ließ das kurzgeschnittene dunkle Haar erblicken. „Was, Luder, wart', du gebackenes Herrgöttle...”, schrie es aus ihr. „Hast ja gar keine Gewalt über mich und die Meinen!” Da nahm der Kapuziner eines der mit kreuzförmig aufgenähten Goldborten geschmückten breiten Enden der Stola und legte es der Nonne aufs Haupt. Mächtig klang seine Stimme über die atemlos lauschenden Menschen hin: „Adjuro te, diabole, ut hanc creaturam Veronicam ... – Ich beschwöre dich, Teufel, dass du dieses Geschöpf Veronica...” „'Nunter, 'nunter!”, brüllte es heiser aus der Besessenen. „Alopech, alohach, Sabbathei! Lass das Luder – Bruder – Luder –” Sie fuhr wild mit dem Kopf hin und her, warf ihn in den Nacken und schloss die Augen. Sie schluckte und ächzte. Und auf einmal glättete sich das qualvoll verzogene Gesicht, ein klägliches armes Lächeln umspielte kurz den Mund, die Körperhaltung wurde natürlich und Peter hörte die Ursulinerin mit matter und sanfter Stimme sagen: „Gott dem Herrn sei Lob und Preis, für heute gibt er Ruhe und kann nicht mehr aufsteigen.” „Wie fühlet Ihr Euch, Schwester?”, fragte der Geistliche. „Gar so müde halt, grad zum Sterben!”, antwortete sie schwach. „Ich mein', er bringt mich doch noch um, der böse Feind.” „Fürchtet Euch nicht!”, rief der Priester und seine Augen glühten eifervoll. „Er muss und muss ausfahren, der stinkige Höllenbock! Hat er nicht gestern mit Gewinsel versprochen, er wolle am Sonntag zu Mittag von Euch lassen, dafür, wenn ich nicht wieder mit dem Käpslein komme, darinnen ein heiliger Faden ist vom Schweißtuch des Heilandes? Es ist nicht der Erste, der mir weichen muss, Schwester Veronika, und, wie ich sage, am nächsten Sonntag seid Ihr durch Gottes Gnade von der beelzebübischen Einquartierung erlöst.” Die Nonne beugte sich tief, um die Hand des Mönches zu küssen. Die Schwestern führten sie weg. Kaum trugen sie die Füße. Klappernd schlugen die Messingmünzen und das Kreuz mit dem kleinen knöchernen Totenkopf des Rosenkranzes zusammen. „Betet!”, rief der Kapuziner dröhnend über die erstarrte Menge. „Wachet und betet, denn der Satan geht um wie ein brüllender Löwe und suchet, wen er verschlinge. – Vater unser, der du bist...” Vielstimmiges Murmeln erhob sich. Peter zog fröstelnd den Mantel an sich, drei Schritte hinter ihm war das Tor des Gasthofes zur Post. Ungesehen verschwand er im Flur. Als er das große Gastzimmer mit der holzvergitterten Schank betrat, sah er nur den Postknecht, der ihn geführt und zwei Tische weiter einen bärbeißig aussehenden dicken Herrn sitzen, dem ein gelber Walrossschnurrbart über die Lippen hing. Zwei grellblaue Augen blickten aus kräuselndem Tabaknebel nach dem Eingetretenen, aus dem Rohr der Meerschaumpfeife quollen neue schwere Wolken hervor. „Guter Freund!”, redete Peter den Knecht an. „Sagt mir, wo ich in diesem Ort den bayrischen Bezirksamtmann treffe?” Aber bevor noch der Schwager antworten konnte, kam es dumpf und grollend aus dem Rauchschwaden: „Da sitzt er, der bayrische Amtmann, wie er leibt und lebt. Wer ist man? Was will man?” Artig trat Peter an den Tisch, nannte seinen Namen und zog die Papiere hervor, um sich auszuweisen. Der Gestrenge sah alles genau durch und machte dann eine Handbewegung nach einem Stuhl. „Setzen!”, sagte er. Peter setzte sich. Eine ältliche Kellnerin trabte, als der Amtmann einen schrillen Pfiff auf zwei Fingern tat, mit einem „Befehlen, Gnaden Herr Amtmann?” herein. „Bier für den Herrn und Schreibzeug für mich!”, befahl er kurz. „Sie sein also der Herr Storck, der unterdessen den Hof da droben übernimmt? Was? Wie? Ein Wiener? Wie kann ein Wiener sich dahier länger als drei Stund' aufhalten? Übrigens, – von Pflederer ist mein Name!” Peter verwies höflich auf die Zuschrift, der er gefolgt war, und bat, ihm Genaueres mitzuteilen. Der Amtmann gab vorerst keine Antwort, rührte mit dem Kiel in der eingetrockneten Tinte, die auf den Tisch gestellt worden war, faltete das Schriftstück zusammen und schrieb auf den äußeren Rand mit dicken Strichen: „Gesehen! Genehmigt! v. Pflederer.” Dann holte er einen Messingstempel aus der Rocktasche, spuckte darauf, rieb die Fläche ein wenig an seinem Schuh und drückte ein blasses schwärzliches Siegel auf das Papier. „So!”, sagte er und tat dann einen langen Schluck aus dem Glas. „Wenn Sie den Wisch oben beim Rosenwirt vorweisen, folgt er Ihnen die Schlüssel zum Zeitlanghof aus. Verstanden? Oben in Sankt Marein, mein' ich. Wie lang wollen Sie bleiben?”, fragte er und sah Peter scharf an. „Bis ich weiß, welches Schicksal meinen Oheim betroffen hat!”, sagte Peter. „Was? Schicksal betroffen? Abgestürzt wird er halt sein, der alte Herr. Ist ja immer allein im Gebirg herumgelaufen!” „Oder ermordet...”, erwiderte Peter und seine Stimme bebte. Ganz plötzlich war dieser Gedanke in ihm aufgestiegen. „Ach, woher!”, lachte ärgerlich der Beamte. „Da bei uns wird niemand ermordet. Was glauben Sie denn? Wer hätt' denn das tun sollen? Wo doch der Herr Onkel den verstockten Bauern nichts als Wohltaten erwiesen hat. Wo er niemalen Geld bei sich geführt hat. – Herr, wie kommen Sie mir vor?”, fuhr er plötzlich auf Peter los und wurde brennrot im Gesicht. „Meinen Sie gar, wir bekümmern uns um gar nichts? Forschen gar nicht nach, wenn ein Mensch so mir nichts, dir nichts verschwindet? Wie? Was? Wollen Sie den Akt einsehen? Zwei Kommissionen sind hinauf, die Leute selber haben suchen geholfen, zwei Lawinen sind abgegraben worden. Wir haben unsere Pflicht getan, junger Herr. Merken Sie sich das!” Peter beeilte sich, seiner Überzeugung Ausdruck zu geben, dass er von den amtlichen Bemühungen der bayrischen Regierungsstelle überzeugt sei. Aber dennoch – er hielte es für seine Pflicht, auch seinerseits alles zu tun, um Licht in das jähe Verschwinden des Oheims zu bringen. „Sind also, mit einem Wort, gescheiter und tüchtiger als die Bezirksamtmannschaft. Kann mir nur recht sein. Ersparen mir die Arbeit, Herr Naseweis. Trinken Sie endlich, ich kann das nicht sehen, wie einer den frischen Schaum auf seinem Bier zergehen lässt. – So! Sie müssen sich um einen Gescherten umschaun, der Ihnen das Felleisen hinaufträgt. Ein Sauweg, ein verwünschter! Und liebe Leuteln! Schädel haben sie so hart wie Stein, sind pfiffiger und hinterhältiger als Holzfüchs', verschlossener als die Schatzkammer in München. Es ist ein Kreuz und Marter ohnegleichen mit den Bauern allhier. Also wirklich nur wegen des Oheims und der amtlichen Zuschrift?” Er sah Peter aus halbgeschlossenen Lidern prüfend an. „Ich wüsste nicht...”, sagte Peter, durch den Ton verletzt. Der Amtmann klopfte seine Pfeife in den irdenen Saumagen, der auf dem Tisch stand, räusperte sich, spuckte im Bogen auf den Fußboden und sagte dann lauernd: „Gar kein Aufträgle von Wien in der Tasche? Gar nicht ein bissel aufwiegeln die braven kaisertreuen Tiroler gegen die Bayern? Sollt' mich überaus wundern, wenn's nicht so war'...!” „Zu solchen Dingen habe ich weder Aufträge erhalten, noch hätte ich Zeit und Lust dazu”, gab Peter mit Schärfe zurück. „Ich will Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen, Herr Amtmann, dass ich bei den Würzburger Franken nicht gelernt habe, Beleidigungen auf mir sitzen zu lassen!” Das Gesicht des Bayern erhellte sich mit einem Schlag. Er brach in ein lautes fröhliches Gelächter aus und hieb Storck derb auf die Schulter: „Hohoho! Franconia zu Würzburg? Apfelgrün und pfirsichrot? Was macht denn der Laurenz Bartenstein mit seinem großen Hund? Und der Kropff? Sauft der Thomann noch so viel? Kreuzherrgottsaxen – mit dem Bruder vom Franken Stepf hab' ich in Erlangen gefochten. Ja – Sie sind freilich recht! He, Bier her, lahmes Mensch!” Die Kellnerin lief. „Sie haben schon noch Zeit”, begütigte er, als er Peters leise Ungeduld sah. „Länger als drei Stunden steigen Sie nicht, und für einen Träger werd' ich schon sorgen. Aber was das Frühere anbelangt – ich revoziere und depreziere alles und jedes! Wissen Sie, ich muss aufpassen als wie! Steigen allerhand verdächtige Kerle herum mit Briefen aus Wien und so. Sie mögen uns nicht, die frommen Tiroler. Unter uns: Man hat's dumm angefangen, hat sich in alles hineingemischt. Mit ihren Kirchen, Pfaffen und Glocken verstehn sie dahier keinen Spaß. Sie haben doch die närrische Klosterfrau gesehen, wie? Was glauben Sie, sollt' ich tun? Den Pater mit dem roten Geisbart verhaften, nach München schicken, das Klösterle, ich glaub', zehn Weiber sind im Ganzen darinnen, zusperren? Einen Bericht schreiben von da bis da – ellenlang und haargenau? Und dann das ganze Obere Inntal auf dem Hals haben! Ich dank' schön. Was geht das mich an? Von mir aus sollen sie Teufel austreiben, wo anderwärts der Narrenturm gut ist. Ich scher' mich nicht darum. Und wenn es die Herren Kollegen so gehalten hätten, wär' längst Ruh' und Frieden, und kein Mensch im Land möcht' den Österreichern und ihrem schlechten Geld nachweinen.” Peter aß und trank, und in der Gesellschaft des Amtmanns wurde ihm leichter ums Herz, als ihm nach dem gräulichen Schauspiel bei der Ankunft gewesen war. Der Amtmann hielt mit offenherzigen Bemerkungen über die Ungeschicklichkeit, mit der man die Tiroler behandelte, nicht hinter dem Berg und schimpfte weidlich über die Ganzgescheiten in München, die vom grünen Tisch aus Befehle, Verordnungen und Maßregeln ergehen ließen, die fast immer Unheil anrichteten. Durch die neue Handelssperre gegen Tirol war die große Strelesche Leinwand- und Baumwollwarenfabrik zu Imst stillgelegt worden. Hunderte von armen Oberinntalern hatten dadurch ihr Brot verloren. Als sie auswärts Arbeit suchen wollten, verbot die Münchener Regierung das Auswandern. So lungerten sie bettelnd und darbend herum und wurden von den ausgedörrten Lehrern aufgehetzt, die mit ihren fünfzig Gulden im Jahr weder leben noch sterben konnten. Auch Räuber seien aufgetaucht, Burschen, die der Stellungspflicht entlaufen, sich in den Bergwäldern zusammengerottet hatten. Der Geist der Unzufriedenheit greife immer mehr um sich und die Garnisonen seien zu schwach. Welcher Esel seine, des Bezirksamtmannes Berichte lese, wisse er nicht, aber nichts von dem, was er vorgeschlagen, geschehe oder unterbleibe. Ja, es sei ein Elend, da sitzen zu müssen, schlechtes Bier zu trinken und sich die Finger wund zu schreiben für nichts und wieder nichts. Und das Ende sei jedes Mal eine Nase für ihn, den Amtmann von Pflederer. Ja, aber nun wolle er wirklich nicht aufhalten, – der Herr Storck käme sonst doch wohl ins Abenddämmern. Und das sei nichts. Aber fei nicht vergessen und einmal ins Tal hinunterschauen! Man könne sich einmal ein Lätizerl machen mit einer tapferen gebratenen Gans, äpfel- und kästengefüllt. „Was? Wie? Und was ich sagen wollte: Der Bruder vom Bartenstein ist Leutnant bei Kinkel.” Der Abschied war geradezu herzlich. Bis zur Türe des Gasthauses ging der Amtmann mit Peter, nahm sogar das Felleisen in seine Obhut, bis der Bote es nachtragen würde. Die Kellnerin riss den Mund weit auf vor Staunen, ein paar Bauern, die vorübergingen, vergaßen schier den Hut zu lüften. So leutselig wie mit dem jungen Herrn im siebenkragigen Mantel hatte noch keiner den Amtmann gesehen. „Noch eins”, sagte der Beamte mit gedämpfter Stimme. „Dort oben hab' ich nicht viel Macht. Wer kann alle diese Dörfer und Einödhöfe überwachen? So viel ich weiß, ist's dort noch finsterer wie da herunten. Lebendige Teufel sollen dort umgehn, und in den Nächten hört man die armen Seelen auf dem Ferner weinen. Ich glaub' allerweil, Herr Storck, Sie kommen recht bald wieder herunter. Na also, behüt Gott und Ade, Ade!” Er winkte noch eine Weile, vom Pfeifenrauch umflattert.
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