Kapitel 2

1755 Words
2 Abby Tanner blickte das Glas an und sah in dem glühenden Stück mehr als nur geschmolzene Flüssigkeit. Den Stab drehend, formte sie verschiedene Schichten, die sie bog und formte, um dem Bild in ihrem Kopf zu entsprechen. Sie liebte es, wenn formloses Glas sich in ein wunderschönes Kunstwerk verwandelte. Außerdem war sie dankbar, dass sie ganz gut davon leben konnte. Es gab ihr eine Freiheit, die nicht viele Menschen hatten. Sie arbeitete die nächsten drei Stunden an dem Stück, bog und blies daran herum, bis eine zarte Blume entstand. Sie war fast fertig. Es hatte sie fast sechs Monate Arbeit gekostet, das Stück fertig zu stellen. Sie hatte es bereits für über fünfzigtausend Dollar verkauft. Ihr ging es jedoch nicht um das Geld, sondern um die Freude, etwas Schönes zu schaffen, das auch anderen eine Freude machte. Abby blickte auf, als sie das Bellen eines Hundes hörte. Lächelnd räumte sie ihre Werkstatt zu Ende auf. Es war eine ziemlich große Holzscheune, nicht weit von der Hütte, in der sie lebte, tief in den Bergen von Nordkalifornien. In die Hütte waren ihre Großeltern gezogen, bevor sie geboren worden war. Nachdem ihre Mutter sie als Baby verlassen hatte, war es auch ihr Zuhause geworden. Ihre Mutter war an einer Überdosis Drogen gestorben, als Abby zwei war und sie hatte nie erfahren, wer ihr Vater war. Ihre Großeltern hatten sie aufgezogen. Ihre Großmutter war vor fünf Jahren verstorben und ihr Großvater vor sechs Monaten. Immer noch hatte sie mit den Depressionen zu kämpfen, die sie manchmal überwältigten. Ihre Großeltern waren sehr glücklich mit ihrem Leben in der abgelegenen Berghütte gewesen. Abby wuchs auf einem Holzspielplatz auf, der nur für sie gebaut worden war. Sie liebte die Freiheit und den Frieden, die ihr die Berge gaben. Jetzt, mit zweiundzwanzig, hatte sie kein Verlangen danach, in der nächstgelegenen Stadt Shelby oder einer größeren Stadt zu leben. Es war schlimm genug, wenn sie dorthin musste, um an einer Ausstellungseröffnung für ihre Kunstwerke teilzunehmen. Abby strich sich die dunkelbraunen Haarsträhnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten, zurück hinter die Ohren und blickte sich noch einmal kurz um, bevor sie die Doppeltüren zu ihrer Werkstatt schloss. Sie lachte, als der große Golden Retriever auf sie zugelaufen kam. Abby ging in die Knie und umarmte Bo, während sie versuchte, ihren Mund geschlossen zu halten, damit Bo seine eifrige Zunge nicht hineinsteckte. „Er hat dich vermisst“, sagte Edna Grey, die auf dem kleinen Pfad hinter Bo entlanglief. Edna hatte ihr langes, dunkelgraues Haar heute zu einem Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fiel. Sie trug eine abgewetzte Jeans mit einer zugeknöpften Bluse, die auf Taillenhöhe eingesteckt war. Obwohl sie schon Ende sechzig war, bewegte sie sich wie eine halb so alte Frau. Abby musste lächeln, als sie das Funkeln in Ednas hellgrünen Augen sah, die Bo folgten. Abby blickte zu Edna auf und lächelte. Sie konnte nur hoffen, dass sie im Alter auch so gut aussehen würde wie ihre Freundin. Abby wusste, dass sie für ihr Alter jung aussah und schrieb ihr Aussehen der Familie ihrer Großmutter zu. Sie hatte die dunkelbraunen Haare, dunkelblauen Augen und das herzförmige Gesicht ihrer Großmutter. Ihre Nase war etwas zu kurz und ihre Lippen etwas zu voll. Abby fand oft, dass sie deswegen aussah wie ein schmollendes kleines Mädchen, aber ihr Großvater hatte immer gesagt, dass sie das nur schöner machte, weil er immer ihre Großmutter in ihr sah. „Ich habe ihn auch vermisst, Ja, du bist einfach ein großer alter Softie, stimmt’s? Ja, das bist du“, sagte Abby, als sie aufstand. Bo sprang auf und ab und wartete darauf, dass Abby den Tennisball nahm, den er im Maul trug. Sein langer Schwanz wackelte hin und her, während er bellend im Kreis lief. Abby nahm den nassen Tennisball und warf ihn in Richtung Hütte. Wie der Blitz rannte Bo dem kleinen gelben Ball hinterher. „Und, wie geht es dir?“, fragte Edna sanft, während sie mit Abby zur Hütte zurückging. Abby war einen Moment lang still, bevor sie tief ausatmete. „Besser. Erst war es wirklich schwer, Opa zu verlieren, aber ich scheine jeden Tag ein bisschen besser damit klarzukommen. Die Arbeit hilft. Der große Auftrag für das Paar aus New York ist fast fertig.“ Edna legte ihren Arm um Abbys Taille und zog sie näher an sich heran. „Ich kann es gar nicht erwarten, es zu sehen. Du warst noch nie so geheimnisvoll, was deine Arbeit angeht.“ Abby lachte mit belegter Stimme. „Es ist eines der schönsten Stücke, die ich je geschaffen habe. Ich kann gar nicht erwarten, es dir zu zeigen. Als ich diesen Auftrag bekommen habe, habe ich erst ein bisschen gezögert. Normalerweise mache ich einfach etwas, von dem ich fühle, dass es bereits im Glas steckt. Diesmal wollte mein Kunde mich treffen und hat mich gebeten, etwas im Stil ihrer Inneneinrichtung zu erschaffen. Ich habe zwei Tage als Gast in ihrem Haus verbracht. Es war unglaublich und hat geholfen. Ich habe den Auftrag gleich nach Opas Tod bekommen. Mich darauf zu konzentrieren hat mir geholfen, mit seinem Tod fertig zu werden.“ „Triffst du denn vielleicht auch mal einen netten jungen Mann, wenn du die ganze Zeit auf Reisen bist?“, neckte Edna sie. „Nein, ganz und gar nicht!“, sagte Abby empört. „Ich bin gerne allein. Ich habe auf meinen Reisen zu viel von Männern und ihrem Verhalten gesehen, um mich mit irgendjemandem einzulassen.“ „Was ist mit Clay? Du weißt, dass er sich für dich interessiert“, fragte Edna. Abby rümpfte verächtlich ihre Nase. Clay war der Sheriff von Shelby und hatte versucht, Abby zu einem Date zu überreden, seit sie achtzehn war. Er war ein netter Typ, aber Abby empfand einfach nicht das Gleiche für ihn wie er anscheinend für sie. Jede Woche fuhr Abby in die Stadt, um ihre Werke zum Verkauf an ihre Händler zu schicken und nötige Dinge einzukaufen. Und ausnahmslos jede Woche tauchte Clay bei der Post auf und fragte sie nach einem Date. Sie gab ihm dann höflich einen Korb, wonach er ihr durch die ganze Stadt folgte und sie immer wieder bat, mit ihm essen zu gehen. „Clay ist nett und so, aber ich empfinde einfach nichts für ihn“, sagte Abby, während sie Bo streichelte und den Ball erneut warf. „Eines Tages wirst du den richtigen Mann kennenlernen. Danke nochmal, dass du für mich auf Gloria und Bo aufpasst“, sagte Edna und ging zu dem Pferdeanhänger, der an ihrem Pick-up hing. „Kein Problem. Du weißt, dass ich gerne mit ihnen zusammen bin, wenn du unterwegs bist“, sagte Abby lachend und sah zu, wie Gloria, Ednas alte Maultierstute, versuchte, ihren Kopf durch das kleine Fenster zu zwängen. Sie liebte die Äpfel, die Abby ihr immer gab. „Na ja, du bist die Einzige, die nicht von ihr gebissen und herumgeschubst wird.“ Edna öffnete den Anhänger und führte das Tier rückwärts heraus. Bo tänzelte um ihre Beine herum und wollte spielen. „Wie lange bist du weg?“, fragte Abby und zog einen Apfel aus dem Kittel, den sie über ihrem Oberteil und ihren Jeans trug. „Ich habe gehört, dass morgen Nacht ein schlimmer Sturm kommen soll.“ Sie hielt Gloria den Apfel hin, den das Maultier ihn ihr geschwind aus der Hand schnappte und darauf herumkaute, als Edna sie zu dem kleinen Gehege neben der Hütte führte. „Ja, ich habe davon gehört. Es soll viel Regen und vielleicht heftige Gewitter kommen. Ich will gleich aufbrechen, wenn ich hier fertig bin, damit ich dem Ganzen entkomme. Ende der Woche komme ich wieder. Jack und Shelly organisieren am Donnerstag eine Geburtstagsparty für Crystal. Am Freitag fahre ich zurück“, sagte Edna und entließ Gloria mit einem Klaps auf die Flanken. „Hast du Zeit für eine Tasse Tee oder Kaffee?“, fragte Abby und sah zu, wie die Maultierstute in die kleine Scheune neben dem Gehege ging. Abby hatte bereits ein dickes Bett aus Heu sowie frisches Futter und Wasser für sie in einer der Stallboxen vorbereitet. „Eine Tasse Kaffee wäre toll“, sagte Edna und folgte Abby die Stufen hinauf und in die kleine Hütte. Abby liebte ihr kleines Zuhause. Es gab zwei Schlafzimmer, jedes mit einem eigenen Badezimmer, ein kleines Wohnzimmer und eine Wohnküche. Ein großer Kamin dominierte das Wohnzimmer und in jedem Schlafzimmer gab es einen kleinen Pelletofen für die kühlen Wintermonate. Zum Glück wurde es langsam Sommer, sodass sie, abgesehen von der einen oder anderen kühlen Nacht, weder die Öfen noch den Kamin brauchte. Die Hütte hatte große Fenster in der Küche und im Wohnzimmer, durch die viel Tageslicht hereinkam. Abbys Großvater hatte eine eigene Produktionsfirma für Musik in Los Angeles gehört und ihre Großmutter hatte Lieder geschrieben. Beide waren überaus talentiert gewesen. Als Abbys Mutter anfing, mit den falschen Leuten herumzuhängen, hatten sie gedacht, dass ein Umzug in die Berge sie davon wegbringen würde. Leider war ihre Mutter stattdessen weggelaufen und im Alter von siebzehn Jahren mit Abby schwanger geworden. Abby war erst einen Monat alt gewesen, als ihre Mutter sie abgab und verschwand. Zwei Jahre später wurde sie nach einer Überdosis zusammen mit ihrem damaligen Freund tot aufgefunden. Abbys Großeltern waren nach dem Tod ihrer einzigen Tochter untröstlich gewesen und hatten getan, was sie konnten, um Abby von diesem Lebensstil fernzuhalten. Abby hatte die Gutmütigkeit ihrer Großmutter sowie ihre Vorliebe für Kunst geerbt. Ihre Großmutter nutzte die Zeit in den Bergen, um Lieder zu schreiben und brachte sich selbst die Kunst der Glasbläserei bei. Schon bald fand auch ihr Großvater Gefallen an dem Hobby und mithilfe des Internets wurde es zu einem Nebeneinkommen. In den vergangenen sechs Jahren hatte Abby sich mit ihren wunderschönen Werken international einen Namen gemacht. Edna und Abby hatten sich viel zu erzählen und sprachen die nächste halbe Stunde über Ednas Familie in Sacramento und Abbys neue Verträge mit verschiedenen Museen, die ihre Kunst ausstellen wollten. Bo lag zufrieden auf dem Vorleger vor dem Herd und betrachtete seinen Tennisball. Es dauerte nicht lange, da sah Abby auch schon die Rücklichter von Ednas Pick-up am Ende ihrer Einfahrt verschwinden. Abby rief nach Bo, damit er zurückkam und nicht weiter versuchte, dem Auto hinterher zu laufen. Sie lachte, als er hin und her blickte und sich nicht ganz entscheiden konnte, bei wem er bleiben wollte. Die Aussicht auf ein Leckerli ließ ihn aber schon bald in das warme Innere der Hütte zurückkehren.
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