Auroras Sichtweise
Meine Augen sind auf Oliver fixiert. Ein Lächeln zieht an meinen Lippen, während ich ihn auf mich wirken lasse. Er ist über 1,80 Meter groß und extrem muskulös, seine starken, definierten Muskeln zeichnen sich unter seinem Anzug ab. Sein weiches braunes Haar ist zu einer stilvollen Tolle gekämmt, und er hat Grübchen! Aber sein bestes Merkmal sind mit Abstand seine tiefblauen Augen, fast violett in der Farbe.
Mein Gefährte! Ich zittere vor Aufregung. Mein Gefährte ist perfekt. Schnell danke ich der Mondgöttin.
Meine Aufregung währt jedoch nur kurz, als sein Blick kalt wird und seine Augen sich mit Wut und Abscheu füllen. Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter, aber ich kann nicht wegsehen.
Endlich bricht er unseren Blickkontakt und beginnt, vor dem Publikum die Namen der Absolventen seines Rudels zu verkünden. Nachdem die Zeremonie beendet ist, verteilt sich die Menge über den Hof, während laute Musik aus den Lautsprechern dröhnt. Bevor ich mich versehe, ist die Party in vollem Gange.
Ich serviere mehreren Rudelmitgliedern Getränke, während ich unaufhörlich nach diesen tiefblauen Augen suche. Meine Suche wird abrupt beendet, als ich spüre, wie jemand meinen Arm packt und mich in den Wald zieht. Ich versuche, mich zu befreien, doch dann merke ich, dass es Oliver ist, der mich zerrt. Sofort höre ich auf zu kämpfen und lasse ihn mich wegbringen.
Meine Wölfin schnurrt fast vor Freude. Meiner! Meiner!
Mein Bauchgefühl jedoch sagt mir, dass etwas sehr falsch läuft. Ich spüre förmlich, wie die Wut von ihm ausgeht.
Als wir den Waldrand erreichen und weit genug von der Menge entfernt sind, bleibt er stehen und wirft mich heftig gegen einen kleinen Baum. Die Luft wird mir aus den Lungen gepresst, und meine Wölfin winselt leise. Ich ringe nach Luft und weiß nicht, was gerade passiert ist.
„Natürlich musste ausgerechnet du meine Gefährtin sein“, murmelt er vor sich hin. Er schaut zum Nachthimmel auf, als würde er direkt zur Mondgöttin sprechen. „Das muss ein Witz sein. Meine Gefährtin sollte dieses unglaubliche, wunderschöne Mädchen sein, nicht eine hässliche, verdammte Mörderin.“ Er hält inne und schaut mich an. „Wie könnte ich dich jemals lieben?“
„Nein, ich habe es nicht getan! Du bist mein Gefährte, du musst mir glauben! Du-“
„Hör mir zu. Du und ich, das kann nicht passieren. Ich, Olivier Honoré Artaud, Alpha des Flussmond Rudels, lehne-“
„Nein! Bitte tu das nicht-“
Ich spüre einen harten Schlag auf meinem Gesicht, der meine Lippe aufreißt. Meine Augen füllen sich sofort mit Tränen, und ein Schluchzen steigt in meiner Kehle auf. Ich zwinge mich, ihm in die Augen zu sehen, und sehe einen überwältigenden Schmerz kurz durch sie hindurchblitzen.
Warum tut er das, wenn es ihm doch auch weh tut?
„Mach es nicht schwerer als es sein muss“, sagt er, seine Augen verwandeln sich in emotionslose Tiefen von Blau. „Ich, Olivier Honoré Artaud, Alpha des Flussmond Rudels, lehne dich, Aurora Montenegro vom Lluvia Blanca Rudel, als meine Gefährtin und zukünftige Luna ab.“ Er dreht sich um und geht davon, ohne einen weiteren Blick zurückzuwerfen.
Der Schmerz ist unerträglich. Es fühlt sich an, als würden tausend Messer in meine Brust stechen, langsam und sorgfältig neue Einschnitte machen, und meine Haut brennt förmlich. Ich schreie und winde mich vor Schmerz auf dem Waldboden, und meine Wölfin kann nicht aufhören zu heulen. Ich schluchze stundenlang, bevor der Schmerz endlich nachlässt, und ich mich vom Boden aufrappele. Ich wische mir die Tränen und den Schmutz vom Gesicht, ziehe Blätter und Zweige aus meinem Zopf, bevor ich meine Haare zu einem Dutt zurückbinde. Dann gehe ich ernst zurück zur Party und stelle mich wieder an meinen Platz, völlig leer und emotionslos.
Die nächsten Stunden serviere ich gedankenlos Getränke, den Kopf gesenkt und ohne auf die grausamen Kommentare der Rudelmitglieder über mein Aussehen zu reagieren. Ich weiß, dass ich furchtbar aussah.
Mein Bauch explodiert plötzlich in qualvollen Schmerzen, und ich versuche schnell, meinen Schrei in meinem Arm zu ersticken. Ich blicke auf und sehe Erin, wie sie sich an Oliver auf der Tanzfläche reibt. Seine Augen wirken leblos, als sie sich umdreht und ihn auf die Lippen küsst. Sie schlingt ihre Arme um seinen Nacken, aber er bleibt steif und regungslos. Unsere Blicke treffen sich.
Bitte hör auf, flehe ich mit einem bittenden Blick.
Ich spüre, wie Reyna durchdreht und wütend auf Erin knurrt. Ein kurzer Schmerz flackert in seinen Augen auf, und er hört auf, schiebt Erin weg und dreht sich um, um zu gehen. Es spielt jedoch keine Rolle, denn ich sehe trotzdem die Tränen, die an seinen Augenrändern hängen. Ich weiß, dass er auch leidet.
Emotional erschöpft renne ich zurück zum Rudelhaus, ohne mich um die Strafe zu kümmern, die mich erwartet, weil ich meinen Posten verlassen habe. Drinnen schließe ich mich im Keller ein und werfe mich auf mein Bett. Ich schnappe mir ein Kissen und schreie immer wieder hinein, bis mein Hals brennt. Ich weiß nicht, wann ich endlich einschlafe.
Der Klang meines Weckers um 5 Uhr morgens weckt mich.
Ein weiterer Tag voller Elend.
Ich stehe auf, dusche und beginne, mich für meinen langen Arbeitstag vorzubereiten. Ich starre in mein Spiegelbild und inspiziere meine leicht geschwollene Wange und den hässlichen blauen Fleck, den mir Oliver verpasst hat. Der Schnitt an meiner Lippe ist mit getrocknetem Blut verkrustet. Ich ziehe ein T-Shirt und eine Jeans an und binde meine Haare zu einem Pferdeschwanz.
Ich gehe in die Küche und helfe der Köchin, Maira, das Frühstück für das Rudel vorzubereiten. Sie ist die einzige Person im Rudel, die meine Anwesenheit einigermaßen toleriert. Gegen 8 Uhr morgens trudeln die Rudelmitglieder ein und verlangen ihr Essen. Schweigend bediene ich sie nacheinander, bis nur noch ein kümmerlicher Pfannkuchen und eine Wurst für mich übrig sind. Maira geht dann, um ihre anderen Aufgaben zu erledigen, und lässt mich zurück, um die Küche und das Geschirr zu reinigen.
„Wohin bist du letzte Nacht gegangen?“, schnauzt meine Mutter, als sie ihren Teller zurückbringt.
Jetzt geht es los.
„Nirgendwohin“, antworte ich, den Blick auf meine Füße gerichtet. „Mir ging es nicht gut, und ich wollte niemanden anstecken, also bin ich hierher zurückgekommen“, lüge ich.
„Lügnerin! Sie hat herumgehurt. Ich habe gesehen, wie sie mit einem Typen in den Wald gegangen ist und dann schmutzig und mit Blättern bedeckt zurückkam“, höhnt Chava.
„Ist das wahr?“ fragt meine Mutter, ihr Gesicht vor Wut rot.
„Nein, ich habe nicht-“
„Du verdammte Schlampe!“, schreit meine Mutter und schlägt mir ins Gesicht. Noch bevor der Schmerz richtig einsetzt, folgt der nächste Schlag auf die andere Seite meines Gesichts. Und dann noch einer und noch einer, bis ich auf dem Boden liege und sie anflehe aufzuhören.
„Mami, nein, bitte!“ schreie ich, während noch mehr Schläge auf mich niederprasseln.
Als sie endlich erschöpft ist, hört sie auf und glättet ihre Kleidung. Dann befiehlt sie mir, das Amphitheater zu reinigen, bevor sie wütend davonstürmt.
Salvador starrt mich nur an, ein riesiges, böses Grinsen auf seinem Gesicht. Er spuckt mir ins Gesicht, bevor er sich umdreht und geht. Ich bleibe noch ein paar Minuten zusammengerollt auf dem Boden liegen und weine, bevor ich aufstehe und ins Badezimmer gehe, um den Schaden zu begutachten. Abgesehen von einer blutenden Nase, einer aufgeplatzten Lippe und einem geschwollenen, blauen Gesicht würde ich sagen, dass ich glimpflich davongekommen bin.
Ich säubere mein Blut und hole mir einen Eisbeutel für mein Gesicht aus der Küche. Nach ein paar Minuten setze ich meine Küchenarbeit fort und gehe dann zum Amphitheater.
Konfetti, Partyknaller und Leuchtstäbe liegen im Amphitheater und Rosengarten verstreut, und ich hole mir Müllsäcke, um das Chaos zu beseitigen. Ich pflücke Ballons von den Säulen und lasse sie einzeln mit einem Stift platzen. Nach einer Weile fange ich sogar an, es zu genießen, völlig in meine einfache Aufgabe vertieft und die Grausamkeit meiner Existenz vorübergehend vergessend. Wahrscheinlich habe ich deshalb nicht gehört, wie er sich mir von hinten nähert.
„Na, na, na. Wen haben wir denn da?“