KAPITEL EINS
KAPITEL EINS
Thorgrins Kopf schlug immer wieder gegen Steine und tauchte in den Schlamm während er hunderte von Metern den Hang hinunter rutschte als der Berg unter ihm zusammenbrach. Alles drehte sich, und so sehr er sich auch bemühte sich zu orientieren, es gelang ihm nicht. Aus dem Augenwinkel sah er, dass auch seine Brüder unkontrolliert den Berg hinunter rutschten und wie er verzweifelt nach Wurzeln, Steinen – irgendetwas – griffen, um den Sturz zu bremsen.
Thor wurde sich schmerzlich bewusst, dass er sich mit jedem Augenblick weiter und immer weiter vom Gipfel des Vulkans und damit von Guwayne fortbewegte. Er dachte an die Wilden dort oben, die sein Baby als Opfer darbringen wollten, und brannte vor Wut. Schreiend krallte er in den Schlamm, verzweifelt, zurück nach oben zu kommen. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte nur wenig tun. Thor war kaum in der Lage zu sehen oder zu atmen, ganz zu schweigen davon, sich vor den harten Aufschlägen auf die Felsen zu schützen, während er mit der Schlammlawine den Berg hinuntergerissen wurde. Es fühlte sich an, als ob das ganze Universum auf ihn herabstürzte.
Alles geschah so schnell, viel zu schnell, dass Thor es verarbeiten konnte, und als er einen Blick nach unten warf, sah er ein Feld zerklüfteter Felsen.
Er wusste, dass sie alle sterben müssten, wenn sie dort unten aufschlugen.
Thor schloss seine Augen und versuchte sich an seine Ausbildung zu erinnern. Argons Lehren und die Worte seiner Mutter klangen in seinen Ohren als er versuchte Ruhe mitten im Sturm zu finden, um die Kräfte, die in ihm ruhten zu rufen. Sein Leben blitzte vor seinen Augen auf. Er fragte sich, ob dies die letzte Prüfung war.
Bitte Gott, betete Thor, wenn es dich gibt, bitte rette mich. Lass nicht zu, dass ich auf diese Weise sterben muss. Erlaube mir, meine Macht zu rufen. Erlaube mir, meinen Sohn zu retten.
Während er die Worte dachte, spürte Thor, dass es eine Prüfung war, dass er gezwungen wurde, stärker denn je seinem Glauben zu vertrauen. Plötzlich spürte er eine Hitze in sich aufsteigen. Sie pulsierte durch seine Adern bis in seine Hände. Er überschritt die Grenzen seines Körpers, fand sich außerhalb seines Körpers wieder und beobachtete, wie er den Berg hinunter rutschte. Es war ein seltsames Gefühl, zu erkennen, nicht im eigenen Körper zu sein. Er war auf einer höheren Ebene.
Plötzlich fand sich Thor in seinem Körper wieder, hob seine Hände hoch über seinen Kopf, und sah, wie ein weißes Licht aus ihnen hervortrat. Er befahl über das Licht und schuf eine Blase um sich und seine Brüder herum. Im selben Augenblick trat hielt die Schlammlawine im Inneren der Blase inne, eine Welle von Erde, Wasser und Geröll staute sich außerhalb, und konnte nicht mehr zu ihnen gelangen. Thor Sturz war in einem seichten Gewässer geendet, und als er aufstand reichte ihm das Wasser bis zu den Knien.
Thor sah sich erstaunt um. Die Welle bewegte sich noch immer den Hang hinunter, doch nun viel langsamer. Er blickte den Berg hinauf, und sah die Schlammflut mitten in der Luft eingefroren, aufgehalten von seinem Schild aus Licht, gerade so, als ob sie bereit war, jeden Augenblick wieder über sie einzubrechen. Staunend bemerkte er, dass es sein Werk war.
„Irgendjemand tot?“, rief O’Connor.
Thor sah Reece, O’Connor, Conven, Matus, Elden und Indra. Alle waren sie reichlich durchgeschüttelt und mitgenommen, doch alle waren wundersamer Weise am Leben und kaum verletzt, und rappelten sich langsam auf.
Thor erinnerte sich, fuhr herum und blickte, mit nur einem Gedanken im Kopf, zum Gipfel des Berges auf: Guwayne.
„Wie sollen wir bloß da wieder hinauf…“, setzte Matus an.
Doch bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, spürte Thor plötzlich, dass sich etwas um seine Knöchel wickelte. Erschrocken blickte er hinab, und sah eine dicke, schleimige, muskulöse Kreatur, die sich immer wieder um seine Knöchel und Unterschenkel wand. Schockiert sah er in die Gesichter einer langen, aal-ähnlichen Kreatur mit zwei kleinen Köpfen, die ihn mit gebleckten Zungen anzischten. Die Haut der Kreatur begann, Thors Beine zu verbrennen.
Seine Reflexe übernahmen die Kontrolle, und er zog sein Schwert und schlug auf die Kreatur ein, genauso wie die anderen um ihn herum, die ebenfalls angegriffen wurden. Er nutzte sein Schwert umsichtig, um sich damit nicht selbst zu verletzen, und nachdem er einen der Köpfe abgeschlagen hatte, ließ der Aal los, und der schreckliche Schmerz an seinen Knöcheln klang ab. Zischend glitt der Aal zurück ins Wasser.
O’Connor fummelte mit seinem Bogen herum, und verfehlte, während Elden schrie, als er von drei Aal-Kreaturen gleichzeitig angegriffen wurde.
Thor stürmte vor, und schlug den Aal, der sich an O’Connors Bein hinaufschlang ab, während Indra auf Elden zu rannte und schrie: „Beweg dich nicht!“
Sie hob ihren Bogen, schoss in schneller Folge drei Pfeile ab und tötete jeden Aal mit einem perfekten Schuss ohne mehr als nur einen Kratzer bei Elden zu verursachen.
Er sah sie erschrocken an.
„Bist du wahnsinnig?“, schrie er. „Du hättest fast mein Bein getroffen!“
Indra lächelte ihn an.
„Aber eben nur fast, oder nicht?“, antwortete sie.
Thor hörte mehr Spritzen und bemerkte erschrocken Dutzende weiterer Aale, die sich zischend aus dem Wasser erhoben. Sie mussten schnell hier raus.
Thor fühlte sich ausgelaugt und erschöpft vom Gebrauch seiner Kräfte, und wusste, dass er nicht viel mehr tun konnte; er war noch nicht mächtig genug, um permanent seine Kräfte zu verwenden. Doch er wusste, dass er sie ein weiteres Mal zur Hilfe rufen musste, koste es, was es wolle. Wenn er es nicht tat, würden sie es niemals zurück schaffen, und hier in diesem Wasserloch mit den Aalen sterben – und sein Sohn hätte keine Chance auf Rettung mehr. Es könnte ihn all seine Kraft kosten, er könnte tagelang geschwächt sein, doch es war ihm egal. Er dachte an Guwayne, der hilflos dort oben der Gnade dieser Wilden ausgeliefert war, und wusste, dass er für ihn alles tun würde.
Als die Aale auf ihn zuglitten, schloss Thor seine Augen und hob seine Hände gen Himmel. „Im Namen des einen und allmächtigen Gottes“, sagte Thor laut. „Befehle ich dem Himmel sich zu öffnen! Schicke uns Wolken, um uns zu erheben!“
Thor sprach die Worte in einer tiefen, dunklen Stimme. Er fürchtete sich nicht mehr länger zu akzeptieren, dass er ein Druide war, und er spürte, wie seine Worte in seiner Brust und in der Luft vibrierten. Er fühlte eine unglaubliche Hitze in seiner Brust, und als er die Worte aussprach, wusste er, dass sie wahr werden würden.
Unter lautem Grollen begann der Himmel sich zu verändern. Tief violette Wolken zogen auf und wirbelten um sie herum. Eine Öffnung im Himmel tat sich auf, und plötzlich schoss ein rotes Licht herab, gefolgt von einem Wolkentrichter, der sich auf sie herabsenkte.
Binnen weniger Augenblicke wurden Thor und die anderen in einen Tornado hinaufgesaugt. Thor spürte die Feuchtigkeit der weichen Wolken, die um sie herum schwirrten. Er fühlte, wie er in Licht eingetaucht wurde, und Sekunden später wurde er in die Luft gehoben und fühlte sich eins mit dem Universum.
Thor spürte, wie er höher und immer höher gehoben wurde, entlang des Berges, über den Schlamm, über seinen Schild hinaus, bis hinauf auf den Berg. Binnen weniger Augenblicke brachte sie die Wolke auf den Gipfel des Vulkans, setzte sie sanft ab, und verschwand ebenso schnell, wie sie erschienen war.
Mit seinen Brüdern stand Thor da, und sah sich schnell auf dem Plateau um. Seine Gedanken konzentrierten sich auf die drei Wilden, die vor ihm standen – und das kleine Körbchen in ihren Armen am Rand des Vulkans.
Thor stieß einen Kampfschrei aus und stürzte sich auf sie. Der erste Wilde drehte sich erschrocken zu ihm um, doch Thor zögerte nicht und schlug ihm den Kopf ab.
Die anderen beiden sahen ihn schockiert ab, doch Thor rammte einem sein Schwert ins Herz, und schlug dem anderen mit dem Griff ins Gesicht, was ihn das Gleichgewicht verlieren und rückwärts in den Vulkan stürzen ließ.
Thor fuhr herum, und fing schnell das Körbchen auf, bevor sie es fallen lassen konnten. Er blickte hinein, sein Herz schlug voller Dankbarkeit, dass er es rechtzeitig aufgefangen hatte, und wollte gerade hineingreifen und Guwayne in seine Arme schlissen.
Doch als Thor in das Körbchen blickte, zerbrach seine Welt vor seinen Augen.
Es war leer.
Wie betäubt stand er da.
Er blickte in den Vulkan, und sah, wie in der Tiefe die Flammen aufloderten. In diesem Augenblick wusste er, dass sein Sohn tot war.
„NEIN!“, schrie er.
Thor ließ sich auf die Knie fallen und schrie gen Himmel, ein Schrei so laut, dass er von den Bergen zurückgeworfen wurde, der Schrei eines Mannes, der alles verloren hatte, wofür er lebte.
„GUWAYNE!“