KAPITEL ZWEI
Riley Paige sog die kühle Meeresluft tief ein.
Sie saß draußen auf der hohen Terrasse eines Häuschens am Meer wo sie, ihr Freund Blaine und ihre drei Teenage-Töchter bereits eine Woche verbracht hatten. In der Ferne konnte sie weitere Urlauber erkennen, die sich auf dem weiten sandigen Strand und im kühlen Wasser des Meeres vergnügten. Riley konnte April, Jilly und Crystal im seichten Wasser spielen sehen. Es gab zwar eine Strandwache mit Rettungsschwimmern vor Ort, aber trotzdem war Riley froh, dass sie einen guten Blick auf die Mädchen hatte.
Blaine hatte es sich auf einer Strandliege neben ihr bequem gemacht.
Er sagte: „Na, bist du froh, dass du meine Einladung angenommen und hierher gefahren bist?“
Riley drückte seine Hand und sagte: „Heilfroh, ich könnte mich glatt daran gewöhnen.“
„Das will ich doch schwer hoffen“, entgegnete Blaine und drückte ebenfalls ihre Hand. „Wann war das letzte Mal, dass du so einen Urlaub gemacht hast?“
Die Frage ließ Riley einen Moment lang stutzen.
„Ich habe wirklich keine Ahnung“, sagte sie. „Das muss Jahre her sein.“
„Dann haben wir ja einiges nachzuholen“, sagte Blaine.
Riley lächelte und dachte…
Ja, noch eine ganze weitere Woche genauer gesagt.
Sie hatten soweit allesamt eine tolle Zeit hier gehabt. Ein wohlhabender Freund von Blaine hatte ihm angeboten, sein Strandhaus in Sandbridge Beach zwei Augustwochen lang zu nutzen. Als Blaine sie eingeladen hatte mitzukommen, hatte Riley eingesehen, dass sie es Jilly und April schuldete mehr Zeit mit ihnen fernab der Arbeit zu verbringen.
Nun dachte sie allerdings…
Ich habe es auch mir selbst geschuldet.
Vielleicht, wenn sie diesen Sommer genug Übung bekäme, konnte sie sich sogar daran gewöhnen, sich ab und zu etwas zu gönnen.
Als sie hier angekommen waren, war Riley überrascht gewesen, wie elegant das Haus war. Es war ein schöner Bau, auf Pfählen gebaut, und von der großzügigen Terrasse aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Strand. Es gab sogar einen Außenpool hinten im Garten.
Sie waren am Tag von Aprils sechzehntem Geburtstag hier angekommen. Riley und die Mädchen hatten den Tag mit einer Shoppingtour und dem Besuch des Aquariums im nur wenige Kilometer entfernten Virginia Beach verbracht. Seither hatten sie diesen Ort nicht mehr verlassen, und die Mädchen schienen alles andere als gelangweilt zu sein.
Blaine ließ Rileys Hand sanft fallen und stand von seiner Liege auf.
Riley brummte: „Hey, wo willst du denn hin?“
„Abendessen kochen“, sagte Blaine. Dann fügte er mit einem frechen Grinsen hinzu: „Es sei denn, du würdest lieber auswärts essen.“
Riley lachte über den kleinen Witz. Blaine besaß ein hochklassiges Restaurant in Fredericksburg, und er selbst war ein Meisterkoch. Seitdem sie hier angekommen waren, hatte es keinen Abend gegeben, an dem er nicht für sie ein vorzügliches Gericht aus Meeresfrüchten gezaubert hatte.
„Das kommt nicht in Frage“, antwortete Riley. „Nun marsch in die Küche und mach dich an die Arbeit.“
„Ok, Boss“, erwiderte Blaine.
Er gab ihr einen flüchtigen Kuss und ging ins Haus. Riley schaute den Mädchen noch einige Zeit beim Herumtoben in den seichten Wellen zu. Doch dann wurde Riley von einer inneren Unruhe gepackt, sodass sie überlegte, ob sie sich nicht zu Blaine gesellen sollte, um ihm mit dem Abendessen zu helfen.
Erwartungsgemäß würde der sie wieder wegschicken und ihr sagen, dass sie das Kochen besser ihm überlassen solle.
Stattdessen angelte Riley also nach dem Krimi, den sie während ihrer Zeit hier zu lesen begonnen hatte. Ihr fehlte zwar die Konzentration, die verstrickte Handlung komplett zu verstehen, doch bereitete ihr das Lesen trotzdem viel Freude.
Kurze Zeit später zuckte sie zusammen und musste feststellen, dass sie kurz eingenickt war und das Buch dabei hatte fallen lassen –– wie lange hatte sie nur geschlafen?
Nicht dass das wichtig gewesen wäre.
Der Nachmittag neigte sich sanft dem Abend zu, und die Wellen wölbten sich weiter in die Höhe. Das Wasser sah ein wenig bedrohlicher aus, nun da die rastlose Flut immer tiefer in den Strand drang.
Obwohl es eine Strandwache gab, machte Riley sich Sorgen. Gerade wollte sie schon aufstehen und den Mädchen anzeigen, dass es Zeit war, aus dem Wasser zu kommen. Doch da erkannte sie, dass die Mädchen schon selbst zu diesem Schluss gekommen waren. Sie saßen bereits am Strand und bauten eine Sandburg.
Riley war erleichtert, dass ihre Töchter eine so vernünftige Entscheidung getroffen hatten. Der anbrechende Abend zeigte Riley, dass Menschen nicht zu jeder Tageszeit an das Meer gehörten. Einige Meeresbewohner waren zu grausamer Gewalt fähig –– Gewalt, die mindestens genauso barbarisch war wie die der menschlichen Monster, die Riley als FBI-Agentin jagte und gegen die sie kämpfte.
Riley zuckte zusammen als ihr diejenigen Monster einfielen, vor denen sie bereits ihre eigene Familie hatte beschützen müssen. Sie hatten List besessen. Und so wusste sie auch genau, dass es besser war, sich gar nicht erst mit den Monstern der Meerestiefen anzulegen.
Ihren letzten Fall hat Riley vor einem Monat abgeschlossen –– eine Serie schrecklicher Messermorde an wohlhabenden, mächtigen Männern, die in eleganten Häusern in Georgia gelebt hatten. Seither war ihr Job überraschend und ungewohnt ruhig gewesen –– fast schon langweilig.
Sie hatte Unterlagen sortiert und Akten auf den neusten Stand gebracht, Sitzungen besucht und andere Agenten in ihren Fällen beraten. Sie hatte es außerdem genossen, ein paar Vorlesungen vor Studenten an der FBI Akademie zu halten. Als erfahrene und beinahe schon gefeierte Agentin war Riley eine beliebte Dozentin, jedenfalls wenn sie Zeit hatte, Vorlesungen zu halten.
Die jungen, hoffnungsvollen Gesichter im Vorlesungssaal zu sehen, erinnerte sie an den früheren Idealismus ihrer eigenen Studententage an der Akademie. Damals war sie noch voller Hoffnung gewesen, die Welt einmal von Bösewichten befreien zu können. Sie war nun sehr viel weniger hoffnungsvoll, doch sie tat immer noch ihr Bestes.
Was sollte ich auch sonst tun? fragte sie sich.
Es war die einzige Arbeit, die sie kannte, und sie wusste, dass sie ihre Arbeit gut machte.
Sie hörte Blaines Stimme aus dem Inneren des Hauses rufen…
„Riley, Abendessen ist fertig. Ruf die Kinder rein.“
Riley stand auf und rief so laut sie konnte „Abendessen!“.
Die Mädchen ließen von der Sandburg ab, die mittlerweile recht kunstvoll und detailreich in den Himmel ragte, und liefen in Richtung des Hauses. Sie rannten unter der Terrasse, auf der Riley saß, hindurch gen Hinterhof, um sich neben dem Außenpool noch schnell abzuduschen.
Bevor sie selbst hineinging, blieb Riley noch kurz am Geländer der Terrasse stehen. Sie konnte sehen, dass die Sandburg der Mädchen bereits von der herannahenden Flut umspült wurde. Riley wurde ein klein wenig traurig. Doch dann ermahnte sie sich, dass das für Schlösser aus Sand nun einmal ganz normal war.
Als sie ein Kind gewesen war, hatte sie nur wenig Zeit am Strand verbracht. Ihre Kindheit hatte einfach anders ausgesehen. Doch während sie ihren Mädchen beim Spielen im Sand zugesehen hatte, war ihr auch bewusst geworden, dass das Wissen um die zeitliche Begrenztheit ihrer flüchtigen Bauwerke Teil ihrer Spielfreude war.
Eine gesunde Lektion des Lebens, dachte Riley.
Sie verweilte noch einige Momente und schaute zu, wie das Schloss langsam im Wasser verschwand. Als sie hörte, wie die drei Mädchen die Treppen hinaufgestürmt kamen, drehte sie sich um und lief über die Terrasse und um das Haus herum ihnen entgegen.
Eines der Mädchen war Crystal, Blaines sechzehnjährige Tochter, die Aprils beste Freundin war. Die dritte im Bunde war die vierzehnjährige Jilly, die Riley erst vor kurzem adoptiert hatte.
Als sich die drei kreischenden und kichernden Mädchen auf den Weg in ihr Schlafzimmer machten um sich dort vor dem Abendessen umzuziehen, bemerkte Riley einen kleinen Kratzer an Jillys Oberschenkel.
Sie hielt sie sanft fest und fragte: „Wie ist das passiert?“
Jilly warf einen Blick auf den Kratzer und sagte: „Weiß nicht. War wahrscheinlich unvorsichtig. Hab mich an einer Dorne oder so verletzt.“
Riley ging in die Hocke um den Kratzer genauer anzusehen. Er war überhaupt nicht schlimm und Schorf hatte sich bereits zu bilden begonnen. Trotzdem kam es Riley irgendwie seltsam vor. Sie konnte sich daran erinnern, dass Jilly am Tag ihrer Ankunft einen ähnlichen Kratzer an ihrem Arm gehabt hatte. Jilly hatte gesagt, dass Aprils Katze, Marbles, sie gekratzt hätte. April hatte das jedoch vehement abgestritten.
Jilly entzog sich der Umklammerung –– als würde sie versuchen, weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, dachte Riley.
„Es ist nichts Mom, ok?“
Riley sagte: „Es gibt einen Erste Hilfe Koffer im Bad. Desinfizier die Wunde bevor du zum Abendessen kommst.“
„Ok, werde ich machen“, sagte Jilly.
Riley schaute ihr nach, als sie April und Crystal ins Schlafzimmer nachrannte.
Nichts, worüber man sich Sorgen machen sollte, sagte Riley sich.
Aber es fiel ihr schwer, sich keine Sorgen zu machen. Jilly lebte erst seit Januar bei ihnen. Während eines Falls in Arizona hatte Riley Jilly unter schrecklichen Umständen kennengelernt und gerettet. Nach einigen persönlichen und juristischen Kämpfen hatte Riley Jilly letzten Monat endlich adoptieren dürfen. Und Jilly schien sehr glücklich mit ihrer neuen Familie zu sein.
Und außerdem…
Es ist bloß ein kleiner Kratzer –– nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.
Riley ging in die Küche um Blaine dabei zu helfen, den Tisch zu decken und das Abendessen zu servieren. Die Mädchen gesellten sich schon bald zu ihnen, und so setzten sie sich an den Tisch –– es gab köstliche Flunderfilets in Tartar Sauce. Alle waren glücklich und lachten. Als Blaine das Abendessen schließlich mit einem Käsekuchen zu seinem kulinarischen Höhepunkt führte, hatte sich längst ein warmes, wohliges Gefühl in Rileys Bauch breitgemacht.
Wir sind wie eine Familie, dachte sie.
Oder vielleicht war das nicht ganz richtig. Vielleicht, nur vielleicht…
Wir sind wirklich eine Familie.
Es war so lange her, dass Riley sich so gefühlt hatte.
Während sie ihr Dessert aufaß, dachte Riley erneut…
Ich könnte mich wirklich daran gewöhnen.
*
Nach dem Abendessen machten sich die Mädchen auf, vor dem Zubettgehen in ihrem Schlafzimmer noch ein paar Brettspiele zu spielen. Riley gesellte sich mit einem Glas Wein zu Blaine auf die Terrasse. Sie beobachtete, wie es um sie herum langsam Nacht wurde. Beide schwiegen eine lange Weile.
Riley genoß dieses Schweigen, und sie spürte, dass auch Blaine das tat.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, mit ihrem Ex-Mann Ryan viele dieser einfachen, angenehm ruhigen Momente geteilt zu haben. Sie hatten eigentlich immer entweder geredet oder einander absichtlich angeschwiegen. Und wenn sie nicht miteinander gesprochen hatten, hatten sie einfach in ihren eigenen Welten gelebt.
Doch Blaine fühlte sich gerade sehr wie ein Teil von Rileys Welt an…
Und was für eine schöne Welt das war.
Der Mond schien hell und als die Nacht dunkler wurde, kamen die Sterne heraus –– die Kraft ihres Glanzes so fernab der Stadt war kaum zu fassen. Das Licht des Mondes und der Sterne spiegelte sich in den dunklen Wellen des Golfs. Weit in der Ferne verschwamm der Horizont bis er endgültig verschwunden war, und es schien, dass Meer und Himmel eins waren.
Riley schloß die Augen und lauschte einen Moment lang dem Geräusch der Wellen.
Es gab überhaupt keine anderen Geräusche –– weder Stimmen, noch Fernseher, noch Verkehr.
Riley atmete glücklich lang und tief ein.
So als ob er auf ihren Seufzer antwortete, sagte Blaine…
„Riley, ich habe mich gefragt…“
Er hielt inne. Riley öffnete ihre Augen und schaute ihn an, ein klitzekleines Gefühl der Sorge im Blick.
Dann fuhr Blaine fort…
„Meinst Du, dass wir einander bereits eine lange Zeit kennen, oder doch eher eine kurze Weile?“
Riley lächelte. Es war eine interessante Frage. Sie kannten sich nun seit ungefähr einem Jahr und hatten vor ungefähr drei Monaten beschlossen, dass sie sich voll und ganz aufeinander einlassen wollten. In dieser Zeit waren sie einander sehr nahe gekommen.
Sowohl sie selbst, als auch ihre Familien waren durch Momente großer Gefahr gegangen, in denen Blaine unglaublichen Erfindungsreichtum und Mut bewiesen hatte.
Durch all dies hatte Riley ihm zunehmend ihr Vertrauen und ihre Bewunderung geschenkt.
„Das ist schwer zu sagen“, sagte sie. „Beides, nehme ich an. Es kommt mir wie eine lange Zeit vor, weil wir uns so nahe gekommen sind. Dann scheint es wieder erst so kurz, weil… naja, ich manchmal nicht glauben kann, wie schnell wir uns so nahe gekommen sind.“
Es stellte sich erneut eine Stille ein –– eine Stille, die Riley bewusst machte, dass Blaine sich genauso fühlte.
Dann sagte Blaine…
„Was meinst du… sollte als nächstes passieren?“
Riley schaute ihm in die Augen. Sein Blick war ernst und fragend.
Riley lächelte und sprach aus, was ihr als erstes in den Kopf kam. „Wieso, Blaine Hildreth –– machst Du mir gerade einen Antrag?“
Blaine lächelte und erwiderte: „Komm mit rein. Ich muss dir etwas zeigen.“