KAPITEL EINS
Das Morgenlicht spiegelte sich in den Wellen als Samantha Kuehling das Polizeiauto über den sandigen Strandweg steuerte.
Neben ihr auf dem Beifahrersitz saß ihr Partner Dominic Wolfe...
„Ich glaube es erst, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe.“
Sam antwortete nicht.
Weder sie noch Dominic wussten bislang, was genau dieses „es“ wirklich war.
Was „es“ auch immer genau sein mochte, sie war schon jetzt überzeugt, dass „es“ überaus ernst zu nehmen war.
Sie kannte den vierzehnjährigen Wyatt Hitt schon sein gesamtes Leben. Er konnte manchmal frech sein, wie jeder Junge in diesem Alter, doch er war kein Lügner. Und er hatte beinahe hysterisch geklungen, als er vorhin auf der Polizeistation angerufen hatte. Was er sagte, hatte nicht viel Sinn ergeben, doch er hatte eine Sache absolut klar gemacht...
Irgendetwas war mit Gareth Ogden passiert.
Irgendetwas Schlimmes.
Mehr wusste Sam nicht. Und auch Dominic nicht.
Als sie das Auto vor Gareths Haus geparkt hatte, sah sie, dass Wyatt auf der untersten Stufe der Treppe saß, die zur Veranda führte. Neben ihm lag ein Jutebeutel voll unausgetragener Zeitungen.
Als Sam und Dominic aus dem Auto gestiegen waren und zu ihm hinübergingen, schaute der flachsblonde Junge sie nicht einmal an. Er starrte immer nur geradeaus. Wyatts Gesicht war noch blasser als sonst, und er zitterte, obwohl es ein heißer Morgen war.
Es ist der Schock, begriff Sam.
Dominic sprach ihn an: „Erzähl uns, was passiert ist.“
Wyatt setzte sich auf und schaute Dominic mit leeren Augen an. Dann begann er zu stammeln. Er befand sich im Stimmbruch, was die Heiserkeit und den Schrecken in seiner Stimme noch verschlimmerte...
„Er –– er ist dort drin, im Haus. Mr. Ogden, meine ich.“
Dann starrte er wieder auf das Wasser des Golfs.
Sam und Dominic schauten einander an.
An Dominics besorgtem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass er den Jungen ernst nahm.
Beim Gedanken an das, was ihnen wahrscheinlich gleich bevorstand, lief Sam ein Schauer über den Rücken, und sie dachte...
Ich habe das untrügliche Gefühl, dass es gleich ziemlich unangenehm wird.
Sie und Dominic stiegen die Treppe hinauf und überquerten die Veranda. Als sie durch die Gittertür spähten, sahen sie Gareth Ogden.
Dominic wich entsetzt einige Schritte von der Tür zurück.
„Mein Gott!“, stieß er aus.
Ogden lag rücklings auf dem Boden, Augen und Mund waren weit aufgerissen. Auf seiner blutüberströmten Stirn klaffte eine offene Wunde.
Dominic drehte sich blitzartig um und schrie Wyatt die Treppen hinunter an...
„Was zur Hölle ist passiert? Was hast Du getan?“
Selbst ein wenig darüber erstaunt, dass sie Dominics Panik nicht teilte, berührte Sam ruhig seinen Arm und raunte ihm zu: „Er hat gar nichts getan, Dom. Er ist nur ein Kind. Er ist nur der Zeitungsträger.“
Dominic schüttelte ihre Hand ab und stürmte die Treppen hinunter. Er riss den armen Wyatt hoch.
„Sag schon!“, schrie Dominic. „Was hast Du getan? Wieso?“
Sam rannte die Treppe hinab ihm nach. Sie griff den hysterischen Cop bei den Armen und zerrte ihn gewaltsam auf den Rasen.
„Lass ihn in Ruhe, Dom“, sagte Sam. „Lass mich das machen, ok?“
Dominics Miene war jetzt genauso blass wie die Wyatts. Auch er zitterte nun.
Er nickte stumm. Sam ging zu Wyatt hinüber und half ihm, sich wieder aufzusetzen.
Sie hockte sich vor ihn und legte ihm ihre Hand auf die Schulter.
Sie sagte: „Es wird alles wieder gut, Wyatt. Hol einfach ein paar Mal tief Luft.“
Dem armen Wyatt gelang es nicht, ihren Anweisungen zu folgen. Stattdessen schien er gleichzeitig zu hyperventilieren und zu schluchzen.
Er schaffte es dennoch, einige Worte herauszupressen: „Ich –– ich wollte ihm nur die Zeitung bringen und dann habe ihn dort gefunden.“
Sam kniff die Augen zusammen und versuchte zu verstehen, was er sagte.
„Wieso bist du bis zur Veranda hinaufgestiegen?“, fragte sie. „Konntest du die Zeitung nicht einfach von hier aus hochwerfen?“
Wyatt zuckte mit den Schultern und sagte: „Er wird immer –– wurde immer wütend, wenn ich das tat. Er meinte immer, das Geräusch würde ihn aufwecken. Er sagte mir, ich solle auf die Veranda kommen und die Zeitung zwischen die Gitter- und die Eingangstür stecken. Sonst würde sie weggeweht, sagte er. Also bin ich immer da hochgestiegen, und heute wollte ich gerade die Gittertür öffnen, da sah ich –– “
Wyatt schluchzte und stöhnte bei der Erinnerung an das Gesehene. Dann fügte er hinzu...
„Dann habe ich euch von meinem Handy aus angerufen.“
Sam klopfte ihm sanft auf die Schulter.
„Es wird alles gut“, sagte sie. „Du hast alles richtig gemacht, indem du die Polizei gerufen hast. Warte jetzt hier.“
Wyatt warf einen Blick auf seine Tasche. „Aber diese Zeitungen –– ich muss sie heute unbedingt noch austragen.“
Armer Junge, dachte Sam.
Er war offensichtlich schrecklich durcheinander. Außerdem machte sich anscheinend eine Art fälschliches Schuldgefühl in ihm breit. Sam nahm an, dass es eine natürliche Reaktion in solch einer Situation war.
„Du musst gar nichts machen“, sagte sie. „Niemand wird irgendetwas sagen. Alles wird gut. Wie gesagt, wartest du jetzt einfach hier.“
Sie erhob sich und schaute sich nach Dominic um, der immer noch stumm und wie erstarrt im Vorgarten stand.
Sam wurde nun ein wenig wütend.
Hat er vergessen, dass er ein Cop ist?
Sie rief ihm zu: „Dom, komm schon. Wir müssen da rein und uns das genauer ansehen.“
Doch Dom rührte sich nicht. Er stand da, als hätte er seinen Gehörsinn eingebüßt und konnte nicht hören, dass sie mit ihm sprach.
Sie fuhr ihn in einem schärferen Ton an: „Dominic, komm mit verdammt!“
Dominic nickte stumm und trottete die Treppe hinauf über die Veranda ins Haus hinein ihr nach.
Gareth Ogden lag mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Boden. Er trug Shorts und ein T-Shirt. Die Wunde auf seiner Stirn war merkwürdig präzise und symmetrisch. Sam kniete sich zu ihm hinab, um sie sich genauer anzusehen.
Immer noch über ihr stehend stammelte Dominic: „F-Fass nichts an.“
Sam hätte ihn am liebsten gefragt, ob er sie für blöd hielt.
Welcher Cop wusste nicht, wie vorsichtig man an so einem Tatort sein musste?
Doch als sie sich zu Dominic umwandte, sah sie, dass er immer noch blass war und zitterte.
Was, wenn er ohnmächtig wird? dachte sie.
Sie zeigte auf einen Sessel in der Nähe und sagte: „Setz dich mal, Dom.“
Dominic tat stumm, wie ihm gesagt wurde.
Sam fragte sich, ob er jemals zuvor eine Leiche gesehen hatte.
Ihre eigene Erfahrung beschränkte sich auf die Beerdigungen ihrer Großeltern. Natürlich war das hier etwas ganz anderes. Doch trotzdem fühlte sich Sam merkwürdig ruhig, als sei sie Herr der Lage –– fast so, als hätte sie sich schon eine ganze Weile lang auf eine derartige Situation vorbereitet.
Dominic teilte dieses Gefühl offenbar nicht.
Sie schaute sich Ogdens Wunde genauer an. Sie ähnelte ein wenig dem riesigen Krater auf der Landstraße in der Nähe von Rushville von vor einem Jahr –– eine komische, klaffende Öffnung, die dort eigentlich nicht hingehörte.
Noch merkwürdiger war, dass die Haut um die Wunde herum unversehrt geblieben war –– vollkommen unbeschädigt sah sie so aus, als hätte sie sich nur so weit gedehnt, wie das Objekt, das sich in Ogdens Kopf gebohrt hatte, Platz gebraucht hatte.
Sam begriff sofort, um welches Objekt es sich dabei gehandelt haben musste.
Sie rief Dominic zu: „Jemand muss mit einem Hammer auf ihn eingeschlagen haben.“
Dominic, dem es offenbar wieder besser ging, erhob sich aus dem Sessel und kniete sich neben Sam, um die Leiche genauer betrachten zu können.
„Woher weißt du, dass es ein Hammer war?“, fragte er.
Obwohl Sam sehr wohl wusste, dass es wie ein perverser Witz klingen musste, antwortete sie...
„Ich kenn’ mich aus mit Werkzeug.“
Es stimmte. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie von ihrem Vater mehr über die richtige Handhabung verschiedener Werkzeuge erfahren, als die meisten Jungs der Stadt in ihrem gesamten Leben. Und die Einkerbung von Ogdens Wunde hatte exakt dieselbe Form, wie das runde Ende eines ganz normalen Hammers.
Die Wunde war zu groß um beispielsweise von einem Kugelhammer herzurühren.
Außerdem musste es ein größerer Hammer gewesen sein. Nur so konnte ein einziger Schlag so tödlich sein wie in diesem Fall.
Ein Klauenhammer oder ein Reißhammer, dachte sie. Etwas anderes kommt nicht in Frage.
Sie sagte zu Dominic: „Ich frage mich, wie der Mörder hier reingekommen ist.“
„Oh, das kann ich dir sagen“, erwiderte Dominic. „Ogden hat sich nicht einmal bemüht, daran zu denken, seine Tür abzuschließen. Selbst dann nicht, wenn er das Haus verlassen hat. Er ließ sie manchmal sogar nachts sperrangelweit offen stehen. Du weißt doch wie die Leute, die in der Strandstraße leben, drauf sind –– sie sind dumm und gutgläubig.“
Sam fand es traurig, die Worte „dumm“ und „gutgläubig“ auf diese Weise im selben Satz zu hören.
Wieso sollten die Leute in einer Stadt wie Rushville ihre Häuser auch zusperren?
Seit Jahren hatte es keine Gewaltverbrechen gegeben.
Tja, so gutgläubig werden sie nun wohl nicht mehr sein, dachte sie sich.
Sam sagte: „Die Frage ist jetzt, wer es war.“
Dominic zuckte mit den Schultern und sagte: „Wer auch immer es war, Ogden sieht auf jeden Fall so aus, als wäre er mächtig überrascht gewesen.“
Sam stimmte ihm schweigend zu, denn der Gesichtsausdruck der Leiche ließ keinen anderen Schluss zu.
Dominic fuhr fort: „Es muss jemand vollkommen fremdes gewesen sein, niemand aus der Stadt. Ich meine, Ogden war gemein, aber niemand in der Stadt hasste ihn so sehr. Außerdem hat niemand hier Mumm genug, einen solchen Mord zu begehen. Es war wahrscheinlich jemand auf der Durchreise. Wir werden viel Glück brauchen, den zu erwischen.“
Dieser Gedanke bereitete Sam Bauchschmerzen.
Sie konnten nicht zulassen, dass in Rushville so etwas einfach passierte.
Das konnten sie einfach nicht.
Außerdem hatte sie das starke Gefühl, dass Dominic Unrecht hatte.
Der Mörder war kein bloßer Durchreisender.
Ogden war von jemandem umgebracht worden, der hier in ihrer Mitte lebte.
Außerdem wusste Sam, dass es nicht das erste Mal war, dass so etwas hier in Rushville geschah.
Aber sie wusste auch, dass jetzt nicht die richtige Zeit war, um Vermutungen anzustellen.
Sie sagte zu Dominic: „Du rufst Chief Crane an. Ich rufe den Bezirksgerichtsmediziner an.“
Dominic nickte und zog sein Handy hervor.
Bevor sie nach ihrem eigenen Handy griff, wischte Sam sich den Schweiß von der Stirn.
Es war schon jetzt ein brütend heißer Tag…
Und er würde noch sehr viel heißer werden.