Kapitel 1-1

1651 Words
Kapitel 1 Bailey Es gibt einen Grund, warum ich nicht mehr Auto fahre. Einen sehr guten Grund. Aber Momente wie dieser lassen mich wünschen, ich würde nicht jedes Mal zu einem hyperventilierenden Spasti mutieren, wenn ich auch nur daran denke, mich hinters Steuer zu setzen. Nicht Auto zu fahren, bedeutet, dass ich auf die örtliche Wolf Ridge High anstatt nach Cave Hills gehe. Cave Hills, die bestbewertete Traumprivatschule, die einen aufs College vorbereitet. Cave Hills, die Schule, die ich eigentlich besuchen sollte. Die Schule, die zu besuchen ich verdiene. Die Schule, die fünfzehn Meilen entfernt liegt. Ohne ein Auto könnten es genauso gut hundert sein. Und in diesem speziellen Moment bedeutet kein Auto, dass ich geliefert bin. Denn der Bus ist gerade an meinem Haus vorbeigefahren. Ich höre das ktschh, als er an meiner Straße stoppt. Zehn Minuten zu früh! Nachdem ich meine Büchertasche vom Sofa gerissen habe, stürze ich aus der Haustür mit ungeputzten Zähnen und nicht geschnürten Sugar Skull Chucks, aber es ist viel zu spät. „Warte!“ Ich winke und verfolge den Bus. „So warten Sie doch!“ Ich jogge ihm einen halben Block hinterher, wobei ich in meinen lockeren Sneakers über den Gehweg stolpere und hüpfe. Der Fahrer muss mich doch sehen, selbst wenn er mich nicht hören kann. Die Schüler im Bus sehen mich definitiv. Sie starren mich durch die Fenster an. Sie lachen nicht. Sie deuten nicht. Ich bin ein Fisch in einem Aquarium. Amüsiere sie milde, aber das schlechte Gewissen wird sie nicht plagen, wenn sie mich einer Woche das Klo runterspülen. Rassistische Wichser. Man sollte nicht meinen, dass ich als Hispanoamerikanerin in Arizona ausgeschlossen werden würde. Verflucht. Ich bücke mich, um meine Schuhe zu binden und schlinge mir meinen Rucksack über die Schulter. Er rutscht nach vorne und knallt mir gegen den Hinterkopf. Ich schnaube und stehe auf. Nebenan steigen das dynamische Bruder-Schwester-Duo, Cole und Casey Muchmore, in Coles größtenteils restaurierten, klassischen 1950er Ford Truck. Falls sie Zeugen meines frühmorgendlichen Sprints geworden sind, so lassen sie es sich nicht anmerken. Ihr Dad hingegen sitzt mit einem Bier in der Hand am Fenster und macht keinen Hehl daraus, dass er mich beobachtet. Das Fenster, das vorne zum Haus hinaus zeigt, ist der Ort, an dem er sich ständig aufhält, wenn er nicht gerade herummarschiert und seine Kinder so laut anbrüllt, dass es die gesamte Nachbarschaft hören kann. Jetzt könnte ich schwören, dass er lächelt. Als hätte es ihn köstlich amüsiert, mir dabei zuzusehen, wie ich dem dämlichen Bus hinterherjagte. Was für ein Arsch. Wie der Vater so der Sohn, schätze ich mal. Cole ist so cool wie sein Truck und sieht sogar noch besser aus. Und er weiß das definitiv. Er sonnt sich darin. Er regiert die Wolf Ridge High, als würde seine Scheiße nach Rosen duften und der Gestank der armen Leute nicht überall an ihm haften. Als wäre die abgetragene, zerrissene Jeans, in der er mehr oder weniger lebt, nicht voller Öl und Schmiere von seinen Autoreparaturen. Nein, Cole Muchmore braucht keine hübschen Klamotten, ein schickes Auto oder sonst irgendetwas, das man sich von Geld kaufen kann. Er hat etwas, das für sehr viel wertvoller erachtet wird. Er besitzt den Status eines verehrten Starquarterbacks. Und auf der Wolf Ridge High hebt ihn das irgendwo in nächste Nähe zu einem Gott. Ich beäuge meine letzte Möglichkeit, rechtzeitig zur Schule zu kommen, und wäge ab, wie groß die Chancen wohl stehen, dass ich bei ihnen mitfahren darf. Anders als der Rest der Schüler auf der Wolf Ridge High tun die Muchmores nicht nur so, als würden sie mich nicht sehen. Sie schießen finstere Blicke in meine Richtung ab. Sogar hasserfüllte Blicke. Ich lernte sie an dem Tag kennen, an dem ich einzog – ich ging rüber zu ihnen und stellte mich vor, weil sie zum Gaffen herausgekommen waren. Sie antworteten mir kaum und glotzten mich an, als hätte ich zwei Köpfe. Tay Swift hatte freundlichere Interaktionen mit Kanye als ich mit den Muchmores an jenem Tag. Doch in diesem Moment brauche ich eine Mitfahrgelegenheit zur Schule. Selbst wenn ich laufe, werde ich zu spät zu meinem Spanischtest kommen und meine Mom anzurufen, kommt nicht infrage. Wenn sie von der Arbeit wegmuss, um mich zu fahren, werde ich mir definitiv eine Predigt darüber anhören dürfen, dass ich wieder zu fahren anfangen muss. Außerdem hat sie mit ihrem neuen Job sowieso viel zu viel um die Ohren. Ich zwinge meine Sozialphobie in den Hintergrund, jogge den Gehweg hinab zum Bordstein und winke Cole herbei. Er wird langsamer, aber stoppt nicht. Seine Schwester Casey, eine Sophomore mit einem permanenten Zickengesicht, rollt das Fenster runter. Cole beugt sich über sie. Seine dunklen Haare sind zerzaust, seine vollen Lippen zu einem schiefen Grinsen gekräuselt. „Was ist los, Pink, haste den Bus verpasst?“ Pink. Er bezieht sich natürlich auf die hellpinke Strähne, die meine dunklen Haare in der Nähe meiner Schläfe durchzieht. Der Spitzname und meine unglückliche körperliche Reaktion auf Cole Muchmores Nähe werfen mich eine Sekunde aus der Bahn. Mitfahrgelegenheit. Ich brauche eine Mitfahrgelegenheit. Ich stelle mich auf meine Zehenspitzen, um in den Truck blicken zu können, und schaue Cole in die Augen. „Ja, könnte ich zufällig bei euch mitfahren?“ Ich verfluche mich, dass ich wie eine schüchterne Maus klinge. Er zuckt mit den Schultern und einer pseudo-reumütigen Miene. „Sorry, Pink. Ich würde es dir ja anbieten, aber es gibt keinen Platz mehr.“ Bullshit. Zwischen den zwei Geschwistern ist eindeutig genügend Platz und er führt sich einfach nur wie ein Arschloch auf. Ich höre sein tiefes Glucksen, während seine Schwester ihr Fenster hochrollt. Mein Gesicht läuft knallrot an, als sie wegfahren, und ein dicker Kloß bildet sich in meiner Kehle, während Hitze in meinen Augen brennt. Weine nicht. Nicht deswegen. Spar dir deine Tränen für etwas auf, das Bedeutung hat. Wie Catrina. Wie die anderen Freunde, die ich in Golden zurückließ. Die kleine Aufmunterungsrede funktioniert nicht. Zwei heiße Spuren bahnen sich einen Weg über mein Gesicht, als ich losziehe und im Eilschritt in Richtung Schule laufe. Ich hasse Wolf Ridge. Das tue ich wirklich. Ich gelange zur ersten großen Kreuzung und überprüfe die Uhrzeit auf meinem Handy, während ich an einer Ampel warte. Oh Mann, ich werde definitiv zu spät kommen. „Hey!“ Ein alter Subaru fährt an den Bordstein und die hinter Tür schwingt auf. „Hast du auch den Bus verpasst?“, ruft ein dürres Mädchen mit wasserstoffblonden Haaren, die in alle Richtungen abstehen. Ich habe sie in meinem Bus und in der Schule gesehen. Sie ist eine Sophomore, weshalb wir keine gemeinsamen Kurse haben, aber sie ist mir bekannt. „Ja.“ Ich spanne mich an und bereite mich innerlich auf die nächste Beleidigung vor. „Steig ein. Meine Mom fährt uns.“ Ihre Mom winkt ungeduldig. Sie hat gebleichtes, strähniges Haar und die vorzeitig gealterte Haut von jemandem, der zu viel trinkt und raucht. Das Auto stinkt nach Zigaretten. Erleichterung und Dankbarkeit überschwemmen mich trotzdem wie eine Flutwelle, als ich mich auf die Rückbank schiebe. „Danke. Ich hatte Angst, dass ich zu spät kommen würde.“ „Ich hab die Schule schon angerufen, um mich über diesen bescheuerten Busfahrer zu beschweren“, schimpft ihre Mom vom Fahrersitz. „Das ist doch Schwachsinn. Die können nicht einfach auftauchen, wenn ihnen gerade danach ist. Sie sollen sich an einen Zeitplan halten!“ Ich murmle zustimmend. „Ich bin Rayne.“ Das Mädchen dreht sich auf seinem Platz, um mich zu mustern. Ihre blauen Augen wirken riesig in ihrem kleinen, herzförmigen Gesicht und ihre Nase ist gepierct. Ich beschließe sofort, dass ich sie mag. „Bailey.“ „Ich weiß“, sagt sie, womit sie meinen Eindruck, dass ich auf der Wolf Ridge High nicht wirklich unsichtbar bin, bestärkt. Ich werde aktiv gemieden. Mein Magen verkrampft sich. „Danke, dass ihr angehalten habt“, erwidere ich. „Cole Muchmore hat sich geweigert, mich mitzunehmen.“ Ich weiß nicht, warum ich das sage. Ich bin eigentlich niemand, der sich beschwert, und normalerweise behalte ich meine Gedanken für mich, aber allmählich will ich einfach nur noch mit jemandem reden. Rayne verdreht die Augen. „Cole ist ein Alpha-loch wie all die anderen Footballer.“ Ich lache schnaubend. „Da kann ich dir nicht widersprechen.“ Alpha-loch. Das ist die perfekte Beschreibung für ihn. Nun, er kann sich gern ins Knie ficken. Ich werde wegen seinem Mangel an Höflichkeit nicht heulen. Kerle wie er bewirken absolut nichts bei mir. Wir erreichen die Schule pünktlich und steigen aus dem Subaru. Die Schüler, die an der Bushaltestelle aussteigen, starren uns an. „Was?“, verlange ich laut zu wissen. Ich schwöre, man könnte meinen, ich wäre eine Art grünhäutiges Alien aus dem Weltall. Rayne zeigt ihnen den Mittelfinger und packt meinen Ellbogen. „Ignoriere sie. Sie machen alle, was die Alpha-löcher sagen, wie beschissene Minions.“ „Warte… was sagen die Alpha-löcher?“ Rayne wendet den Blick ab und Röte überzieht ihre blassen Wangen. „Nichts. Mach dir deswegen keinen Kopf. Das ist auch unsere Schule.“ Huh. Was auch immer das heißen soll. Ich lasse das Thema fallen. Ich muss nicht unbedingt die einzige Person vergraulen, die gewillt ist, nett zu mir zu sein. „Danke, dass du angehalten hast. Und mit mir geredet hast. Ich war ehrlich dabei, den Verstand zu verlieren. Ich dachte schon, dass vielleicht alle Schüler hier Roboter sind wie in diesem alten Film, den ich wegen meiner Mom anschauen musste und in dem die Männer alle ihre Ehefrauen umbrachten und sie mit Robotern ersetzten.“ Auf Raynes schelmischem Gesicht zeigt sich ein breites Lächeln. Sie hält ihre Hand hoch, als würde sie einen Eid ablegen. „Kein Roboter.“ Sie deutet mit dem Kinn auf all die Schüler, die in die Schule strömen und die Hälse recken, um uns anzuglotzen. „Sie könnten allerdings welche sein.“
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