Kapitel 2-1

2034 Words
2 NORTH „North, meine Liebe. Was ist mit der Beerdigung?“ Der Pfarrer musste recht zuversichtlich sein, dass seine Seele in den Himmel kommen würde, denn er ging nicht mit den anderen Stadtbewohnern. Wie Jed angemerkt hatte, hatten sie mein Essen gegessen und meinen Alkohol getrunken, nur um das Innere des Hauses zu sehen. Meine dreiste Tat mit der noch warmen Flinte würde sich zweifelsohne innerhalb einer Stunde in der Stadt herumsprechen. Niemand interessierte sich für meinen Vater, denn er hatte sich auch für niemand anderen als sich selbst interessiert. Einschließlich mir. Ich war nicht traurig, dass er tot war. Ganz im Gegenteil. Ich hasste den Mann. Jed Barnett hier zu haben, war eine Erinnerung daran. An das, was Macon getan hatte, als ich siebzehn Jahre alt gewesen war. Wie er mich benutzt hatte. Er hatte behauptet, er wolle warten, bis ich achtzehn sei, um endlich eines seiner Kinder in der Firma arbeiten zu lassen und mich in seine Welt einzuführen, aber der Moment sei einfach zu gut gewesen, um ihn ungenutzt verstreichen zu lassen. Ich holte tief Luft in der Hoffnung, dass die Kopfschmerzen am Ansatz meines Schädels zu pochen aufhören würden. Der Pfarrer wartete auf meine Antwort. Er musste in seinem schwarzen Outfit und engen weißen Kragen schwitzen. Dennoch wirkte er vollkommen gelassen, als würde es jeden Tag passieren, dass Schrotflinten auf Totenwachen abgefeuert wurden. Er machte sich größere Sorgen darum, den Verstorbenen zu beerdigen. Ich wollte die Leiche meines Vaters genauso sehr aus dem Haus und unter der Erde haben. Vermutlich mehr als er. „Drei Uhr wie geplant“, versicherte ich ihm. Das war der einzige Termin in meinem Kalender, den ich nicht vergessen würde. Ich verlagerte die Flinte auf meinen anderen Arm, wobei der Lauf auf den Boden zeigte. Meine Schulter war ein wenig wund von dem Rückstoß, aber wenigstens hatte ich ihn gespürt. Ich hatte etwas gespürt. Abgesehen von Erschöpfung. Stress. Wut. Ich war schon so lange Zeit verbittert, dass ich vergessen hatte, wie sich Süße anfühlte. Meine Lippen kribbelten noch immer davon. Der Pfarrer blickte über seine Schulter und spähte zu dem geschlossenen Sarg, als würde Macon jeden Moment den Deckel nach oben stemmen und sich aufregen, weil seine Totenwache früher geendet hatte. „Was zum Teu– Henker war das?“, brüllte East, der von der Küche im hinteren Teil des Hauses durch den Flur zu uns lief. Er warf einen Blick auf den Pfarrer und lächelte zerknirscht. „Entschuldigen Sie, Vater.“ „Es wurde Zeit, dass die Party endete“, informierte ich ihn. East schaute aus der geöffneten Tür auf den langsamen Strom Autos, die die Einfahrt hinabfuhren. „Daran hätte ich denken sollen“, grummelte er, dann zuckte er mit den Achseln. „Möchtest du ein Sandwich?“ Ich schüttelte den Kopf und beäugte das riesige Sandwich, das er in seiner Hand hielt. Im anderen Raum stand ein Tisch voller Finger Food. Ein riesiges Sandwich war das Letzte, das ich wollte. Wie irgendjemand etwas essen konnte, während eine Leiche aufgebahrt war, überstieg meinen Horizont. Das war alles Teil seines letzten Willens. Macon, der ein letztes Mal das Zentrum der Aufmerksamkeit war. Ich wusste nicht, ob mir die Anwälte auf die Nerven gehen würden, weil ich dieses Event vorzeitig beendet hatte. „Sie sollten sich entspannen, meine Liebe“, riet mir der Pfarrer. „Es ist eine schwierige Zeit. Wir sehen uns um drei.“ Ich nickte ihm zu und scheuchte ihn zu der geöffneten Eingangstür, die ich hinter ihm schloss. „Ja, Sis“, stimmte East zu und klopfte mir auf die Schulter, ehe er sich umdrehte und zurück zur Küche ging. „Du solltest dich entspannen. Auch wenn du gar nicht weißt, wie das geht.“ Ich machte ein finsteres Gesicht. Ich hatte mit Macon eine Milliarden-Dollar-Firma geführt, was etwas ganz anderes war, als wie er Aufsätze als Universitätsprofessor zu benoten. Er lebte ihn Bozeman und kam selten zur Ranch zurück, obwohl er im Sommer frei hatte. Ich machte ihm daraus keinen Vorwurf. Ich wünschte, ich wäre an seiner Stelle und würde diesen sorgenfreien Lebensstil führen. Aber ich war dazu erzogen worden, den Namen weiterzuführen. Das Geschäft zu leiten. Er hatte keine Ahnung. Keinen blassen Schimmer, womit ich mich befassen musste. Was ich durchgemacht hatte. Wozu ich eingewilligt hatte. Was ich überlebt hatte. Ich hatte ihn und meine anderen zwei Brüder von allem abgeschirmt und ihnen die Freiheit geschenkt, zu werden, was sie wollten. Ich konnte mich nicht entspannen, denn wenn ich das tat, würden mir die Konsequenzen nicht gefallen. Ich fing Jeds Blick auf, als East in Richtung Küche verschwand. „Sogar der Pfarrer hat dir geraten, dich zu entspannen“, sagte Jed schließlich. „Orgasmen, die von Gott abgesegnet wurden.“ Er kam mit diesen langbeinigen Schritten zu mir. „Nicht einmal du kannst dagegen etwas sagen“, fügte er hinzu. Ich verdrehte die Augen, während ich um ihn trat und es ihm überließ, mir zu folgen. Oder nicht. Er tat es natürlich und wir gingen zurück zur Bibliothek. Ich hätte schlechter von ihm gedacht, wenn er jetzt aufgegeben hätte. Ich legte die Flinte wieder auf ihre Halterungen, dann trat ich um den Schreibtisch meines Vaters und lehnte mich dagegen, während Jed die Tür hinter sich schloss. Gott, ich fühlte mich noch immer so zu ihm hingezogen wie damals, als ich siebzehn Jahre alt gewesen war. Zum ersten Mal verspürte ich Anflüge von Verlangen. Klar, ich hatte seinen Bruder Jock geküsst, meinen Freund im Senior-Jahr der Highschool. Wir hatten miteinander rumgemacht, aber er hatte mich nicht so sehr zum Leben erweckt, wie es ein Blick auf den siebenundzwanzigjährigen Jed geschafft hatte. Er war jetzt älter, um die vierzig. Seine Haare waren fast schwarz, aber als er näher kam, konnte ich silberne Strähnen an seinen Schläfen sehen. Das kantige Kiefer, von dem ich glaubte, man könnte Messer daran schleifen, war jetzt von einem gestutzten Bart bedeckt. Über ein Meter achtzig perfekten Körpers. Seine Jeans schmiegte sich an seine dicken Schenkel. Seine Unterarme waren muskulös, gebräunt und mit dunklen Haaren gesprenkelt. Er war fit, als würde er Strohballen werfen oder Marathons laufen. Oder beides. Ich hasste es, dass Männer mit dem Alter besser aussahen, während Frauen alt wurden. Auch Jed war mit dem Alter noch attraktiver geworden und in seinem Fall störte es mich nicht. Vielleicht lag es daran, dass ich ihn jetzt durch andere Augen als die eines Teenagers betrachtete. Ich sah ihn nun auf völlig andere Weise. Ich erwartete keine Regenbögen und Märchen oder Liebe mehr. Nur die emotionslose Erleichterung, die mir ein heißer Kerl schenken wollte. Und er war heiß. Dann würde ich zu meinem regulären, durchgeplanten Leben zurückkehren. Der Tag, an dem Jock mir seinen älteren Bruder bei ihrer Grillparty gezeigt hatte, war einer der letzten Tage, an denen ich naiv gewesen war. An jenem Juliwochenende war ich erwachsen geworden, nachdem ich von Macons Plänen erfahren hatte, mich bei einem Geschäftsabschluss als Zugabe zu benutzen. Daraufhin hatte ich angefangen, diesen Schutzwall der Unnahbarkeit zu bauen, dem ich seitdem Backsteine hinzugefügt hatte. Ich mochte meinen Rock hochheben, aber ich senkte meine Schutzschilde für keinen Mann. Ich kannte keinen anderen Weg. Macon war seit drei Tagen tot. Die Abläufe im Büro hatten sich noch nicht geändert, aber sie würden sich ändern, wenn ich zurückkehrte. Ich war jetzt CEO und es gab nichts mehr, das mir mein Vater antun konnte. Mir gehörten bereits Firmenanteile und in dem Testament war sein Anteil zwischen seinen Kindern aufgeteilt worden, wobei mir der Großteil der Anteile vermacht worden war. South, East und West wollten nichts mit der Firma zu tun haben. Ich konnte die Firma endlich auf die Weise leiten, die ich wollte und wie es meine Mutter gewollt hatte. So, wie es hätte sein sollen, da es das Geld ihrer Familie gewesen war, das die Firma gestartet hatte. Macon war nur der Angestellte gewesen, der sich mit seinem Charme einen Weg in ihr Bett erschlichen hatte, um mich zu zeugen. Er hatte sie in einer lieblosen Ehe gefangen gehalten, in der sie irgendwie noch zwei weitere Male s*x gehabt hatten, um meine Brüder zu zeugen. Bei einer dieser unterhaltsamen Gelegenheiten hatten sie Zwillinge gemacht. Oder vielleicht waren sie gar nicht seine Kinder, wie ich vermutete. „Du bist in deinem Kopf, Prinzessin.“ Jed riss mich aus meinen Gedanken. Es war ironisch, dass er derjenige war, der sich mir anbot. Seine Dienste. Ich hatte oft an ihn gedacht, wenn ich allein gewesen war. Hatte mir die jüngere Version von ihm im Kopf vorgestellt, wenn ich an etwas denken wollte, das von Macon unberührt, unbeschmutzt war. Wenn ich etwas zum Träumen gebraucht hatte. Und jetzt war er hier. Damals war ich natürlich zu jung für ihn gewesen. Warum hätte Jed ein siebzehnjähriges Mädchen gewollt? Oder auch nur eines bemerkt, das seinen kleinen Bruder gedatet hatte? Das hatte er nicht. Tatsächlich hatte ich ihn seitdem nicht mehr gesehen. Bis jetzt. Jetzt. Ich seufzte, während ich jeden Zentimeter von ihm musterte. Obwohl er vor all diesen Jahren schon ein erwachsener Mann gewesen war, wirkte er jetzt noch erwachsener. Er war kräftiger. Muskulöser. Intensiver. Konzentrierter. Das weiße Hemd mit den Druckknöpfen passte ihm wie angegossen und Gott… sogar seine Hände waren heiß. Ich hatte mich damals nicht geirrt, dass er heiß war, und jetzt war er sogar noch heißer. Anders als vor all diesen Jahren, als er mich wahrscheinlich nicht gesehen hatte, sah er mich jetzt. Sein whiskyfarbiger Blick betrachtete mich forschend. Wanderte über mich. War dunkel. Als hätte ihm das Leben Mist in den Weg geworfen und er hätte sich damit auseinandergesetzt. Überlebt. Ich fragte mich, was das wohl gewesen war. Was ihm wehgetan hatte. Ob er mir wehtun würde. Nein. Das würde er nicht tun. Er konnte nicht. Das hier war ein Austausch. Nicht einmal ein fairer. Ich ging nicht für jeden auf die Knie. Warum tat ich das? Warum zog ich Jeds dreistes Angebot überhaupt in Erwägung? Weil ich zum ersten Mal seit… jemals nicht von meinem Vater kontrolliert wurde. Ich musste nicht über die Konsequenzen nachdenken oder wie meine Taten gegen mich verwendet werden könnten. Dass er nicht nur mir übel mitspielen könnte, sondern auch Jed. Deswegen hatte ich den Sarg geschlossen, um mir zu beweisen, dass er nicht aus diesem Ding rauskommen würde und schon bald tief unter der Erde läge. Wenn ich wollte, dass mich Jed Barnett zum Orgasmus brachte, dann konnte ich das haben. Keine Verpflichtungen. Klar, es war verrückt und vielleicht auch dumm, aber im Moment war es mir erlaubt, beides zu sein. Er trat näher zu mir, so nahe, dass ich seine Hitze spüren konnte. Seine Hand hob sich und streichelte erneut meine Wange, wobei seine Augen der Bewegung folgten. Ich versuchte, nicht zurückzuweichen. Weigerte mich, das zu tun. Ich würde mir nicht anmerken lassen, dass er mich nervös machte und ich vor langer Zeit über das hier nachgedacht und auf seine Berührung gehofft hatte. „Ich schlafe nicht mit dir“, verkündete ich. Es war eine Sache, das hier zu tun, eine ganz andere, so weit zu gehen. Ich… konnte das einfach nicht. Aus dieser Nähe konnte ich sehen, wie sich sein Mundwinkel nach oben bog. Ich nahm seinen Geruch wahr. Wintergrün und Kiefernwälder. „Wer hat hier irgendetwas von Schlafen gesagt?“, murmelte er mit gesenkter Stimme, als befänden wir uns in einer Blase, in der es nur uns beide gab. „Ich werde deinen Schwanz nicht reiten“, stellte ich klar. „Machst du immer die Regeln?“ Seine Finger glitten durch meine Haare und steckten die Strähnen hinter mein Ohr. Seine Berührung war zärtlich. Ich erwartete, dass er uns umdrehen, mich über den Schreibtisch meines Vaters beugen und Wer ist jetzt dein Daddy? sagen würde. „Immer“, blaffte ich und reckte das Kinn. „Wir tun das nicht hier“, sagte er und sah sich um. „Doch, das tun wir.“ „Dein Schlafzimmer sollte mehr Privatsphäre bieten.“ Ich wollte keine Erinnerungen an Jed Barnett in meinem Zimmer haben. Ich würde in eines der anderen neun Schlafzimmer umsiedeln müssen, weil ich sonst den Rest meines Lebens mit der Erinnerung daran verbringen würde, was ich nicht haben konnte.
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