Sie sahen ihn neugierig an, als wäre er ein Zirkuspferd.
„Ich wusste gar nicht, dass ich noch einen bekomme“, sagte der Lehrer schließlich abschätzig. „Wäre schön gewesen, wenn mir das jemand gesagt hätte.“ Sein mattes Seufzen erinnerte Oliver an seinen Vater. „Dann such dir mal einen Platz.“
Eilig ging Oliver zu einem freien Platz. Er versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, um sich vor den Blicken der anderen zu verstecken. Aber natürlich konnte er das nicht. Als Neuankömmling war er die Attraktion des Tages.
Nachdem sich alle Stühle gefüllt hatten, begann der Lehrer mit dem Unterricht.
„Wir machen an der Stelle weiter, an der wir beim letzten Mal aufgehört haben“, sagte er. „Grammatikregeln. Wer kann Oskar erklären, worum es zuletzt ging?“
Alle begannen über zu lachen.
Oliver spürte, wie sich sein Hals zuschnürte. „Entschuldigung, mein Name ist Oliver, nicht Oskar.“
Der Lehrer sah ihn wütend an. Oliver sah sofort, dass er nicht der Typ Erwachsener war, der sich von einem Kind verbessern ließ.
„Wenn du sechsundsechzig Jahre lang mit einem Namen wie Portendorfer gelebt hast“, hob er an, „hast du dich hoffentlich daran gewöhnt, dass die Leute dich mit dem falschen Namen ansprechen. Portendoofer, Portenworten, ich kenne sie alle. Also, Oskar, ich schlage vor, du findest dich einfach direkt damit ab.“
Oliver lief rot an und zog den Kopf ein. Auch die anderen Kinder schienen über diesen Ausbruch erschrocken zu sein. Keiner lachte. Mr. Portendorfers Reaktion hätte jedes Kind eingeschüchtert, aber bei dem Neuling hatte es doppelt gesessen. Nach der schlecht gelaunten Sekretärin und dem cholerischen Lehrer fragte sich Oliver, ob es nicht wenigstens eine freundliche Person an dieser Schule gab.
Mr. Portendorfer begann seinen Vortrag über Pronomen und Oliver wagte kaum, sich zu rühren. Glücklicherweise ließ der Lehrer ihn für den Rest der Stunde in Frieden. Doch als die Schulglocke eine Stunde später läutete, fühlte Oliver sich immer noch erniedrigt. Niedergeschlagen machte er sich auf die Suche nach dem nächsten Klassenzimmer. Als er es gefunden hatte, machte er sich schnurstracks auf den Weg in die letzte Reihe. Wenn der Englischlehrer nichts von einem neuen Schüler wusste, dann wusste der Mathematiklehrer bestimmt auch nicht, dass Oliver heute neu in die Klasse kam. Vielleicht konnte er sich für die nächste Stunde einfach unsichtbar machen.
Zu Olivers Erleichterung ging sein Plan auf. Still und anonym saß er wie ein von Algebra besessener Geist zwischen den anderen Schülern. Doch auch das fühlte sich nicht an, als wäre es die Lösung seiner Probleme. Ihn überhaupt nicht zu bemerken war fast genauso schlimm wie ihn zu erniedrigen. Oliver fühlte sich unsichtbar.
Als die Glocke wieder läutete, war Pause. Oliver ging den anderen hinterher in die Aula. Der Schulhof hatte ihm bereits ein mulmiges Gefühl gemacht, aber hier im Speisesaal ging es noch schlimmer zu. Die Kinder benahmen sich wie wilde Tiere. Ihre schrillen Stimmen hallten von der hohen Decke wider. Der Lärm war unerträglich. Mit eingezogenem Kopf stellte er sich an der Essensschlange an.
Rumms.
Oliver prallte gegen einen riesigen Körper. Langsam hob er den Kopf.
Zu seiner Überraschung sah er Chris vor sich. Neben ihm bauten sich drei Jungen und ein Mädchen auf, alle mit dem gleichen, finsteren Gesichtsausdruck. Spießgesellen war das erste Wort, das Oliver in den Sinn kam.
„Du hast schon Freunde?“, sagte Oliver und versuchte, dabei nicht allzu überrascht zu klingen.
Chris sah ihn aus schmalen Augen an. „Nicht jeder ist so ein asozialer Freak wie du.“
Sofort wurde ihm klar, dass das keine freundliche Begegnung werden würde – Oliver war nicht überrascht.
Chris sah seine neuen Freunde an. „Dieses Würstchen ist mein Bruder Oliver“, verkündete er und lachte. „Er schläft in einer Nische im Wohnzimmer.“
Die Bullys lachten.
„Er ist gut zum Schubsen, Kicken, Einklemmen und – mein persönlicher Favorit…“ Er schnappte Oliver, drückte ihm seine Knöchel in den Schädel und rubbelte hin und her. „Hirnmassage.“
Oliver versuchte, sich gegen den Griff seines Bruders zu wehren und dachte daran, wie er das Tischbein mit seinem Willen gebrochen hatte. Er wünschte, er könnte diese Kräfte jetzt aktivieren, aber er hatte keine Ahnung, wie er das schaffen sollte. Gestern hatte er sich einfach nur vorgestellt, wie es passierte. Was das der Trick? Seine Vorstellungskraft?
Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich von Chris losriss, doch es war vergeblich. Seine neuen Freunde sahen Chris amüsiert zu, wie er seinen Bruder malträtierte.
Irgendwann ließ er schließlich los und Oliver taumelte rückwärts. Sein Kopf brannte und seine Haare standen in alle Richtungen. Aber noch schlimmer als der physische Schmerz stach ihn die Enttäuschung, dass er seine Kräfte nicht aktivieren konnte. Vielleicht hatte er sie sich doch nur eingebildet.
Das Mädchen hinter Chris sah grinsend auf ihn hinab. „Kann kaum erwarten, dich besser kennenzulernen, Oliver.“ Ihr Tonfall machte klar, dass sie ihm nicht besonders freundlich gesinnt war.
Oliver hatte geahnt, dass die anderen auf ihm herumhacken würden. Er hätte wissen müssen, dass sein Bruder der Schlimmste von allen war.
Wütend drückte er sich an dem Terrortrupp vorbei und stellte sich wieder in die Essensschlange. Seufzend nahm er sich ein Käsesandwich und ging damit zur Toilette. Wenn er sich dort einsperrte, war er wenigstens sicher.
*
Nach der Pause hatte Oliver Physik. Es dauerte eine Weile, bis er den richtigen Raum gefunden hatte. Er ging davon aus, dass die Stunde auch nicht besser wäre als die ersten beiden.
Als er endlich die richtige Tür gefunden hatte, klopfte er vorsichtig an. Die Lehrerin war jünger, als Oliver vermutet hatte. Seiner Erfahrung nach waren Physiklehrer alt und merkwürdig, aber Mrs. Belfry sah überhaupt nicht merkwürdig aus. Sie hatte lange, glatte Haare, die fast die gleiche Farbe hatten, wie ihr braunes Baumwollkleid. Sie öffnete die Tür und lächelte Oliver an. Schüchtern trat er ein.
„Hallo“, sagte Mrs. Belfry. „Du musst Oliver sein.“
Er nickte. Obwohl noch keine anderen Kinder da waren, fühlte er sich auf einmal eingeschüchtert. Wenigstens wusste diese Lehrerin von ihm.
„Ich freue mich, dass du zu uns kommst“, sagte Mrs. Belfry und hielt Oliver die Hand hin.
Diese Begrüßung hatte Oliver nicht erwartet, nach allem, was er bisher an der Campbell Junior High erlebt hatte. Er nahm ihre Hand und schüttelte sie sanft. Sie war warm und weich. Oliver entspannte sich ein wenig.
„Hattest du schon die Gelegenheit, dich etwas einzulesen?“, fragte Mrs. Belfry.
Mit großen Augen sah er sie an. „Ich wusste nicht, dass es etwas zu lesen gab“, sagte er entschuldigend.
„Ist schon in Ordnung“, sagte sie besänftigend und lächelte wieder. „Keine Sorge, wir sprechen gerade über einige Wissenschaftler und wichtige Persönlichkeiten.“ Sie zeigte auf eine Schwarz-Weiß Fotografie an der Tafel. „Das ist Charles Babbage, er hat den…“
„…Taschenrechner erfunden“, ergänzte Oliver.
Begeistert klatschte sie in die Hände. „Du weißt ja schon bescheid!“
Oliver nickte. „Ja. Man nennt ihn auch den Vater des Computers, weil er den Grundstein für die spätere Erfindung gelegt hat.“ Oliver sah sich das nächste Bild an. „Und das ist James Watt, der Erfinder des Dampfmotors.“
Mrs. Belfry nickte. Sie machte ein beeindrucktes Gesicht. „Ich habe das Gefühl, dass wir beiden ganz wunderbar miteinander auskommen werden, Oliver.“
In diesem Moment ging die Tür auf und Olivers Klassenkameraden kamen herein. Er schluckte seine Angst hinunter, die sofort wieder hochgekocht war.
„Warum suchst du dir nicht einen guten Platz aus, bevor alle belegt sind?“, schlug Mrs. Belfry vor.
Er nickte und setzte sich auf einen Stuhl am Fenster. Wenn ihm alles zu viel wurde, konnte er hinausschauen und sich an einen anderen Ort wünschen. Von hier aus hatte er einen fabelhaften Blick über das Viertel mit all seinen Schrotthalden und kargen Bäumen. Die Wolken am Himmel sahen noch dunkler aus als am Morgen. Sie machten Oliver ein mulmiges Gefühl. Die anderen Kinder waren laut und rabiat. Mrs. Belfry schaffte mit Mühe, dass alle sich hinsetzten und zuhörten.
„Heute reden wir über ein paar großartige Erfinder aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Weiß irgendjemand, wer das hier ist?“
Sie hielt ein altes Foto von einer Frau in die Höhe, über die Oliver in seinem Buch gelesen hatte. Katharine Blodgett hatte die Gasmaske erfunden, den Rauchvorhang und nichtreflektives Glas, das für U-Boot Periskope verwendet wurde. Nach Armando Illstrom war Katharine Blodgett Olivers zweite Lieblingswissenschaftlerin, weil ihre technologischen Erfindungen absolut faszinierend waren.
Oliver merkte, dass Mrs. Belfry ihn erwartungsvoll ansah. Wahrscheinlich vermutete sie, dass er genau wusste, wer auf dem Bild zu sehen war. Nachdem sein Tag bisher nicht allzu gut gelaufen war, wollte er sich nicht zu Wort melden. Seine Klassenkameraden würden ihn sonst gleich als Streber abstempeln.
Mrs. Belfry nickte ihm jedoch aufmunternd zu. Widerwillig antwortete er.
„Das ist Katharine Blodgett“, sagte er schließlich.
Mrs. Belfry lächelte zufrieden, was ihre sympathischen Grübchen in der Wange zum Vorschein brachte. „Das ist richtig, Oliver. Kannst du auch erklären, wer sie war? Was hat sie erfunden?“
Oliver hörte jemanden kichern. Es ging also wieder los.
„Sie war eine Wissenschaftlerin im Zweiten Weltkrieg. Sie hat eine Menge nützlicher Dinge erfunden, wie Periskope für U-Boote und Gasmasken, die viele Menschenleben gerettet haben.“
Mrs. Belfry war begeistert.
„FREAK“, rief jemand aus der letzten Reihe.
„Spar dir deine Kommentare, Paul“, sagte Mrs. Belfry streng. Dann drehte sie sich um und begann Informationen über Katharine Blodgett an die Tafel zu schreiben.
Oliver lächelte. Abgesehen von der netten Bibliothekarin, die ihm das Buch geschenkt hatte, war Mrs. Belfry die netteste Person, die er je getroffen hatte. Ihre Begeisterung wirkte auf ihn wie ein Schutzschild, an dem alle gemeinen Kommentare aus der Klasse abprallten. Er fühlte sich so zufrieden, wie seit Tagen nicht mehr. Entspannt lehnte er sich zurück.
*
Viel zu bald verkündete die Schulglocke das Ende der Stunde. Alle sprangen auf und rannten aus dem Zimmer. Oliver packte langsam seine Sachen ein und ging zur Tür.
„Oliver, ich bin wirklich beeindruckt, was du alles weißt“, sagte Mrs. Belfry, als sie ihm auf dem g**g begegnete. „Woher weißt du so viel über diese Wissenschaftler?“
„Ich habe ein Buch über Erfinder, das ist sehr interessant. Irgendwann will ich auch ein Erfinder werden.“
„Hast du denn schon etwas erfunden?“, fragte sie interessiert.
Er nickte, wollte aber nichts von seinem Unsichtbarkeitsumhang erzählen. Was, wenn sie ihn auslachte? Er konnte den Gedanken nicht ertragen.
„Das ist wirklich wundervoll, Oliver“, sagte sie aufmunternd. „Es ist sehr wichtig, nach seinen Träumen zu greifen. Welchen Erfinder magst du am liebsten?“
Oliver sah Armando Illstroms Gesicht vor sich.
„Armando Illstrom“, sagte er entschlossen. „Er ist zwar nicht sehr bekannt, aber er hat ein paar richtig coole Sachen erfunden. Er hat sogar an einer Zeitmaschine gearbeitet.“
„Wirklich? Eine Zeitmaschine?“, fragte Mrs. Belfry mit hochgezogenen Augenbrauen. „Das ist aber aufregend!“
Oliver nickte. „Seine alte Fabrik liegt nicht weit von hier. Ich dachte, ich schaue sie mir mal an.“
„Das solltest du wirklich tun“, sagte Mrs. Belfry und lächelte ermutigend. „Als ich in deinem Alter war, habe ich Physik geliebt. Die anderen Kinder haben mich damit immer aufgezogen, weil sie nicht verstehen konnten, dass ich lieber Schaltkreise baute als mit Barbies zu spielen. Eines Tages kam mein Lieblingswissenschaftler in unsere Stadt, um eine Folge seiner Wissenssendung zu drehen. Ich hatte hinterher die Gelegenheit mit ihm zu reden und er hat mir damals gesagt, dass ich meine Leidenschaft niemals aufgeben sollte. Auch wenn andere es komisch fanden, ich bin immer meinen Träumen gefolgt. Hätte ich damals nicht mit ihm geredet, wäre ich heute vielleicht nicht hier. Du darfst nicht unterschätzen, wie wichtig aufmunternde Worte sind von einer Person, die du verehrst. Besonders wenn dir sonst niemand Mut zuspricht.“
Mrs. Belfrys Worte trafen Oliver mitten ins Herz. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich beschwingt und lebendig. Jetzt hatte er fest vor, die Fabrik zu finden und seinen Helden persönlich zu treffen.
„Danke, Mrs. Belfry“, sagte er grinsend. „Bis zum nächsten Mal!“
Und damit sprang er den g**g hinunter. „Folge deinem Traum!“, hörte er Mrs. Belfry hinter sich rufen.