KAPITEL DREI
Stephania hing an der Reling ihres Boots. Ihre Knöchel waren so weiß wie der Schaum des Ozeans. Die Ozeanreise war alles andere als ein Vergnügen für sie. Allein der Gedanke an die Möglichkeit, so Rache zu nehmen, machte sie ihr erträglich.
Sie gehörte zum Hochadel des Reichs. Wenn sie zuvor auf lange Reise gegangen war, dann hatte sie sich in den fürstlichen Gemächern großer Galeeren befunden oder in gepolsterten Wägen gut bewachter Geleitzüge und nicht eingeengt auf einem Boot, das im Vergleich zu dem gigantischen Ozean winzig wirkte.
Doch es war nicht nur der fehlende Komfort, der es schwierig machte. Stephania rühmte sich damit, taffer zu sein, als die Leute es ihr zutrauten. Sie würde sich nicht beschweren, nur weil der leckende Kahn bei jeder Welle umhergeworfen wurde oder weil ihr die eintönige Kost aus Fisch und getrocknetem Fleisch missfiel. Sie würde sich nicht einmal über den Gestank beschweren. Unter normalen Umständen hätte Stephania ihr bestes Lächeln aufgelegt und sich mit der Situation abgefunden.
Doch ihre Schwangerschaft erschwerte das. Stephania hatte das Gefühl, dass sie das Kind in ihr jetzt wachsen fühlen konnte. Thanos’ Kind. Ihre perfekte Waffe gegen ihn. Ihre Waffe. Es war etwas, das sie kaum hatte glauben können, als sie es erfahren hatte. Doch jetzt, da ihre Schwangerschaft ihre Übelkeit noch verschlimmerte und das Essen noch widerwärtiger machte, schien sie nur zu real.
Stephania beobachtete Felene, die sich am vorderen Teil des Boots zusammen mit Elethe, Stephanias Zofe, zu schaffen machte. Die beiden hätten nicht gegensätzlicher sein können. Die Matrosin, Diebin und was auch immer diese Person in ihrer Kniehose und Tunika mit ihrem im Rücken geflochtenen Zopf war neben der Zofe in ihrem Seidenkleid und dem Mantel, ihrem kurzen Haar, das ihre dunklen Züge einrahmte und ihr eine Eleganz verlieh, von der die andere Frau nur träumen konnte.
Felene schien bestens gelaunt und sang ein altes Matrosenlied, das so vulgär war, dass Stephania überzeugt war, dass sie es absichtlich sang, um sie zu reizen. Vielleicht entsprach das jedoch auch nur Felenes Art, jemanden zu umgarnen. Sie hatte einige Blicke eingefangen, die die Diebin ihrer Zofe zugeworfen hatte.
Und auch ihr. Das war jedoch immer noch besser als ihre misstrauischen Blicke. Diese waren zu Beginn selten gewesen, doch hatten sie mit der Zeit zugenommen, und Stephania konnte auch vermuten, warum. Die Nachricht, die sie Thanos hatte mitteilen lassen, hatte besagt, dass sie Lucious’ Gift geschluckt hatte. Damals war es der beste Weg gewesen, Thanos zu verletzen, doch jetzt bedeutete es, dass sie die Zeichen ihrer Schwangerschaft, die entschlossen war, sich zu erkennen zu geben, verstecken musste. Selbst ohne die fast konstant anhaltende Übelkeit, konnte Stephania spüren, wie sie sich langsam in einen Wal verwandelte und ihre Kleider jeden Tag enger wurden.
Das würde sie nicht ewig verstecken können, was bedeutete, dass sie Thanos’ Schoßhund irgendwann würde töten müssen. Vielleicht sogar gleich. Sie musste nur zu der anderen Frau gehen und sie über den Bug ihres Bootes schubsen. Oder sie konnte ihr etwas von ihrem Wasser anbieten. Ihrer überstürzten Abreise zum Trotz hatte Stephania dennoch genug Giftmischungen mitnehmen können, um eine ganze Legion von möglichen Feinden auszulöschen.
Sie könnte es auch ihrer Zofe überlassen. Elethe konnte schließlich gut mit Messern umgehen, doch dann hatte sie sie wiederum als Gefangene der Matrosin vorgefunden, als sie an der Anlegestelle angekommen war. Das wäre vielleicht also nicht die beste Idee.
Diese Einsicht ließ Stephania innehalten. Das war etwas, das sie nicht falsch angehen durfte. Sie hatte nur eine Chance. So weit von anderen Mitteln und Wegen entfernt, konnte ein Versagen ihren stillen Abgang bedeuten. Es würde ihren Tod bedeuten.
Sie waren auf jeden Fall noch zu weit vom Festland entfernt. Stephania konnte das Boot nicht steuern, und auch wenn sich ihre Zofe in den Landen von Felldust auskannte, so würde sie sie gewiss nicht sicher über den Ozean und zu dem richtigen Stückchen Land bringen können. Stephania war auf der Suche nach etwas bestimmten, und sie würde es nur finden, wenn sie zu dem Land, das nun seit Generationen ein Verbündeter des Reichs war, gelangen würde.
Stephania trat zu den anderen, und für einen Augenblick dachte sie darüber nach, Felene trotzdem über Bord zu werfen, einfach weil sie gegenüber Thanos überraschend loyal erschien. Das war nichts, das Stephania von einer bekennenden Diebin erwartet hätte. Das hieß auch, dass Bestechung in diesem Fall keine Option darstellte und ihr nur gewaltsame Mittel blieben.
Doch als Felene sich zu ihr drehte, zwang sich Stephania zu einem Lächeln.
„Wie weit ist es noch?“ fragte sie.
Felene machte mit ihren Händen eine abwägende Bewegung so als sei sie ein Händler. „Ein Tag oder zwei vielleicht. Das hängt vom Wind ab. Behagt Euch meine Gegenwart schon nicht mehr, Prinzessin?“
„Nun“, sagte Stephania, „du bist so vulgär, herablassend, selbstherrlich und fast fröhlich im Bezug auf dein Dasein als Kriminelle.“
„Und das sind nur wenige meiner hervorragenden Eigenschaften“, sagte Felene mit einem Lachen. „Trotzdem werde ich Euch ohne Probleme nach Felldust bringen. Habt Ihr darüber nachgedacht, was Ihr dort tun wollt? Wollt Ihr vielleicht Freunde vom Hof fragen, Euch bei der Suche nach diesem Zauberer zu helfen? Wisst Ihr, wo Ihr ihn suchen müsst?“
„Dort, wo die sinkende Sonne die Gebeine der Steintoten trifft“, sagte Stephania, sich an die Anweisungen der Alten Hara erinnernd. Stephania hatte für diese Anweisungen mit dem Leben einer ihrer Zofen bezahlt. Das schienen sie kaum wert gewesen zu sein.
„Ja diese Art von Anweisung kommt mir bekannt vor“, sagte Felene mit einem Seufzer. „Glaubt mir, ich habe ein paar beachtliche Dinge in meinem Leben gestohlen und die Anweisungen sind selten eindeutig. Keine Straßennamen oder jemand, der dir sagt, die dritte Tür links zu nehmen. Zauberer und Hexen sind am schlimmsten. Es überrascht mich, dass eine Adlige wie Ihr es seid, sich auf so etwas einlässt.“
Das lag daran, dass die Matrosin wirklich kaum etwas über Stephania wusste. Nicht die Dinge, die Stephania sich angeeignet hatte, um bei gewissen Anlässen mehr als eines von vielen Gesichtern im Hintergrund zu sein. Sicherlich wusste sie auch nichts über ihre Beharrlichkeit, wenn es darum ging, Rache zu nehmen.
„Ich werde tun, was ich muss, was es auch kostet“, sagte Stephania. „Die Frage ist nur, ob ich mich auf dich verlassen kann.“
Felene begann zu grinsen. „Solange Ihr mir nicht mehr abverlangt als zu trinken, zu kämpfen und gelegentlich etwas zu klauen.“ Dann wurde ihr Ausdruck ernster. „Ich schulde Thanos etwas, und ich habe ihm mein Wort gegeben, Euch in Sicherheit zu bringen. Ich werde mein Wort halten.“
Ohne diesen Zusatz wäre sie für Stephanias Plan ideal gewesen. Oh, wenn sie doch nur so bestechlich gewesen wäre wie der Rest ihresgleichen. Oder offen für Verführung. Stephania hätte ihr Elethe, ohne mit der Wimper zu zucken, überlassen, so wie sie auch der Hexe Hara ihre Zofe überlassen hatte.
„Was machen wir, wenn wir in Felldust angekommen sind?“ fragte Felene. „Wie finden wir den Ort, ‚wo die sinkende Sonne die Gebeine der Steintoten trifft’?“
„Ich habe von den Gebeinen der Steintoten gehört“, antwortete Elethe. „Sie befinden sich in den Bergen.“
Stephania hätte es vorgezogen, das im Privaten zu besprechen, doch in Wahrheit gab es keine Privatsphäre auf ihrem kleinen Boot. Sie mussten darüber sprechen, und das bedeutete, Felene miteinzubeziehen.
„Das heißt, dass wir uns in die Berge begeben müssen“, sagte Stephania. „Kannst du die Vorkehrungen dafür treffen?“
Elethe nickte. „Ein Freund meiner Familie hat Karawanen, die durch die Berge ziehen. Das sollte nicht schwer zu organisieren sein.“
„Ohne groß Aufmerksamkeit zu wecken?“ fragte Stephania.
„Ein Karawanentreiber, der zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, wird ausgeraubt“, versicherte ihr Elethe. „Wir werden außerdem näheres erfahren, wenn wir die Stadt erreichen. Felldust ist meine Heimat, gnädige Frau.“
„Ich bin mir sicher, dass du eine große Hilfe sein wirst“, sagte Stephania auf eine Weise, in der Dankbarkeit mitschwang. Zuvor hätte das ihre Zofe in einen Zustand der Freude versetzt, doch jetzt lächelte sie nur. Wahrscheinlich hatte es etwas mit der Aufmerksamkeit zu tun, die Felene ihr so großzügig schenkte.
Das ärgerte Stephania ein wenig. Es war keine Eifersucht im herkömmlichen Sinne, denn das Mädchen war ihr wie alle anderen auch egal, seitdem Thanos aus ihrem Leben verschwunden war. Nein, es war vielmehr die Tatsache, dass die Zofe ihr gehörte. Das Mädchen hätte einst alles getan, was Stephania ihr aufgetragen hätte. Doch jetzt konnte Stephania sich nicht mehr sicher sein, und das wurmte sie. Sie musste einen Weg finden, sie auf die Probe zu stellen, bevor das hier vorbei war.
Sie würde viele Dinge tun müssen, bevor sie mit Felldust fertig war. Sie würde den Zauberer finden müssen, und auch wenn ihre Zofe einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort entschlüsselt hatte, so würde das immer noch Zeit und Mühe kosten. Sie würde sich in einem fremden Land befinden, in dem sowohl die Politik als auch das Volk anders waren, auch wenn sich Schwäche überall in der Welt ähnlich zeigte.
Selbst wenn sie den Zauberer fände, würde sie entweder Zugang zu seinem Wissen gewinnen oder ihn auf ihre Seite ziehen müssen. Vielleicht würde es einfach nur Geld kosten oder den Einsatz ihres Charmes, doch das bezweifelte Stephania. Jeder Zauberer, der die Macht besaß einen Uralten aufzuhalten, war in einer Lage, in der er von der Welt fordern konnte, was immer er wollte.
Nein, Stephania würde sich etwas einfallen lassen müssen, doch würde sie einen Weg finden, der sie zum Erfolg führen würde. Jeder begehrte etwas, ob es Macht war oder Ruhm oder Wissen oder schlicht Sicherheit. Stephania hatte immer eine Gabe gehabt, herauszufinden, was ein Mensch wollte; das war so häufig der Hebel gewesen, der die anderen dazu gebracht hatte, das zu tun, was Stephania von ihnen verlangt hatte.
„Sag mir, Elethe“, sagte sie aus einem Impuls heraus. „Was ist es, das du begehrst?“
„Euch zu dienen, gnädige Frau“, sagte das Mädchen sofort. Das war natürlich die richtige Antwort, doch darin lag eine Spur Aufrichtigkeit, die Stephania gefiel. Sie würde die wahre Antwort bald erhalten.
„Und du, Felene?“ fragte Stephania.
Sie sah, wie die Diebin mit den Schultern zuckte. „Was auch immer die Welt mir zu bieten hat. Vorzugsweise etwas mit Gold, Alkohol, Geselligkeit und Unterhaltung. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.“
Stephania lachte sanft und tat so, als würde sie nicht merken, dass sie log. „Natürlich. Was sollte man sich sonst wünschen?“
„Warum sagt Ihr es mir nicht?“ konterte Felene. „Was ist es, dass Ihr wollt, Prinzessin? Warum nehmt Ihr all das auf Euch?“
„Ich will Sicherheit“, sagte Stephania. „Und ich will Rache an jenen nehmen, die mir Thanos genommen haben.“
„Am Reich Rache nehmen?“ fragte Felene. „In dieser Hinsicht sind wir uns einig. Sie haben mich schließlich auf ihrer Insel ausgesetzt.“
Wenn sie glaubte, dass es Rache am Reich war, die Stephania wollte, dann sollte sie es ruhig glauben. Das Objekt ihrer Rache ließ sich allerdings einfacher definieren: Ceres, dann Thanos und jeden, der ihnen geholfen hatte.
Stephania wiederholte leise den Schwur, den sie sich in Delos gegeben hatte. Sie würde ihr Kind als Waffe gegen seinen Vater aufziehen. Sie würde ihrem Kind Liebe schenken; sie war mit Sicherheit kein Monster. Aber es würde auch einen Zweck erfüllen. Es würde wissen, was sein Vater getan hatte.
Und dass einige Dinge unverzeihlich waren.