KAPITEL EINS
KAPITEL EINS
Dass er überhaupt aufwachte, überraschte Thanos. Nach allem, was die Königin gesagt hatte, bevor die Soldaten ihn bewusstlos geschlagen hatten, war er davon ausgegangen, dass sie ihm einfach den Hals durchschneiden würden.
Er war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte, dass sie ihre Meinung geändert hatten.
Er musste bereits zuvor das Bewusstsein verloren haben, denn noch immer klebte das Blut an ihm, das den Boden der Gemächer seines Vaters bedeckt hatte. Er erinnerte sich daran, wie er seinen Vater in den Armen gehalten hatte, den einst großen Mann so zerbrechlich wie ein Kind. In seinen Träumen waren seine Hände mit Blut befleckt gewesen.
Er blinzelte und die Sonne verriet ihm, dass er nicht länger träumte. Doch das Blut war noch immer da. Seine Hände waren noch immer blutverklebt, nur dass Thanos nicht mehr wusste, wie viel davon sein eigenes war. Er konnte spüren, wie kaltes Eisen gegen seinen Körper drückte, doch fühlte es sich nicht wie Ketten an.
Thanos konnte sich nicht recht besinnen. Er fragte sich, wie sehr sie ihn geschlagen haben mussten, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Sie zogen ihn hinab zu dem Augenblick, in dem er hilflos mit hatte ansehen müssen, wie sein Vater seinen letzten Atem aushauchte.
„Du wirst die Wahrheit ans Licht bringen müssen, die ganze Wahrheit.“
Diese Worte hatten seinen Vater so viel Kraft gekostet. In jenem Moment war es ihm so wichtig gewesen, dass Thanos als des Königs Sohn anerkannt würde. Vielleicht sah er darin einen Weg, den Schaden, den er in seinem Leben angerichtet hatte, wieder ein Stück weit gut zu machen. Vielleicht hatte er aber auch nur geahnt, welchen Schaden Lucious anrichten würde, wenn er an die Macht käme.
Thanos ächzte unter diesen Gedanken. Seine Träume wurden von Sonnenlicht geflutet während sein schmerzender Körper sie weiter zurückdrängte. Doch die Stimme seines Vaters hörte er noch immer.
„Felldust. Du wirst die Antworten, nach denen du suchst, in Felldust finden. Sie hat sich auf den Weg dorthin gemacht, nachdem ich – “
Selbst in seinen Träumen war dieser Satz unter dem leeren Starren seines Vaters Augen unvollendet geblieben. Er hatte nur den Namen eines Ortes, den Hinweis auf eine Reise, die ihm Aufklärung bringen würde.
Falls er lange genug lebte, um sie auch anzutreten.
Er kam wieder zu Bewusstsein und mit ihm das volle Ausmaß körperlicher Schmerzen. Thanos hatte das Gefühl, dass jeder Teil seines Körpers bis ins Mark misshandelt worden war. Er konnte kaum den Kopf heben, denn er würde ihm zerspringen, sollte er es auch nur versuchen. Er wusste aus Erfahrung, wie sich gebrochene Rippen anfühlten und gerade fühlten sich zu viele Stellen seines Körpers genau so an.
Die Wachen hatten sich nicht zurückgehalten, auch wenn sie gewusst hatten, wer er war. Vielmehr hatten sie genau deshalb noch fester zugeschlagen, entweder angetrieben durch das Ausmaß seines angeblichen Verrats, oder weil sie zeigen wollten, dass sie nicht auf der Seite ihres Rebellenprinzen standen.
Thanos gelang es, sich aufzurichten und sich umzublicken. Die Welt um ihn schien sich zu drehen, während er das versuchte. Für einen Augenblick dachte er, dies wäre eine List seiner Schmerzen, Schwindel hervorgerufen durch die Hiebe gegen seinen Kopf. Dann erkannte er jedoch, dass er sich tatsächlich bewegte. Die vertikalen Eisenstäbe waren ein ständiger Bezugspunkt während seine Bewegung den Rest der Welt ins Wanken brachte.
„Der Galgen“, murmelte Thanos und die Worte schienen ihm im Hals stecken bleiben zu wollen. „Sie haben mich an einen Galgen gehangen.“
Ein zweiter Blick bestätigte seine Vermutung. Er saß in einer überdimensionierten Variante eines Käfigs, in dem sonst auch eine verwöhnte Adlige einen Vogel hätte halten können. Thanos’ Beine steckten zwischen den Stäben und waren doch dank der kurzen Kette, mit der man den Käfig an dem Pfosten angebracht hatte, noch weit entfernt vom Boden.
Der Käfig befand sich in einem kleinen von Mauern umgebenen Hof. Hier würden sich Adlige vielleicht zu Unterhaltungszwecken treffen oder Bedienstete, um unliebsame Aufgaben zu erfüllen. In den kleinen, in das Pflaster eingelassenen Kanälen, konnte Blut oder Schlimmeres weggespült werden.
In einer Ecke errichteten Wachen ein Galgenpodest und würdigten Thanos nicht eines Blickes. Sie bauten also auch keine Richtbank zum Zwecke einer Enthauptung.
Thanos überkam die Wut und er umklammerte die Stäbe. Er würde nicht wie ein Biest in diesem Käfig sitzen und seiner Schlachtung entgegensehen. Er würde nicht herumsitzen während Männer sich bereitmachen, ihn für etwas hinzurichten, das er nicht getan hatte.
Er rüttelte mit aller Kraft an den Stäben, doch sie waren zu stark. Das Schloss seiner Tür wurde von einer Kette verriegelt, dessen Glieder so d**k waren, wie Thanos’ Daumen. Er prüfte sie, doch er fand keine Schwachstelle. Der Galgen, an dem sein Käfig baumelte, ließ ihm keine Fluchtmöglichkeit.
„Hey! Hände weg!“ schrie einer der Wächter und hieb mit einem Stock nach Thanos’ Knöcheln. Schmerz durchflutete ihn, während er versuchte, dem Drang laut aufzuschreien zu widerstehen.
„Du kannst so stark tun, wie du willst“, sagte der Wächter mit hasserfülltem Blick. „Wenn wir mit dir fertig sind, dann wirst du schreien.“
„Ich bin noch immer Teil des Königshauses“, sagte Thanos. „Ich habe das Recht auf einen Prozess vor den Adligen des Reiches und ein Recht, die Art meiner Exekution zu wählen.“
Dieses Mal zischte der Stock gegen die Stangen nur eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt.
„Königsmörder kriegen, was auch immer für sie entschieden wurde“, zischte der Wächter zurück. „Kein schneller Axthieb für dich, Verräter!“
Thanos konnte die Wut darin sehen. Echte Wut über etwas, das einem persönlichen Verrat gleichkam. Das konnte Thanos verstehen. Vielleicht bedeutete dies, dass dieser Mann einmal ein guter Mensch gewesen war.
„Du hast geglaubt, dass sich die Dinge ändern könnten, nicht wahr?“ vermutete Thanos. Das war ein großes Risiko, aber ihm blieb nichts anderes übrig, wenn er seine Unschuld beweisen wollte.
„Ich dachte, dass Ihr die Dinge besser machen würdet“, gab der andere Mann zu. „Doch dann hat sich herausgestellt, dass Ihr mit der Rebellion zusammengearbeitet habt, um den König zu töten!“
„Ich habe ihn nicht getötet“, sagte Thanos. „Aber ich weiß, wer es getan hat. Hilf mir hier raus und – “
Dieses Mal traf der Stock seine verletzte Rippenpartie und als der Wächter für einen weiteren Hieb ausholte, suchte Thanos nach einer Möglichkeit sich schützend zurückzuziehen. Aber er konnte nirgendwo hin.
Doch der Schlag erreichte nicht sein Ziel. Thanos sah, wie der Wächter innehielt, seinen Stock senkte und dann eine tiefe Verbeugung machte. Thanos versuchte, sich umzudrehen, um ausmachen zu können, was dort vor sich ging. Doch das führte dazu, dass sein Käfig sich zu drehen begann.
Als er wieder zum Stillstand kam, stand König Athena bereits vor ihm. Sie trug trauerschwarz und sah aus als wäre sie diejenige, die ihn nun hinrichten würde. Wachen hatten sich um sie gescharrt, als befürchteten sie, dass Thanos der Stäbe seines Käfigs zum Trotz einen Weg finden würde, sie zu töten, so wie er einen Weg gefunden hatte, den König zu töten.
„Warum hängt er hier?“ fragte Königin Athena. „Ich dachte, ich hätte euch gesagt, dass ihr ihn einfach hinrichten solltet.“
„Verzeiht Majestät“, sagte einer der Wachen, „aber er war noch nicht bei Bewusstsein und es braucht ein wenig Zeit, um eine Hinrichtungsstätte zu errichten, die dieses Verräters würdig ist.“
„Was habt ihr vor?“ fragte die Königin.
„Wir wollten ihn halb aufhängen, ihm seine Eingeweide entnehmen und ihn zum Schluss auf das Rad spannen. Wir konnten ihn, nach allem was er getan hat, nicht einfach schnell töten.“
Thanos sah, wie die Königin kurz nachdachte und dann nickte. „Vielleicht habt ihr Recht. Hat er sein Verbrechen überhaupt schon gestanden?“
„Nein, Eure Majestät. Er behauptet sogar, dass er es nicht getan hat.“
Thanos sah, wie die Königin ihren Kopf schüttelte. „Dummheit. Er wurde über die Leiche meines Mannes gebeugt vorgefunden. Ich will mit ihm alleine sprechen.“
„Eure Majestät, seid Ihr euch ganz – “
„Allein, habe ich gesagt.“ Das böse Funkeln der Königin genügte, dass selbst Thanos für einen Augenblick Mitleid mit dem Mann hatte. „Er sitzt sicher in diesem Käfig. Setzt eure Arbeit an dem Galgen schleunigst fort. Ich will den Mann, der meinen Mann getötet hat, tot sehen!“
Thanos sah, wie sich die Wachen von ihm und der Königin entfernten. Sie waren mit Sicherheit außer Hörweite. Thanos hatte keinen Zweifel, dass dies so gewollt war.
„Ich habe den König nicht getötet“, beharrte Thanos, auch wenn er davon ausging, dass das nichts an seiner Situation ändern würde. Wer würde ihm ohne Beweise schon glauben? Und erst recht nicht die Königin, die ihn noch nie hatte leiden können.
Der Ausdruck im Gesicht der Königin erstarrte für einen Augenblick. Thanos sah, wie sie sich schon beinahe verstohlen umblickte, so als wäre sie besorgt, dass jemand sie belauschte. In diesem Moment verstand Thanos.
„Ihr wisst es bereits, oder?“ sagte Thanos. „Ihr wisst, dass ich es nicht war.“
„Woher sollte ich so etwas wissen?“ fragte Königin Athena, doch etwas in ihrer Stimme verriet sie. „Du wurdest mit dem Blut meines geliebten Mannes an deinen Händen ertappt. Du standest über seine Leiche gebeugt.“
„Geliebt“, wiederholte Thanos. „Ihr habt den König aus politischen Gründen geheiratet.“
Thanos sah, wie die Königin ihre Hände an ihr Herz hob. „Und das heißt, dass wir einander nicht auch lieben konnten?“
Thanos schüttelte seinen Kopf. „Ihr habt meinen Vater nie geliebt. Ihr liebt nichts als die Macht, die euch eure Rolle als Gattin des Königs eingebracht hat.“
„Deines Vaters?“ sagte König Athena. „Mir dünkt, du hast mehr herausgefunden als du solltest, Thanos. Claudius hat viel auf sich genommen, um das zu verheimlichen. Allein deshalb solltest du hingerichtet werden.“
„Und für etwas, das Lucious getan hat“, schoss Thanos zurück.
„Ja, für etwas das Lucious getan hat“, antwortete Königin Athena und Ärger trat in ihr Gesicht. „Glaubst du etwa, du könntest mir etwas über meinen Sohn sagen, dass mich schockieren würde? Selbst das. Er bleibt mein Sohn!“
Thanos konnte die verteidigende Haltung darin hören, beinhart und unerschütterlich. In diesem Moment musste er an das Kind denken, das er niemals mit Stephania haben würde und daran, wie er seinen Sohn oder seine Tochter in Schutz genommen hätte. Er wollte glauben, dass er sein Kind in jeder Situation verteidigt hätte, doch ein Blick auf Königin Athena verriet ihm, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Es gab Grenzen, jenseits derer sich auch Eltern nicht mehr vor ihr Kind stellen durften.
„Was ist mit den anderen?“ erwiderte Thanos. „Was werden sie tun, wenn sie es herausfinden?“
„Wie sollten sie es herausfinden?“ fragte Königin Athena. „Wirst du es ihnen gleich zurufen? Versuch es. Lass alle wissen, dass der Verräter in dem Käfig, der über seinem ermordeten Vater stehend aufgefunden wurde, behauptet, dass eigentlich sein Bruder die Tat begangen hat. Glaubst du wirklich, dass dir irgendjemand glauben wird?“
Thanos kannte bereits die Antwort darauf. Die Tatsache, dass er hier festsaß, sprach für sich. Für jeden, der im Reich Macht besaß, war er bereits ein Verräter. Außerdem hatte er sich ins Schloss geschlichen. Nein, wenn er versuchte ihnen die Wahrheit zu sagen, würden sie ihm nicht glauben.
Er wusste, dass, wenn ihm die Flucht nicht gelänge, er hier sterben würde. Er würde sterben und Lucious würde König. Was danach geschähe, wäre ein Alptraum. Er musste einen Weg finden, es aufzuhalten.
Sicher konnte auch Königin Athena sehen, wie schlimm es werden würde. Er musste es ihr nur ins Bewusstsein rufen.
„Was glaubt Ihr wird geschehen, wenn Lucious König wird?“ fragte Thanos. „Was glaubt Ihr, wird er tun?“
Er sah, wie ein Lächeln auf Athenas Gesicht trat. „Ich denke, er wird tun, was seine Mutter ihm rät. Lucious hatte nie viel Geduld für die... mühseligen Details seiner Rolle. Eigentlich sollte ich dir danken, Thanos. Claudius war zu dumm. Er hat nicht auf mich gehört, wenn er es besser hätte tun sollen. Lucious ist formbarer.“
„Wenn Ihr das glaubt“, sagte Thanos, „dann seid Ihr genauso krank wie er. Ihr habt gesehen, was Lucious fähig war, seinem Vater anzutun. Glaubt Ihr, dass, nur weil Ihr seine Mutter seid, er euch verschonen würde?“
„Macht ist der einzige sichere Hafen“, antwortete Königin Athena. „Du wirst es nicht mehr erleben, was auch immer geschieht. Wenn der Galgen bereit ist, wirst du sterben, Thanos. Lebewohl.“
Sie drehte sich um und ging. Thanos konnte nur an Lucious denken. An dessen Krönung. Daran wie Thanos das Dorf vor Lucious gerettet hatte. An den Zustand, in dem Lucious gewesen sein muss, als er seinen Vater getötet hat.
Ich werde mich befreien, versprach Thanos sich selbst. Ich werde entkommen und ich werde Lucious töten.