„Anaya! Hol mir ein Glas Wasser!“ Ginny schrie aus voller Kehle. Anaya hastete, wusch sich die Hände und trocknete sie ab. Sie rannte aus der Küche mit einem Glas Wasser und kam ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter saß.
Ginny nahm das Wasser und trank es in einem Zug. Anaya stand schweigend daneben. Sie trug eine alte Schürze, und ihre Haare waren in einem unordentlichen Dutt, da sie gerade dabei gewesen war, das Geschirr zu spülen.
Ohne Anaya eines Blickes zu würdigen, stellte Ginny das leere Glas auf den Couchtisch und sagte: „Heute war ich mit meinen Freundinnen unterwegs, und sie haben erzählt, dass das Haus des Alphas jemanden für die Hausarbeit sucht. Ich habe ihnen bereits gesagt, dass du den Job annimmst.“
Anaya war schockiert. Arbeiten im Haus des Alphas? War das wirklich, worauf sie reduziert wurde? Hier zu Hause konnte sie wenigstens so tun, als würde sie nur ihre eigenen Aufgaben erledigen, aber sobald sie im Haus des Alphas anfing zu arbeiten, würde sie offiziell als Dienerin gelten.
Doch Anaya war nicht in der Lage, „nein“ zu sagen. Sie hatte kein Geld, sie war bereits von der Schule abgemeldet und besaß keinen Wert. Was sollte sie sagen, um sich vor ihrer Mutter zu rechtfertigen? Einfach zu behaupten, dass sie nicht als Dienstmädchen arbeiten wollte, würde nichts bringen. Ihre Gefühle zählten nicht.
„Geh morgen zum Haus des Alphas und fang an zu arbeiten. Ich habe bereits mit ihnen gesprochen. Erledige die Arbeit zu Hause und geh dann um neun Uhr morgens dorthin“, sagte Ginny, als ob Anaya gar nicht anwesend wäre. Anaya nahm das Glas still und kehrte in die Küche zurück, um weiter das Geschirr zu spülen.
Wenn sie um neun Uhr dort sein musste, bedeutete das, dass Anaya alle Hausarbeiten bis spätestens halb neun erledigt haben musste. Das bedeutete, noch früher aufzustehen. An Frühstück war nicht einmal zu denken. Anaya seufzte und schloss für einen Moment die Augen. Sie versuchte, etwas Positives zu finden. Vielleicht könnte sie nach einiger Zeit Geld sparen.
Ihre Familie hatte keine finanziellen Probleme. Ihr Vater verdiente gut als Besitzer eines kleinen Ladens. Es mangelte ihnen an nichts. War es also wirklich nötig, Anaya so zu demütigen? Anaya wusste nicht, was ihre Mutter dachte, aber offensichtlich dachte sie nicht an Anaya. Vielleicht brauchten sie doch das zusätzliche Geld?
Anaya beendete das Spülen und wischte die Arbeitsflächen sauber. Das Mittagessen war vorbei, und Charlotte müsste bald auf dem Weg nach Hause sein. Anaya ging leise mit zwei Brotscheiben und einer Wurst vom Frühstück auf den Dachboden. Sie aß am kleinen Fenster und kaute langsam. In letzter Zeit spürte sie die Schwäche in ihrem Körper. Ihr Wolf zeigte sich nur selten, und das Verwandeln war mit einem geschwächten Körper wie ihrem kaum möglich.
Anaya wollte weglaufen.
Sie hatte oft davon geträumt, wegzulaufen, aber ihre Träume blieben Träume. Sie würden niemals wahr werden. Anaya hatte nicht das Geld, um irgendwohin zu gehen. Nachdem sie das Brot und die Wurst gegessen hatte, wollte sie wieder hinuntergehen, doch da hörte sie, wie die Haustür aufging. Charlottes fröhliche Stimme rief nach ihrer Mutter, gefolgt von einem süßen Lachen.
Anayas Herz bebte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so gelacht zu haben. Bevor Charlotte geboren wurde, dachte Anaya, dass die Art, wie ihre Eltern sie behandelten, ganz normal war. Sie hatte es nicht weiter hinterfragt. Doch seit Charlotte ein so schönes Leben führte, wurde Anaya der Unterschied zwischen ihnen klar.
Seitdem Charlotte aus der Schule zurück war, blieb Anaya oben auf dem Dachboden. Ginny hatte eine Mahlzeit für ihre Tochter gekocht und ließ sie eine Weile fernsehen. Anaya lehnte sich ans Fenster und schloss die Augen. Die Schwere auf ihrer Brust, die sie schon lange fühlte, wurde immer erdrückender. Doch inzwischen fühlte sie sich nicht einmal mehr unwohl. Die Schwere war zu einem stillen Begleiter geworden.
„Arnold“, flüsterte Anaya mit schwerer Stimme, „bist du im Himmel?“
Es kam keine Antwort. Sie sprach weiter, wie in einem Wahn: „Der Himmel muss schön sein, oder? Du bist bestimmt ein Engel geworden. Kannst du mich von dort oben sehen?“
Anaya blickte durch das fleckige Glas hinauf in den blauen Himmel. Sie stellte sich Arnolds lächelndes Gesicht auf den Wolken vor und lächelte traurig. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch sie ließ sie nicht fallen. Sie würde es verhindern, wenn sie es konnte. Mit einem Kloß im Hals sprach sie weiter: „Möchtest du, dass ich komme und dir Gesellschaft leiste?“
Der Gedanke allein war gefährlich, aber es war nicht das erste Mal, dass Anaya daran dachte. Es gab niemanden, der ihr sagte, dass sie solche Gedanken nicht haben sollte. Ganz allein fühlte sich Anaya, als wäre es eine gute Idee, ihrem Bruder im Himmel Gesellschaft zu leisten. So gut, dass es fast unerreichbar schien, als hätte sie es nicht verdient.
„Vielleicht ein anderes Mal, Arnold“, würgte Anaya hervor. „Fürs Erste kannst du auf uns aufpassen. Ich halte es noch eine Weile aus. Mach dir keine Sorgen um mich.“
Die schwerelosen Wolken zogen langsam weiter, und das Bild von Arnolds Lächeln zersplitterte am Himmel. Die scharfen Strahlen der Nachmittagssonne stachen in Anayas tränende Augen. Sie fragte sich, ob jemand anders den Nachmittagshimmel genauso ansah wie sie.
Im südlichen Teil der Welt lag Alpha Roman auf dem grünen Gras in seinem Garten. Er ruhte mit den Händen hinter dem Kopf und beobachtete den Nachmittagshimmel. Die Wolken hatten eine eigenartige Form, und er liebte es, jeden Tag den vorbeiziehenden Wolken zuzusehen. Es beruhigte ihn, als würde seine Seele auf seltsame Weise gestreichelt.
Die Kinder stürmten lärmend durch das Tor. Alpha Roman schloss die Augen und ließ sich weiter in der Sonne baden. Plötzlich spürte er ein Poken an seiner Stirn und öffnete seine blauen Augen. Vor ihm stand ein kleines, beleidigt wirkendes Gesicht.
„Alpha, Georgia hat sich heute in der Schule geprügelt!“ sagte Tina und richtete sich stolz auf.
„Hat sie gewonnen?“
Tina kicherte und nickte. „Ja!“
Roman schloss wieder die Augen und sagte, ohne den Stolz in seiner Stimme zu verbergen: „Gut.“